Um den Mitarbeitertyp des Tunnelgräbers zu beschreiben, ist es erforderlich, das Phänomen des Tunnelgrabens zu verstehen. Es liegt auf der Hand, dass im Kontext des vorliegenden Buches mit graben nicht das Umschichten von Erde gemeint ist. Vielmehr handelt es sich beim Begriff des Tunnelgrabens um die sprachlich-sinnbildliche Darstellung eines von manchen Mitarbeitern vorzugsweise praktizierten Verhaltens. Mit Tunnel ist hier ein Kommunikationsweg gemeint, der, einem unterirdischen Gang gleich, vom unmittelbaren Vorgesetzten des Tunnelgräbers geradewegs zum Chef-Chef des Mitarbeiters, sprich zur Führungskraft der Führungskraft führt. Oder zum Chef-Chef-Chef. Oder Chef-Chef-Chef-Chef. Nach oben sind da keine Grenzen gesetzt. Ganz gleich, wie lang der Tunnel ist: Der Tunnelgräber umgeht heimlich seinen unmittelbaren Vorgesetzten. Aber warum tut er das?
Der Drang zu Höherem
Sein Drang zu Höherem ist dem Tunnelgräber selbst nicht bewusst. Psychologisch lässt er sich jedoch aus der Tatsache erschließen, dass es diesen Mitarbeitertyp zu Höheren, sprich höhergestellten Personen, hinzieht. Je stärker dieser Drang im Unterbewusstsein des Mitarbeiters wirkt, desto weiter oben in der Unternehmenshierarchie ist seine »Zielfigur« angesiedelt. Personen mit einem DzH-Wert (das ist der Wert zur Messung des Dranges zu Höherem, W. P.) größer als 10 auf der nach oben offenen DzH-Skala (vgl. Vipper 1999) äußern ihre Unzufriedenheit mit ihrem unmittelbaren Vorgesetzten ausschließlich gegenüber dem Geschäftsführer oder Firmeninhaber. Beträgt der DzH-Wert gar 20 und mehr, kontaktieren die betreffenden Mitarbeiter bevorzugt Personen aus der Privatsphäre ihres Chefs, von denen sie vermuten, sie seien diesem »psychisch überstellt«. Alltagssprachlich könnte man formulieren: Sie »baggern« die (Ehe-)Partner oder, bei Singles, die Mama oder den Papa ihres Gruppen-, Abteilungs- oder Bereichsleiters an. Andere psychologische Studien weisen nach, dass jeder Mensch einen mehr oder weniger ausgeprägten Drang zu Höherem hat, weshalb der DzH-Wert nicht unter 1 liegen kann (vgl. Subsmith 2004).
Prüfen Sie sich selbst mit dem DzH-Schnelltest für den betrieblichen Erfahrungsbereich (nach Großwill 2010):
Wenn ich im Fahrstuhl auf den Knopf für das oberste Stockwerk drücke, verspüre ich jedes Mal ein Kribbeln in der Hand. ja / nein
Urteile von höhergestellten Persönlichkeiten sind grundsätzlich richtiger als Urteile von ihnen unterstellten Personen.
ja / nein
Ich bin stolz, wenn mich der Geschäftsführer auf dem Betriebsfest nach meinem Namen fragt.
ja / nein
E-Mails von Vorgesetzten, die mehr als drei Hierarchiestufen über mir angesiedelt sind, drucke ich mir aus und bewahre sie in einem goldfarbenen Ordner auf.
ja / neinKönnte ich ausschließlich meinem Direktor zuarbeiten, würde ich freiwillig auf die Hälfte meiner Vergütung verzichten. ja / nein
Wer das Bett mit dem Geschäftsführer teilt, gehört zu den glücklichsten 0,001 Prozent aller Menschen weltweit.
ja / nein
Auswertung
6 × ja: DzH-Wert 24
5 × ja: DzH-Wert 20
4 × ja: DzH-Wert 16
3 × ja: DzH-Wert 12
2 × ja: DzH-Wert 8
1 × ja: DzH-Wert 4
0 × ja: DzH-Wert 1
Tunnelgräber denken unternehmerisch
Der Drang zu Höherem allein macht den Tunnelgräber noch nicht zu einem wertvollen Mitarbeiter. Erst in Kombination mit der ihm eigenen Fähigkeit, im Sinne des Unternehmenserfolgs zu denken und entsprechend verantwortungsvoll zu handeln, wird dieser Drang zu einem nicht zu unterschätzenden Produktivfaktor für die Firma. Konkret heißt das: Ist ein Tunnelgräber der Meinung, dass seine Wünsche oder Beschwerden, wenn er sie an seinen unmittelbaren Vorgesetzten heranträgt, zu Auseinandersetzungen mit diesem führen werden, wendet er sich an einen höheren Vorgesetzten. Er weiß, dass Spannungen zwischen ihm und seiner direkten Führungskraft unwägbare negative Konsequenzen für die Firma nach sich ziehen können. Das will er auf gar keinen Fall provozieren!
Lassen Sie mich dies an einem typischen, weil in Unternehmen häufig vorkommenden Beispiel aufzeigen: Ein Mitarbeiter ist – gleichgültig, ob berechtigt oder nicht – mit der Führungsarbeit seines Vorgesetzten unzufrieden. Er sieht seine Arbeitsleistung nicht ausreichend gewürdigt und fühlt sich gegenüber seinen Kollegen benachteiligt. In dieser Situation überlegt er sich, was geschähe, wenn er zum Chef ginge und ihm sagte: »Sie würdigen meine Arbeitsleistung zu wenig und ziehen mir andere Mitarbeiter vor.« Wird der Chef ihn in Ruhe anhören? Wird er sich für sein Feedback bedanken? Wird er sein Verhalten ihm gegenüber ändern, ihn zukünftig auch mal loben und ihm nicht mehr die unangenehmen Aufgaben geben, während sich seine Kollegen einen lauen Lenz machen? »Nein. Das wird er nicht. Er wird stattdessen …«
An dieser Stelle lässt sich der simulierte innere Dialog auf unterschiedliche Weise fortführen. Handelt es sich bei dem unmittelbaren Vorgesetzten um einen Choleriker, wird der Mitarbeiter denken: »Er wird mich anschreien. Fertig machen wird er mich. So fertig, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen kann, am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen aufwache und vollgepumpt mit Schmerztabletten im Bett bleiben muss. Oder sein Gebrüll schlägt mir derart auf den Magen, dass ich davon ein Magengeschwür kriege, ins Krankenhaus komme und wochenlang ausfalle! Was wird das das Unternehmen für Geld kosten! Die Fortzahlung meines Gehalts ist noch das Wenigste! Aufträge in vierstelliger Höhe werden uns verloren gehen, weil meine Arbeit liegen bleibt. Müller, der Penner, der von meinem Job null Ahnung hat, muss für mich einspringen und macht garantiert kostspielige Fehler. Dabei ist er total überfordert, kriegt ein Burnout und fällt für ein halbes Jahr aus. Wahnsinn! Nein, das kann ich der Firma gegenüber nicht verantworten!«
Handelt es sich nicht um einen cholerischen, sondern um einen chronisch überforderten Vorgesetzten, kommt zum Verantwortungsgefühl, das der Tunnelgräber gegenüber dem Unternehmen empfindet, noch das rein menschliche Verantwortungsgefühl gegenüber der Person seiner Führungskraft hinzu. Scheuen wir uns nicht, von Mitleid und Rücksichtnahme zu sprechen! Der Tunnelgräber bringt es nicht übers Herz, diesen Chef mit seinen Problemen zu belasten. Er denkt: »Wenn ich dem Chef sage, dass ich mit der Art und Weise, wie er mich führt, unzufrieden bin, versteht er das vielleicht nicht. Er hat für solche Dinge keine Zeit und keinen Nerv. Der ist ja auch so schon am Limit. Wenn ich mit meinem Anliegen komme, ist das vielleicht der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Er bricht zusammen und fällt längere Zeit aus. Und wie teuer das die Firma erst kommt – nicht auszudenken!«
Sogar wenn der unmittelbare Vorgesetzte weder cholerisch noch überfordert ist, wird der tunnelgräberische Mitarbeiter aus seinem starken altruistischen Grundgefühl heraus rücksichtsvoll handeln. Er weiß, dass sein Chef auch nur ein Mensch ist, der seine Stärken und Schwächen hat. Und er weiß, wie schwer es Menschen fällt, die eigenen Schwächen zu sehen, geschweige zu beheben. Der Tunnelgräber ist Realist. Er macht sich nichts vor: Ein Gespräch...