II. Mehr als ein Verbrennungsprozess – gegen mechanistisches Denken
Das Buch „1913: Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies zeichnet das Bild einer spannenden Zeit am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Viktor Emil Frankl war damals 8 Jahre alt. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, war zu diesem Zeitpunkt 57 Jahre, Alfred Adler, sein Schüler, 43 Jahre. Es war eine Zeit des Aufbruchs in der Psychotherapie und Neurologie dank neuer Methoden und technischer Möglichkeiten. Für alle drei bedeutete der Erste Weltkrieg eine einschneidende Zäsur: Anfangs begrüßte Freud den Krieg ganz patriotisch, die Sorge um seine Söhne Martin und Ernst veränderte aber seine Einstellung. Adler arbeitete als Militärarzt in Krakau, Brünn und Wien. Viktor E. Frankl war ein kleiner Junge, der mitten im Krieg die Volksschule beendete und dann das Sperlgymnasium besuchte, wo schon zuvor Freud sein Abitur abgelegt hatte.
Viktor E. Frankl selbst erzählt, wie er als Dreizehnjähriger ein für ihn einschneidendes Erlebnis hatte. Im Biologieunterricht der Mittelstufe ging der Lehrer im Raum auf und ab „und dozierte: ‚Das Leben ist letzten Endes nichts anderes als ein Verbrennungsprozess – ein Oxydationsvorgang.‘ Woraufhin ich, ohne mich zu Wort zu melden, aufsprang und ihm leidenschaftlich die Frage ins Gesicht schleuderte: ‚Ja, was für einen Sinn hat denn dann das ganze Leben?‘“ 4
Schon an dieser Episode wird deutlich, dass der junge Viktor E. Frankl sich mit einfachen Antworten nicht zufrieden geben wollte. Er war ein Suchender, ein Fragender schon als Heranwachsender:
Ich glaube, man könnte sagen, dass ich meine Lehre zunächst einmal für mich selbst entdeckt habe. Man sagt ja für gewöhnlich, dass jeder, der ein System der Psychotherapie begründet hat, letzten Endes seine eigene Krankengeschichte geschrieben und darin niedergelegt hat. Man weiß, dass Sigmund Freud an kleinen Phobien gelitten hat, man weiß, dass Alfred Adler darunter gelitten hat, dass er als Kind nicht besonders kräftig und gesund war. So kam Freud zu seiner Lehre vom Ödipuskomplex, Adler zu seiner Lehre vom Minderwertigkeitsgefühl. Ich muss sagen, dass ich keine Ausnahme von dieser Regel bin. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich als junger Mensch in den Reifejahren sehr mit dem Gefühl zu ringen hatte, dass letzten Endes vielleicht doch alles gänzlich sinnlos sei. Und dieses Ringen hat dann schließlich zu einem Sich-Durchringen geführt. Und ich habe gegen den eigenen Nihilismus ein Gegengift entwickelt.5
In einer Zeit, in der die Bücher von Friedrich Nietzsche Bestseller waren, musste auch der Teenager Viktor E. Frankl sich mit dieser „Lehre vom Nichts“, dem Nihilismus, auseinandersetzen. Diese einflussreiche philosophische Strömung kämpfte gegen alle absoluten Wahrheiten und Werte an. Nietzsche selbst war tragisch in geistiger Umnachtung 1900 gestorben, aber gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden seine Bücher und Aphorismen massenhaft verbreitet. Die Nationalsozialisten rechtfertigten mit seinen Aussagen die unmenschliche Verfolgung und Vernichtung. Viktor E. Frankl war wichtig, dieser Sichtweise einen anderen Ansatz entgegenzusetzen. Gegen das „nichts als“ wendet sich die Lehre der Logotherapie:
Sie hat sich nur begrifflich immer mehr herauskristallisiert. Sie musste mit der Zeit, im Laufe der Jahrzehnte, zu einem System werden, damit sie eine lehrbare und lernbare Behandlungsmethode werden konnte. Aber innerlich musste ich zunächst einmal den eigenen Nihilismus überwinden. Und das ist so bei jedem, der unter irgendetwas leidet – es muss ja keine Krankheit sein; Nihilismus, Sinnlosigkeitsgefühl ist ja wesentlich eine menschliche Leistung und keine Krankheit, keine Neurose, aber immerhin etwas, worüber man hinwegkommen muss. Und jenes Gedankengut, mit dessen Hilfe ich darüber hinwegkommen konnte, wollte ich nicht für mich behalten. Es ist selbstverständlich, dass man den Impuls fühlt, auch anderen so etwas mitzuteilen, auch anderen zu helfen. Und so wurde dieses System langsam, im Laufe von Jahrzehnten, entwickelt, und es ist nun so, dass man sich fragen muss: Woran leidet die Menschheit, woran leidet der durchschnittliche Mensch im Alltag heute am meisten? Leidet er noch so sehr unter den Folgen ödipaler Situationen? Leidet er heute noch so sehr unter den Nachwirkungen von Minderwertigkeitsgefühlen? Und dann kommt man darauf: Nein – heute und immer mehr hat sich generell ein Sinnlosigkeitsgefühl der durchschnittlichen Menschen bemächtigt. Und hier stellt sich die Frage: „Was hilft da?“, und da kann eine sinnorientierte, ja sinn-zentrierte Psychotherapie wie die Logotherapie – Logos heißt ja Sinn in diesem Zusammenhang – unter Umständen sehr ins Spiel kommen. Wie die Amerikaner immer sagen: „It speaks to the needs of the hour“ – sie spricht zu den Nöten der Zeit.6
Um die Welt verstehen zu können, etwas plastisch zu erläutern oder Zusammenhänge zu erkennen, braucht es oft modellhafte Vereinfachungen. Im Alltag sprechen Menschen, die sich etwas merken wollen, davon, dass sie sich das auf der „Festplatte abspeichern“. Wenn der Patient vom Kardiologen kommt, sagt er: „Die Pumpe läuft nicht mehr richtig.“ Der Versuch aber, diese Modelle auf das Leben zu übertragen, scheitert häufig. Es kann daraus entstehen, dass sich der Patient beim Arzt wie in einer Werkstatt fühlt. Der Student, der sein Studium abbricht, ist nur noch eine Zahl in der Statistik und wird zum Problem für die Hochschulpolitik. Der Bewohner eines Pflegeheims, der nachts durch die Gänge geht, wird „chemisch ruhiggestellt“, damit das System funktioniert.
Rahmenbedingungen, die geprägt sind von Effizienz und Kontrolle, erschweren zusätzlich den Blick auf die wirklichen Lebensfragen des Menschen.
Die Frage nach dem Sinn lässt sich nicht mechanisch-technisch beantworten. Wir vertrauen unser Leben Maschinen an, wenn wir uns ins Auto setzen oder in der Bahn unterwegs sind. Dann erwarten wir, dass sie funktionieren. ABS und Airbag vermitteln Sicherheit in Gefahrensituationen. Wir wissen, dass unser Computer funktioniert, weil er logischen Prozessen von Richtig und Falsch folgt. Auf das Wissen der Menschheit kann ich in Bibliotheken oder mit Hilfe des Internetlexikons Wikipedia zurückgreifen. Diese technischen Errungenschaften stehen uns Menschen heute zur Verfügung. Allerdings übertragen manche diese Erfahrungen zu schnell auf alles, was unser Leben betrifft.
Damit bleiben aber wichtige Lebensbereiche offen, die uns Menschen auszeichnen und nicht in dieses mechanistische Denken von Richtig oder Falsch, von A oder B, von „funktioniert“ oder „defekt“ hineinpassen.
Menschen sehnen sich nach Beziehungen. Darin suchen sie Geborgenheit und Annahme. Für die Entwicklung eines Kindes ist es fundamental, dass andere Menschen da sind, die sich mit dem Kind über jede neue Entdeckung freuen können. Wir benötigen Begeisterung, um uns weiterzuentwickeln. Dazu haben wir Menschen das einzigartige Zusammenspiel eines vielseitigen Körpers, eines plastischen Großhirns und einer Intuition, einer Gefühlswelt, die uns ermutigt, warnt oder auch verzweifeln lässt. Die Menschen, in deren Nähe wir heranwachsen, können unsere Entwicklung fördern oder einschränken, sie können uns ermutigen oder entmutigen. Niemand kann sich die Rahmenbedingungen aussuchen, in denen optimales Wachstum der eigenen Möglichkeiten gelingt. Umso wichtiger ist es, „trotz“ mancher Widrigkeiten, die daraus entstehen können, alles dafür zu tun, dass es ein gelingendes Leben ist oder wird. Dabei helfen keine „Wenn-dann-Überlegungen“, sondern nur die immer neue Frage: Was ist für mein Leben und das Leben der Menschen, die mir wichtig sind, bedeutsam, also WERTvoll?
Ein altes Wort für die Erfahrung, die wir im Leben sammeln, ist „Weisheit“. Seit der antiken Philosophie gehört Weisheit zu den vier Kardinaltugenden. Thomas von Aquin nennt sie sogar die Mutter (Gebärerin) der anderen drei Tugenden Gerechtigkeit, Maß und Tapferkeit.
In der Weisheit steckt das Erkennen dessen, was gut ist und was dem Leben dient. Zugleich ist damit aber auch die Aufforderung verbunden, das Erkannte umzusetzen. Im Rheinland spricht man vom „Rheinischen Imperativ“ des „Man-müsste“ (frei nach Konrad Beikircher). So kann zum Beispiel der Keller voller Gerümpel der ganzen Familie auf die Nerven gehen, weil jeder sucht, ohne zu finden, und immer wieder jemand fluchend an einen Gegenstand stößt. Der einfache Weg, mit dem Aufräumen zu beginnen, wird vertagt auf irgendwann.
Klagen über den Beruf, der doch so unerträglich ist, den Partner, der mal nett war und jetzt ein Ekel ist, die Kinder, die so selten anrufen … Diese Liste der Klagen ließe sich beliebig erweitern, wo dieses „man müsste“ als billige Ausrede angewendet wird.
Innehalten – wachsen lassen
Erinnerungshilfe für Veränderungen:
Statt eines komplizierten...