Sapere aude!
Habe Mut zu denken!
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«
Immanuel Kant (1724 – 1804),
Philosoph und Aufklärer
Als das erste Fahrzeug auf dem Mond landete, funkte Neil Armstrong den berühmt gewordenen Satz: »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein riesiger Schritt für die Menschheit.« Das war im Überschwang des Glücksgefühls gesagt, eine technologische Großtat erfolgreich zum Abschluss gebracht zu haben und die Menschheit erstmals von außerhalb auf ihre kleine, blaue Erdenschönheit blicken lassen zu können.
Immanuel Kant, der Philosoph aus Königsberg, der in seinen achtzig Lebensjahren diese Stadt nie verlassen hat, hat der Menschheit einen noch größeren Sprung ermöglicht, den zum uneingeschränkten Gebrauch der Vernunft, des freien Denkens, weg von göttlichen Geboten oder heiligen Schriften, die ihm vorschreiben, was er tun soll. Er hat den Menschen als Selbstgesetzgeber an die erste Stelle gerückt. Das war zu seiner Zeit grundstürzend gedacht und brachte ein religiöses Weltbild zum Einsturz. Die heiligen Schriften oder heiligen Texte sind keine göttlichen Dogmen, denen man bedingungslos zu folgen hat. Erst kommt die Moral, zu der der Mensch kraft seines Verstandes fähig ist, dann kann auch Religion da sein. »Religion ist ein ›Fetischdienst‹, der immer und überall dort anzutreffen ist, wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern Statuten, Gebote, Glaubensregeln, Dogmen und kirchliche Kontrolle die Grundlage und das Wesentliche der Religion bilden und dabei für den Menschen zur Fessel werden.«
Dieses Fazit seines langen Philosophenlebens hat alle Religiösen aufs Höchste aufgebracht, so dass selbst der preußische König Friedrich Wilhelm II., Seine Majestät von Gottes Gnaden, Kant per Edikt das Denken und Schreiben verbieten wollte. Der preußische König war auch Oberhaupt der protestantischen Kirche. Umsonst, Kant ließ sich nicht verbiegen und das Denken ließ sich nicht mehr aufhalten. Es hatte freilich bereits dreihundert Jahre zuvor begonnen, als die großen Denker, Wissenschaftler und Künstler in der Zeit der Renaissance die griechische Antike um 550 v. Chr. wiederentdeckten und ein neues Welt- und Menschenbild ermöglichten. Um 1500 n. Chr. war die katholische Kirche mächtig, ein monolithischer Block, der sich gegen jedes ketzerische Gedankengut mit allen Mitteln zur Wehr setzte. Viele Voraufklärer haben das mit dem Leben bezahlt oder sie wurden aus der Kirche ausgeschlossen, was einem Femeurteil gleich kam. Ein solcher Denker war der Dominikanermönch Giordano Bruno, der sich vom monotheistischen Weltbild einer von Gott bewirkten Schöpfung abwandte und der an das Jenseits der Dogmatiker nicht länger glauben mochte. Ein »Jüngstes Gericht« schloss er aus. »Lachhaft zu sagen, außerhalb des Himmels sei nichts. Es gibt nicht eine einzige Welt, eine einzige Erde, eine einzige Sonne, sondern so viele Welten, wie wir leuchtende Funken über uns sehen.« Man könnte es fast modernes astronomisches Denken nennen, es stellte damals Dogmen und Kirchenmacht in Frage und so wurde er zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und am 17. Februar 1600 in Rom verbrannt, nicht ohne noch abschreckend zu zeigen, wodurch er »gesündigt« hatte, nämlich durch seine Worte. Also wurde ihm die Zunge festgenäht. In irdischen Strafen waren Gottgläubige immer sehr erfinderisch.
Der Siegeszug der Aufklärung ließ sich nicht aufhalten, der frühe englische Aufklärer John Locke legte seinem König erstmals eine Toleranz in religiösen Fragen nahe, viele weitere sind zu nennen: Jean-Jacques Rousseau, der die Vernunft-, Lern- und Gesellschaftsfähigkeit des Menschen hervorhob, Voltaire, der ein Gegner der »statutarischen« Religionslehre des Monotheismus war und der sich einen »befreiten« Monotheismus vorstellen konnte, Moses Mendelssohn, der für aufgeklärte Menschen Bildung als das Maß und Ziel aller Bestrebungen postulierte, besonders aber auch Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Erklärung der Menschenrechte. Auch die erste Frau, die die Freiheit der Frauen einforderte, soll hier genannt werden. Sie heißt Olympe de Gouges. 1784 schreibt sie einen Roman, in dem sie ihre eigene Geschichte der Unterdrückung als Frau verarbeitet. Später ergreift sie Partei für schwarze Sklaven, prangert Unmenschlichkeit bei den weißen Kolonialherren an und beruft sich dabei auf die »natürlichen« Rechte jedes Menschen, für ihre Zeit ein unerhörter Gedanke. Sie fordert schließlich die Abschaffung der Sklaverei gegen alle kirchliche Autorität. »Die Menschen sind überall auf der Welt gleich«, schreibt sie. Sie macht sich natürlich die feudalen Kolonialherren zum Feind, gerät in die Wirren der französischen Revolution, bleibt ihrem aufklärerischen Denken treu, widersetzt sich dem düsteren Terror der Jakobiner, die den aufklärerischen Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in sein Gegenteil verkehrten, und wird schließlich verhaftet und zum Tod durch die Guillotine verurteilt. Der gaffenden Menge ruft sie noch zu: »Kinder des Vaterlandes, ihr werdet meinen Tod rächen!«
Ein Geschichtsexkurs in einer solchen Betrachtung? Wenn man verstehen will, wie weit wir sind in unserer Zivilisationsgeschichte und ob die Aufklärung gesiegt hat oder ob es nur eine »halbe« Aufklärung gewesen ist, ist der Rückblick notwendig und hilfreich. Wir sehen, gewonnen ist der »Kampf um die Köpfe«, besser gesagt um den ganzen Menschen mit allen seinen Facetten noch nicht. Es steht vieles dagegen, aber es ist auch vieles möglich, nämlich frei zu denken, zu reden und sogar zu schreiben. Das ist der große Sprung, den Aufklärung möglich gemacht hat. Jemand kann heute im katholischen Milieu sozialisiert worden, durch ein katholisches Ordensinternat und eine Jesuitenschule gegangen sein und als »vom Glauben zum Wissen« gekommener Erwachsener weiterhin Kirchenmitglied und Kirchensteuerzahler sein und, mit Verständnis für alles Religiöse, dennoch religionsfrei leben. Die christlichen Kirchen in Deutschland sind in ihrem heutigen Verständnis, alle dogmatische Engführung einmal beiseite lassend, die letzten Zufluchtsorte für menschliche Not, für praktizierte Nächstenliebe und für emphatische Zuwendung zum Menschen. Sie unterhalten die größten Hilfswerke der Menschheitsgeschichte. Auch der religionsfrei Lebende teilt die Ethik des Humanen, die heute von den Kirchen praktiziert wird. Aller Dogmatismus ist überflüssig, nicht aber eine Spiritualität, die aber auf das Diesseits bezogen sein muss und die eine Sinngebung für das schwierige Leben im Hier und Jetzt ermöglicht. Es geht um die würdevolle Existenz in unserem Biotop Erde.
Bis die durch die Schule der Aufklärung gegangenen christlichen Religionen des Westens sich auch zu dieser Würde bekennen konnten, wurde von den Inhabern der gottverliehenen Macht gekämpft, verketzert, indiziert, ausgeschlossen und verbrannt, in welcher der beiden christlichen Kirchen mehr, möchte ich nicht entscheiden und überlasse das dem kundigen Leser.
Heute gibt es die Mischformen des Religiösen in den westlichen, aufgeklärten, säkular und laizistisch verfassten Gesellschaften. Die moderne Welt ist unübersichtlich und lässt sich kaum noch gedanklich ordnend in den Griff bekommen. Die islamische, buddhistische, hinduistische und sonstige polytheistische Welt mit unzähligen Ablegern und Sekten einmal vereinfachend beiseite lassend, was eigentlich völlig überheblich ist bei ca. drei Milliarden Menschen in diesen Weltreligionen, komme ich zu dem Bild des Religiösen, der religiösen Praktiken in unseren Ländern. Es gibt Kirchen mit dogmatischer, »statutarischer« (Kant) Lehre und einer diese lehrenden Priesterschaft sowie einer sie glaubenden und mehr oder weniger streng praktizierenden Anhängerschaft mit noch intakten, festen Bindungen. Im Westen lässt sie stark nach, in der Bundesrepublik sind jeweils achtundzwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung Mitglied in einer der beiden Großkirchen. Es schwankt in den europäischen Ländern sehr stark, wird aber überkompensiert in den Ländern Südamerikas und den neuen christlichen Ländern Afrikas und Asiens. Hier haben die christlichen Kirchen, vor allem die römisch-katholische Kirche, großen Zulauf. In den »alten« christlichen Ländern Europas, insbesondere in Deutschland, ist der größere Teil der Kirchenmitglieder nicht mehr gläubig im streng orthodoxen Sinne, lebt weitgehend religionsfrei mit lockerer Bindung an die Kirche, festhaltend an den überkommenen Riten bei Taufen, Hochzeiten...