„Besuch beim Kaffee“ von Stefan Zweig
Vorbemerkung
Stefan Zweig, der damals in ganz Europa vielgelesene österreichische Schriftsteller, floh 1940 vor den Nationalsozialisten nach Brasilien, wo er und seine Frau Lotte Altmann Asyl von der brasilianischen Regierung bekamen. Zum ersten Mal kam er für ein paar Tage im August 1936 nach Brasilien, als er auf Einladung des P.E.N.-Clubs zum Kongress in Buenos Aires unterwegs war. Aus Dankbarkeit und aus Begeisterung über ein Land, in dem von Krieg und Rassenhetze nichts zu spüren war, schrieb Stefan Zweig sein Buch „Brasilien – Ein Land der Zukunft“. Froh darüber, in Brasilien in Sicherheit zu sein, machte sich Stefan Zweig wenig Gedanken darüber, dass die Brasilianer damals ja auch selbst in einer Diktatur lebten. Dies ist der Grund dafür, warum sein Buch vor allem von den Intellektuellen des Landes als „Auftragswerk der Regierung“ sehr kritisiert wurde. Dies zur reinen Hintergrundinformation des Lesers, hier soll es aber nur um das Kapitel des Kaffees gehen.
Stefan Zweig – eine Kurzbiografie
Stefan Zweig wurde als Sohn eines wohlhabenden Fabrikanten 1881 in Wien geboren. Bereits als Gymnasiast schrieb er Gedichte und nach der Schule studierte er in Wien Literaturgeschichte. Während seiner Studienzeit reiste er viel und gerne – durch Europa ebenso wie nach Tunesien oder Mexiko. Einen Namen machte er sich zunächst als Übersetzer von Romain Rolland oder Emile Verhaeren, aber sehr bald auch schon durch seine eigenen Schriften. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, Gewalt, Bücherverbrennung sowie Verfolgung ließen Stefan Zweig schließlich nach Brasilien auswandern. Er hatte gute Kontakte zum dortigen Pen-Club, von dem er zuvor schon einmal eingeladen worden war. Unter dem Eindruck deutscher Kriegserfolge und erschöpft von unfreiwilliger Migration sowie dem Verlust seiner – vor allem auch geistigen – Heimat Europa, nahm er sich im Alter von sechzig Jahren, zusammen mit seiner Frau Lotte, am 23. Februar 1942 in der brasilianischen Stadt Petrópolis das Leben.
Kapitel aus „Brasilien – Ein Land der Zukunft“ von Stefan Zweig
Insel Taschenbuch, 8. Auflage (1997), ISBN: 978-3-45833589-4; Seiten 193 - 200.
(Der Text wurde für dieses Buch zur Verbesserung der Lesbarkeit vorsichtig an die neue deutsche Schreibweise angepasst).
Stefan Zweig: Besuch beim Kaffee
Freundliche Sitte wie jedwede in diesem gastfreien Land: besucht man in Brasilien ein Haus, so wird einem zu jeder Stunde des Tages Kaffee angeboten, köstlicher schwarzer Kaffee in kleinen Tassen, es ist hier eine Selbstverständlichkeit. Man trinkt ihn auf andere Art als bei uns – oder vielmehr, man trinkt ihn eigentlich gar nicht, sondern stülpt ihn mit einem einzigen scharfen Ruck hinunter wie einen Likör, ganz heiß, so heiß, dass, wie man hierzulande sagt, ein Hund heulend davonlaufen würde, wenn man ein paar Tropfen auf ihn schüttete. Wie viele solcher schwarz duftender, glühender Tassen ein Brasilianer durchschnittlich am Tag konsum21iert, dürfte statistisch kaum festzustellen sein, ich nehme an, zwischen zehn und zwanzig – und ebenso schwer wäre es, apodiktisch zu entscheiden, in welcher Stadt er am besten mundet.
Mit homerischem Eifer fordern hier alle Orte den Ruhm der vorzüglichsten, der richtigsten Zubereitung für sich, und so habe ich ihn unparteilich mit gleicher Begeisterung getrunken in den kleinen Kaffeehäusern in Rio, wo die Tasse zweihundert Reis kostet (ein in unseren Währungen kaum münzbarer Betrag), und in der Fazenda selbst und in Santos, der Kaffeestadt, und sogar im Instituto do Café in São Paulo, wo seine richtige Zubereitung geradezu zur Wissenschaft erhoben wird und ich nach genommenem Kurs einen Sack Kaffee und die richtigste Kaffeemaschine zur weiteren Ausübung mitbekam – überall, an allen Stellen war er gleich zauberhaft würzig, stark und nervenbelebend, ein schwarzes Feuer, das die Sinne heller und die Gedanken leuchtkräftiger macht. König Kaffee, so möchte man diesen schwarzen Potentaten hier nennen, denn er beherrscht noch immer ökonomisch dieses riesige Land und regiert von seinem Hafen in Santos aus mehr oder minder sämtliche Märkte und Börsen der Welt, sechzehn Millionen Sack von den vierundzwanzig, welche unsere Erde konsumiert, werden hierzulande gepflanzt und verschifft:
Rohkaffee: Münze und Währung des Landes
letzten Endes sind diese winzigen perlgrauen oder rehfarbenen Körner die eigentliche Münze und Währung des Landes. Mit Kaffee kauft und bezahlt Brasilien die wenigen Rohstoffe, die ihm fehlen, Öl vor allem und Getreide, mit Kaffeebohnen (mit Milliarden Kaffeebohnen allerdings) die Maschinen und technischen Instrumente. Darum war der Weltmarktpreis des Kaffees das eigentliche Thermometer der brasilianischen Wirtschaft; stieg sein Wert, so blühte das ganze Land, drohte er zu sinken, so verbrannte die Regierung die überschüssigen Säcke oder warf die kostbaren Bohnen den unverständigen Fischen vor. Kaffee bedeutete hier durch ein Jahrhundert letztendlich Gold und Reichtum, Gewinn und Gefahr; von seinem Wert und Walten hing bis zu einem gewissen Grade die Handelsbilanz des ganzen Landes ab; nicht der Milreis 1 hat den Wert des Kaffees in manchen Jahren bestimmt, sondern der Weltmarktpreis des Kaffees den Wert des Milreis.
Dieser große Finanzpotentat Brasiliens, der Kaffee, ist wie so viele andere heute reiche Leute in diesem Land ursprünglich ein Einwanderer, ein Immigrant. Seine eigentliche Heimat ist Arabien, das Mokka-Land, und die Legende erzählt, dass Hirten dort eines Tages mit Überraschung beobachteten, wie ihre Ziegen immer, wenn sie von einem bestimmten Strauch geknabbert hatten, lebendiger herumtollten. Bald versuchten sie selbst diese Bohnen und stellten fest, dass sie ohne jede Schädigung für die Gesundheit eine besondere Wirkung ausübten und die Müdigkeit minderten, weshalb sie das Gebräu aus diesen köstlichen Bohnen Kahma nannten (von kaheja, was Abhalten vom Schlaf bedeutet). Die Araber brachten das erfrischende Elixier den Türken, bei der Belagerung Wiens fielen den Österreichern ganze Säcke als Beute in die Hände, bald entstand in Wien das erste Kaffeehaus, und das braune Getränk wurde in ganz Europa Mode – eine flüchtige, wie die gute Madame de Sévigné irrtümlicherweise meinte, als sie von Racine ärgerlich sagte: „Cela passera comme lecafé“ 2. Aber der Kaffee blieb – Racine überdies gleichfalls – und wanderte in die französischen Kolonien nach Guyana hinüber, wo die Pflanzen und Samen ängstlich als Handelsgeheimnis gehütet wurden. Wie tausend Jahre zuvor die Chinesen das Urprodukt der Seide, den Cocon, vor allen Fremden versteckten und die Ausfuhr auch nur eines einzigen unverarbeiteten Cocons mit dem Tode bedrohten, bis dann zwei Mönche in einem ausgehöhlten Pilgrimsstab einen Cocon nach Europa schmuggelten – so hatte der Gouverneur von Cayenne den strengen Auftrag, keinem Ausländer Zutritt zu den Pflanzungen zu gewähren.
Glücklicherweise für Brasilien besaß dieser Gouverneur eine Frau, und diese schenkte 1727 in einer oder nach einer schwachen Stunde dem portugiesischen Sergeanten Major Francisco de Melo Palheta einige Sträucher und Wurzeln; damit war der braune Einwanderer nach Brasilien hineingeschmuggelt, und er fühlte sich wie alle Einwanderer bald heimisch in dem neuen Land. Zuerst siedelte er sich in Nordbrasilien im Amazonasgebiet und dem Maranhão bei seinen Vettern Zucker und Tabak an – Kaffee ohne diese Vetternschaft bleibt immer unvollkommener Genuss; allmählich rückt er 1770 nach Süden in die Gegend von Rio de Janeiro hinunter. Rings um die Hügel von Tijuca, wo heute schon die Hochhäuser den ländlichen Villen den Raum streitig zu machen beginnen, rafft er die Felder an sich und lässt sich von Tausenden von Sklaven hegen und pflegen; aber noch immer behagt ihm die Luft nicht ganz, und schließlich bemächtigt er sich der ganzen Provinz São Paulo, um nach tausendjähriger Wanderung von dort aus sein Imperium über die ganze Welt auszubreiten. Doch entwickelt er sich auch immer mehr zum Tyrannen, er unterjocht die ganze brasilianische Wirtschaft von seinem Königsthron in São Paulo aus. Er lässt sich die herrlichsten Lagerhäuser errichten, befiehlt Schiffe aus der Welt heran, er diktiert den Preis des Geldes, jagt das Land in wilde Spekulationen und lebensgefährliche Krisen und ersäuft sogar seine eigenen Kinder – Tausende und Tausende Säcke – im Meer, weil die Welt ihm nicht den vollen Tribut zahlen will.
Einem so mächtigen Herrn und einem zumal, der so oft meine Arbeit gefördert und mir in ungezählten Stunden die Freuden der Geselligkeit erhöht, einen respektvollen Besuch abzustatten, hielt ich für meine gebotene Pflicht. [Ich tat es ihm später gleich – Anm. des A.] Freilich um diesen Herrn und König in seiner Residenz aufzusuchen, muss man heute schon tiefer ins Land reisen als ehedem. Ursprünglich, als der Kaffee von den Portugiesen aus Afrika herüber gebracht wurde – Heinrich Eduard Jacob hat die Sage dieser Weltwanderung in seinem Buch3 bezaubernd erzählt – lagen die Pflanzungen noch hart an der Küste. Die Täler um Santos und manche der herrlichen Parks von Tijuca, unmittelbar neben Rio de Janeiro, waren durch Jahrhunderte Kaffeeplantagen; von den Feldern wurden die Säcke auf dem Rücken der schwarzen Sklaven geradewegs zu den Schiffen gebracht. Aber in Jahrzehnten und Jahrhunderten, nachdem sie Milliarden und Abermilliarden dieser magischen Bohnen erzeugt...