Eines der besten Erkennungszeichen für zukünftige »Absonderlichkeit« besteht beim Stillkind darin, dass es sich weigert, seinen Darm zu entleeren, wenn man es aufs Töpfchen setzt. Das sagte der wohl bekannteste und einflussreichste Psychologe der Moderne, Sigmund Freud. Er vertrat allen Ernstes die Meinung, Säuglinge würden zu Neurotikern, wenn sie nicht auf Befehl ins Töpfchen machten. Wohlgemerkt: Säuglinge!
Wie kam Herr Freud eigentlich dazu, so etwas von kleinen Kindern zu behaupten? Und vor allem: Kann das denn stimmen?
Und die heutigen Theorien?
»Mit spätestens sechs Monaten ist eine etwa zehnstündige durchgehende Nachtruhe normal – ohne Mahlzeiten!« Das lesen Eltern in dem Bestseller »Jedes Kind kann schlafen lernen« (in früheren Auflagen war sogar von elf Stunden die Rede – die Babys haben wohl Nachlass bekommen). Eine über eine Million mal verbreitete Behauptung, nur: Stimmt sie denn?
Überhaupt, um gleich bei dem Beispiel zu bleiben, müssen Babys wirklich »lernen«, alleine zu schlafen? Das wird mit der Förderung ihrer Selbstständigkeit begründet. Nur: Stimmt das wirklich?
Stimmt denn die andere große Hoffnung unserer Zeit – nämlich dass Kinder »frühe Bildung« brauchen, um nachher besser im Leben zu stehen? Der bekannte Pädagoge Wassilios Fthenakis fordert dazu »Fachkräfte, die ein Kind von der Geburt bis mindestens zum Ende der Grundschule begleiten und mit ihm gemeinsam Bildungsprozesse organisieren«. Das mag für die Fachkräfte eine schöne Sache sein – aber lohnt das für die Kinder?
Und wenn wir schon bei der Bildung sind – was genau suchen eigentlich die deutschen Arbeitgeberverbände ausgerechnet in den Kitas? Sie fordern dort »mehr strukturiertes Lernen« und begründen das mit der Sorge, dass sonst in Deutschland »in Zukunft nicht mehr genügend Humankapital zur Verfügung steht, um den produktiven Einsatz des Sachkapitals zu ermöglichen«. Das mag den Unternehmen ins Konzept passen, aber passt das denn für die Kinder?
Das ist das Umfeld, in dem heutige Eltern ihre Kinder großziehen: Jeder behauptet etwas über Kinder, was ihm in den Kram passt. Jeder zerrt und zieht am Kind – und begründet das mit großen Worten, Versprechungen und Theorien. Jede der Theorien findet eine gläubige Anhängerschaft – und jede Ansage (und erwiese sie sich in der Praxis auch als komplette Luftnummer) kommt garantiert einmal wieder.
Luftschlösser, schlüsselfertig
Das Wirrwarr geht schon gleich nach der Geburt los: Wie viel Nähe braucht so ein kleiner Mensch? Nur nicht zu viel, sagen die einen – der kleine Mensch könnte verwöhnt werden! Niemals genug, sagen die anderen, eine sichere Bindung schafft Vertrauen für das ganze Leben! Wenn es ums Schlafen geht, dieselbe Pein. Gehört das Kleine an die Seite der Mutter? Oder ein ganzes Stück weg von ihr ins eigene Bett – es könnte sonst am plötzlichen Kindstod sterben? Kann man es in eine Krippe geben – oder widerspricht das seinen natürlichen Bedürfnissen? Und wenn es dann in den Kindergarten kommt, soll da eher das Spielen im Mittelpunkt stehen – oder der Zahlenraum erweitert werden? In der Schule: mehr Drill oder mehr Selbstfindung?
Wohin die Mehrheitsmeinung geht, ändert sich wie die Saumlänge in der Mode. Natürlich brauchen Kinder Pünktlichkeit, frühe Sauberkeitserziehung und Füttern nach der Uhr – so die Überzeugung unserer Großeltern. Für die meisten unserer Eltern war es genauso natürlich, dass sie dies eben nicht brauchen. Dass Kinder früh schon »Förderung« bekommen sollen, war mit dem Ende der 1990er-Jahre plötzlich ganz fest in den Köpfen verankert – so fest, dass aus den Kinderzimmern der Republik auf einmal Mozart erklang, weil diese Musik dem wachsenden Gehirn angeblich ein paar zusätzliche IQ-Punkte abquetschen kann. Und auch das mit den »Grenzen« war auf einmal wieder ausgemachte Sache: Kindern fehlt es an Grenzen. Sicher?
Sicher ist nur eines: Erziehung ist eine wunderbare Spielwiese für Spekulanten. Ihre Annahmen leuchten auf den ersten Blick ein, und sie lassen sich gewiss von so mancher Theorie bestätigen. Wenn da nur nicht ein Problem wäre: Die Annahmen widersprechen sich. Und damit stehen Eltern vor einer ernüchternden Tatsache: Ein guter Teil dessen, was über Kinder behauptet wird, ist falsch. Gut gemeint in aller Regel, aber trotzdem: Geschwätz.
In diesem Buch werde ich zeigen,
■ dass das Geschwätz erst aufhört, wenn wir an den Kindern selbst Maß nehmen; denn die Kinder ändern sich – im Gegensatz zu den Ansagen, die wir über sie machen – doch eher nicht von heute auf morgen;
■ dass wir dieses Maß nur finden können, wenn wir die jahrtausendealte Geschichte unserer Kinder berücksichtigen – bis heute beruht ihre Entwicklung auf den Strategien, die sich für sie in der Menschheitsgeschichte bewährt haben;
■ dass wir eine – angeblich vor allem für Legehennen wichtige – Frage auch für Menschenkinder stellen müssen: die Frage nach der artgerechten Umwelt.
Artgerecht – gewiss ein erklärungswürdiger Begriff. Bisher ist er uns ja eher aus der Tierhaltung bekannt. »Haltungseinrichtungen«, so § 13 der Haltungsverordnung für Legehennen, »müssen eine Fläche von mindestens 2,5 Quadratmetern aufweisen, auf der die Legehennen sich ihrer Art und ihren Bedürfnissen entsprechend angemessen bewegen können. Sie müssen so ausgestattet sein, dass alle Legehennen artgemäß fressen, trinken, ruhen, staubbaden sowie ein Nest aufsuchen können«. Es erscheint mir dringend geboten, dass wir die Frage nach der artgerechten Umwelt auch für die andere Seite der Gitterstäbe stellen: Welche Umwelt brauchen Kinder, um ihre menschlichen Potenziale zu entfalten?
Wir kommen ohne diese Frage in der Erziehungsdiskussion nämlich nicht weiter. Dass wir immer wieder neuem Geschwätz aufsitzen, liegt ja nicht an den Kindern. Es liegt auch nicht daran, dass den Eltern ein Erziehungsführerschein fehlt. Es liegt daran, dass wir mit immer neuen Zielen, immer neuen Hoffnungen über die Kinder herfallen. Dass wir Bilder errichten, statt die Kinder selbst kennenzulernen.
Dass wir nicht weiterkommen, liegt aber auch daran, dass wir uns zu lange vor einem Rundgang durch das »Dorf« gedrückt haben, in dem unsere Kinder heute aufwachsen. Was liegt da im Argen? Stehen Kinder, Jugendliche, Mütter, Familien wirklich dort, wo sie hingehören – in unserer Mitte? Warum bedeuten dann Kinder, die ja angeblich ein Reichtum sind, immer öfter ein Armutsrisiko? Warum brauchen wir immer mehr Schreiambulanzen, Schlaf-Sprechstunden, Logopäden, Bewegungstherapeuten und andere Entwicklungshelfer für unsere Kinder? Geht das Versprechen der »frühen Bildung« wirklich auf? Wo sind dann die bedeutsamen Beziehungen und die altersgerechten Stellenschlüssel, die die Frühpädagogik nach eigenem Bekunden braucht, um diesen Schuh zu füllen? Und, zu guter Letzt: Stimmt es wirklich, dass wir Erwachsenen nach einer »besseren Welt« trachten und alles tun, um unseren Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen? Geht es in dieser Welt nicht in Wirklichkeit – ob wir es gut finden oder nicht – um etwas anderes: um die möglichst effektive materielle Wertschöpfung, der wir uns mit Haut und Haar unterwerfen? Muss uns nicht allmählich auffallen, dass Kinder dadurch als Erste in Not kommen?
Neu Maß nehmen
Wie kommen wir weiter? Vielleicht müssen wir uns als Erstes eine ganz banale Frage stellen: Stehen hinter den vielen Behauptungen über die Kinder nicht vielleicht auch ganz bestimmte Interessen? Denn wenn man die immer wieder neuen Programme betrachtet, die da für die Kinder angepriesen werden, fällt schon etwas Seltsames auf: Da reden überraschend viele mit, die mit Kindern eigentlich gar nichts zu tun haben! Die Priester und Geistlichen des Mittelalters wussten, was gut für Kinder ist. Die Generäle im Deutschen Reich wussten es auch. Auch heute reden gerade in der Bildungsdebatte viele Menschen und Gruppen mit, die sich eigentlich um ganz andere Dinge kümmern – um Wirtschaftsunternehmen etwa oder um deren Stiftungen und Verbände.
Ein Grundmuster, das uns zu denken geben sollte: Immer scheinen die, die in der Gesellschaft gerade das Sagen haben, sich auch Ansagen zur »richtigen« Erziehung zuzutrauen. Vielleicht interessieren sie sich ja weniger für die Kinder selbst als vielmehr für das, was diese zu bieten haben, wenn sie erst einmal »gebildet und erzogen« sind? Vielleicht ändern sich ja deshalb die Ansagen in der Erziehung immer dann, wenn sich die Machtverhältnisse in den Gesellschaften ändern?
Und vielleicht tut deshalb etwas Zweites not. Dass, wer wirklich mit Kindern zu tun hat, seinen Blick eben nicht nur in die Zukunft richtet, sondern auch in die Vergangenheit. Ja, ich glaube fest, dass die Vergangenheit unser Maß sein muss: Wer den Kindern gerecht werden will, muss berücksichtigen, wie sie sich über Tausende, ja Hunderttausende von Jahren entwickelt haben. Warum? Weil unsere Kinder eine Geschichte in sich tragen – und diese Geschichte bestimmt ihr Leben auch heute noch (oft mehr, als uns lieb ist).
Ich spreche von ihrer evolutionären Geschichte. Alle Lebewesen dieser Erde tragen die Prägungen der Vergangenheit in sich – sie helfen ihnen beim Überleben und Gedeihen. Das gilt auch für unsere Kinder. Wie sie sich verhalten...