1. Familienwurzeln in Böhmen und Italien: Aus K.-u.-k.-Holz geschnitzt
Verflucht seien die Österreicher, die uns gelehrt haben,
dreimal täglich zu essen.
Venezianischer Hafenarbeiter nach Abzug der Habsburger aus Venezien [5]
Großvater Ettore Casari, Italiener – Holzhandel im Kanaltal – Ein wahrer Sprachkünstler – Um ihrer Ballkreationen willen gelobt – Mutter Emilie wird in Villach geboren – Vorzugsschülerin in Graz – Internierung im Ersten Weltkrieg – Franz Watzlawick, Bürgermeister im Böhmerwald – Erste Österreichisch-Ungarische Kinderwagenräderfabrik – Vater Paul, Tscheche – Tête-à-tête im Parkcafé
Es war der Augenblick, in dem die Vögel noch schliefen, als ich aus dem Fenster sah und den Fönwind roch, die weißen Wolken über den Mond und den dunkelblauen Himmel zogen, der das erste Licht erahnte. Und mich ein Gefühl des Friedens überkam.
Emilie Casari, Emy gerufen – sie war die Jüngste der vier Kinder –, sitzt zu Knien ihrer Mutter Maria Aloisia Veritti und schaut ins Narrenkastl. Der einzige Sohn der Familie, Anton – kurz Toni –, mit ovaler Nasenbrille und Bürstenhaarschnitt, hat genauso wie seine Schwester Itala Teresa, das «schöne Resele», den Blick direkt in die Kamera des Fotografen gerichtet. Resele trägt für das Familienfoto ein besonders schön genähtes Kleid. Maria, die Mizzi, sitzt vor dem Familienoberhaupt, dem Vater Ettore Casari, der mit verschränkten Armen, grau melierter Halbglatze und elegantem Vollbart zur rechten Seite der Mutter steht.
Die Familie wohnt in Villach, wo sich Ettore, 1863 im italienischen Ferrara geboren, als erfolgreicher italienischer Holzhändler angesiedelt und eine Familie gegründet hat. Der Holzhandel ist ein Wirtschaftszweig, der in dieser Zeit besonders floriert. Ettore ist tüchtig, und er war nach Norden gegangen, wo sich in der Stadt an der Drau ein Holzhandelszentrum gebildet hatte. So ist er Buchhalter der Firma Enrico Forni in Villach geworden. Im Jahr 1889 heiratet er dann Maria Aloisia Veritti, die aus dem Kanaltal des Herzogtums Kärnten stammt, aus dem Ort Pontafel beziehungsweise Pontebba, der zu dieser Zeit an der Grenze der K.-u.-k.-Monarchie und dem Königreich Italien liegt.
Ettore ist der spätere Großvater von Paul Watzlawick junior. Und Ettore, von den Villachern Hektor gerufen, ist ein wahrer Sprachkünstler, so die Familie. Er dichtet in italienischer, aber auch in deutscher Sprache. «La Partita del Tresette. Elucubrazioni di un poeta da strapazzo che soffre d´insonnia – Tüfteleien eines überangestrengten Poeten, der an Schlaflosigkeit leidet» publiziert Ettore im Dezember 1914, ein halbes Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Gabe der Sprache sollte zuerst einmal Tochter Emy, die Mutter von Paul (junior), erben. Viele Jahrzehnte später beginnt sie im Alter zu dichten, als ihre beiden Pauls sie verlassen hatten.
Emy ist italienische Staatsbürgerin und wächst zweisprachig auf. Ihre Mutter Maria, Mary genannt, war als Kanaltalerin sogar dreisprachig aufgewachsen: zu Italienisch und Deutsch kommt noch Slowenisch dazu; kurz: windisch-walisch-deitsch-kanalisch. Mary Casari ist eine begeisterte Schneiderin, eine Handwerklichkeit, die auch ihre Töchter lernen sollten und die gerade Emy in schweren Zeiten und schicken Gesellschaften gute Dienste leisten wird. Das schöne Kleid, das Resele beim Fotografen trägt, ist ein Werk ihrer Mutter. Noch lange nach ihrem Tod wird Mary Casari um ihrer Ballkreationen willen gelobt werden.
Die Berufstätigkeit von Mary wird unterstützt durch eine ältere Verwandte, die bei der Familie lebt. Den Kindern kann so eine gute Ausbildung ermöglicht werden. Oftmals ist die Familie in Italien, und so kommt es, dass die Älteste, das Resele, jung Enrico Scarpa, den Sohn einer großen italienischen Holzhandelsfirma, heiratet und nach Venedig zieht. Ihr Mann Enrico macht sich später als akademischer Maler und Restaurator in seiner Region einen großen Namen. Aber Ettores Älteste stirbt in jungen Jahren an Diphterie und hinterlässt eine einjährige Tochter, auch ein Resele. Jahrzehnte später wird Paul Watzlawick (junior) nach dem Zweiten Weltkrieg in Venedig zu studieren beginnen und dort Aufnahme bei seinem Onkel Enrico und seiner Cousine Resele finden. Die Verbundenheit zu Italien wird ihn ein Leben lang begleiten – er wird sich als Halbitaliener [6] bezeichnen, und seine zweite Frau wird aus Italien stammen.
Ettores Sohn Toni, Pauls späterer Patenonkel, verschlägt es in den Norden. Toni studiert in Wien, macht das Doktorat und wird später Professor für Französisch und Turnen werden. Seine ganze Liebe gehört der Natur. Er erkennt im Wald jeden Vogel an seinem Gesang oder Ruf, benennt alle Pflanzen und Bäume. Als Oberstleutnant erhält er im Ersten Weltkrieg für seine Verdienste am Krn dreimal die Tapferkeitsmedaille. Auch im Zweiten Weltkrieg muss er wieder einrücken und in den letzten Kriegsjahren einen Arm verlieren. Während dieses Weltkrieges wird er dann Österreicher. Er wird in Wien eine Familie gründen und zwei Söhne bekommen – Erich und Kurt Casari, zwei Cousins von Paul, mit denen Paul Teile seiner Jugend verbringen wird, in Wien wie in Kärnten. Paul wird auch während seines kurzen Studiums an der Universität Wien – nach der Rückkehr aus Indien und bevor er nach München geht – bei seinem Patenonkel wohnen und zum Dachboden des Hauses eine enge „Beziehung“ aufbauen.
Pauls Mutter Emilie (Emy) Casari mit ihren Geschwistern und den aus Italien stammenden Eltern in Villach um 1905 (von links nach rechts): der Bruder Anton (Toni) sitzend, Schwester Itala Teresa (das schöne Resele), Schwester Maria (Mizzi), Vater Ettore (Hektor), Emy und Mutter Maria (Mary) Casari.
Mizzi, die zweite Tochter von Ettore, erlernt zuerst das Schneidergewerbe, wird aber infolge kriegsbedingt Krankenschwester und im Villacher Lazarett arbeiten. Dort pflegt sie ihren späteren Mann, Friedrich von Sochor, der verwundet wurde. Aufgrund seiner Schmerzen gewöhnt er sich an Morphium und bleibt ein Leben lang süchtig. Emy, die Jüngste schließlich, hat von Kind an ein Asthmaleiden. Sie besucht zwischen 1899 und 1904 die Mädchen-Volks- und Bürgerschule zu Villach, danach die dreijährige öffentliche Mädchen-Bürgerschule zu Villach und schließlich bis 1910 eine zweiklassige Handelsschule in Graz. Ihre Zeugnisse zeigen ausnahmslos vorzügliche Noten. Sie erhält eine Ausbildung in Mailand, wo sie für die Società Italiana Ernesto De-Angeli arbeitet, bevor sie nach Villach zurückkehrt und im Juli 1911 eine Stelle im Parkhotel Villach annimmt, die sie 1914 wieder aufgibt. Anschließend besucht sie die K.-u.-k.-Bau- und Kunsthandwerkerschule, wo sie in weißer Schürze und mit weißem Kopftuch Reindling backen lernt.
Dann bricht der Erste Weltkrieg aus, und nach der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn wird die Familie mit italienischer Staatsbürgerschaft auseinandergerissen. Ettore flüchtet über Chiasso nach Italien, seine Frau Mary mit der Tochter Emy wird kurzfristig in Straßburg in Kärnten interniert. Sehr zum Unwillen des – zu dieser Zeit bereits – Verlobten der Tochter, Paul Watzlawick senior, der deshalb 1915 einen Beschwerdebrief verfasst. Im September 1915 beantragt Mary für sich und Emy die österreichische Staatsbürgerschaft und erhält die Erlaubnis, nach Villach zurückzukehren. Sohn Anton, Toni, ist Hörer der Philosophie und Leutnant in der Reserve des Landwehr-Infanterieregiments. Tochter Maria ist Rotkreuzschwester in Villach. Im Mai 1916 legt Mary in Villach den österreichischen Staatsbürgereid ab, Toni weilt an der Front.
In der neuen Welt, jenseits des Atlantik, erkrankt der 17-jährige Milton Hyland Erickson 1919 – die Mitschüler nennen ihn «Dictionary», da er das Wörterbuch immer von Anfang zu lesen beginnt, wenn er einen Begriff sucht [7] – an Kinderlähmung und fällt ins Koma. Sein Überleben ist ungewiss. Als er nach drei Tagen wieder aufwacht, ist er vollkommen gelähmt. Er weiß nicht, an welcher Stelle im Bett sich sein Arm oder Bein befindet. Wochenlang sitzt er bewegungsunfähig im Schaukelstuhl, bis sich eines Tages der Stuhl leicht bewegt – infolge seines intensiven Wunsches, aus dem Fenster zu sehen. Erickson übt weiter und schafft es mithilfe seiner suggestiv-imaginativen Willensanstrengungen nach einem Jahr auf Krücken zu gehen und die Universität von Wisconsin zu besuchen [8]. Viele Jahre später, als Paul Watzlawick junior von diesem beeindruckenden Schicksal hört, lebt Erickson in Phoenix/Arizona, nicht weit von der Wirkungsstätte der Palo-Alto-Gruppe entfernt, der Paul angehört, und gilt als Meister der Hypnose und Trance. Der unkonventionelle Psychiater und Psychotherapeut wird – entgegen den Konventionen seiner Zeit – eine strategische Hypnose und Kurzzeitbehandlungen in der Psychotherapie einführen, seine Arbeit Thema bei den Macy-Konferenzen gewesen sein, und er hat einen ganz entscheidenden Einfluss auf Pauls Arbeit ausgeübt.
Auch für Ettores Familie sind es bewegte Zeiten – anderer Art allerdings – in dieser südlichen Region Restösterreichs, an der Grenze zu Italien. Emy muss in ihrem Leben vier Mal die Staatszugehörigkeit wechseln und dabei fünf Staatsformen anerkennen: zuerst italienisch, dann tschechoslowakisch durch ihre Ehe, dann deutsch zwischen 1938 und 1945, und schließlich, nach dem Zweiten Weltkrieg, entscheidet sie sich gemeinsam mit Sohn Paul, Österreicherin zu werden. Nach dem Ersten Weltkrieg war das vierhundertjährige Habsburger Vielvölkerreich durch die Siegermächte im Sinne von Wilsons «Selbstbestimmungsrecht der Völker» zerschlagen worden, das Herzogtum Kärnten...