Ein Stückchen Chaos
Es ist der 21. Dezember, noch drei Tage bis Heiligabend. Weihnachtstrubel herrscht auf dem Flughafen Köln-Bonn. All die Menschen, vollgepackt mit Koffer und Taschen, zieht es nach Hause zu ihren Familien. Jeder will die besinnlichen Festtage im Kreise seiner Liebsten verbringen – und das auf dem schnellsten Weg. Natürlich gibt es auch diejenigen, die dem Feiertagsstress entfliehen wollen, am besten nach Dubai oder in ein 5-Sterne-Hotel irgendwo in der Karibik. Das sind jedoch die Ausnahmen. Die meisten freuen sich auf weiße Weihnachten zu Hause, mit Christbaum, Krippe, Flötenmusik und Würstchen mit Kartoffelsalat. Traditionen eben. Noch geht die Vorfreude im hektischen Flughafengetümmel unter. Die Menschen stehen ungeduldig am Gepäckband, drängeln sich mit Sack und Pack durch die Schleusen. Nur nach Hause. Raus hier. Und das zügig.
Dass die Stimmung gerade an diesen vermeintlich stimmungsvollen Tagen kippen kann, erlebt man immer wieder. Vielleicht ist Herbert Grönemeyer auch deshalb so angespannt, als er mit schnellen Schritten über die weißen Fliesen des Flughafens huscht. Er trägt einen schwarzen Mantel, blaue Jeans, graue Turnschuhe mit weißer Sohle. Die roten Haare sind kurzgeschoren, auf der Nase thront seine markante, schwarze Brille. Herbert Grönemeyer hat nur leichtes Gepäck dabei, eine Umhängetasche. Auffallen will er nicht. Im Gegenteil. Der Sänger ist sogar ohne Bodyguard unterwegs. Ein Fehler, wie sich wenige Sekunden später herausstellen wird.
Was kurz darauf geschieht, erinnert an einen Krimi in bester Hollywood-Tradition. Herbert Grönemeyer ist unterwegs zur Rolltreppe, als links neben ihm ein breitschultriger Mann auftaucht. Er steigert das Tempo, doch der Fremde hält Schritt. Jetzt geht alles rasend schnell. Der Sänger schaut hinüber, zögert, aber nur für einen kurzen Moment, und rennt dann kurzerhand auf den Fremden zu. Herbert Grönemeyer schwingt seine Umhängetasche, in der sich, wie er später betont, einzig eine Ausgabe der Zeitschrift „Zeit“ befindet. Der Fremde geht zu Boden, als hätte ihn ein Eisenhammer getroffen. Herbert Grönemeyer schreit ihn an: „Was willst du hier?!“ Vollgepumpt mit Adrenalin, hält er den Kerl fest am Kragen seiner Jacke.
Genau in diesem Moment taucht ein zweiter Mann auf, in seiner Hand eine kleine Kamera. Er zittert vor Aufregung, während er all das filmt, was ein paar Meter vor ihm geschieht. „Ich hab Sie, Herr Grönemeyer“, ruft der Filmende völlig aus dem Häuschen. Seine Stimme überschlägt sich, ist so wackelig wie später das ganze Video. Doch das ist zweitrangig. Die Falle sollte zuschnappen, und das hat sie getan. Die Treibjagd war erfolgreich, das „Wild“ ist erlegt.
Es dauert nicht lange, bis auch Herbert Grönemeyer die laufende Kamera bemerkt. Er weiß in diesem Moment ganz genau, dass er reingelegt wurde. Dass er das „Wild“ ist, das in der Falle sitzt. Wahrscheinlich sieht er vor seinem inneren Auge bereits die Schlagzeile, die tags darauf tatsächlich auf fast jeder Zeitung zu lesen sein wird: „Grönemeyer attackiert Fotograf“. Er, der Medienprofi, hat sich wie ein Anfänger von diesen Männern provozieren lassen. Ja, er hätte es besser wissen müssen. Doch Gefühle lassen sich nur schwer in Zaum halten. Erst recht, wenn das Blut vor Wut fast überkocht. Immer noch außer sich vor Zorn, stürmt Herbert Grönemeyer jetzt auf den Kameramann zu. Er schreit: „Fuck off!“ Und noch mal: „Fuck off, hab ich gesagt.“ Dann schlägt er dem Mann die Kamera herunter, brüllt: „Was soll der Scheiß? Ich bin privat hier, du Affe!“ Der ganze Vorfall dauert nur Sekunden. Doch er sollte ihn noch länger verfolgen, als ihm lieb ist. Viel länger.2
Szenenwechsel: Herbert Grönemeyer sitzt im Sessel des ARD-Studios im Berliner Gasometer. Schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, schwarzer Blazer. Krawatte trägt er keine, dafür orangefarbene Socken. Mal hat er seine Hände zur Merkel-Raute gefaltet, mal spielt er gedankenverloren an dem Ring, den er am Ringfinger trägt. Und er hört den Fragen zu, die ihm Gastgeber Günther Jauch über die aktuelle Flüchtlingssituation stellt. Aus Angela Merkels „Wir schaffen das!“ wird allmählich ein „Schaffen wir das?“, so lautet zumindest der Tenor dieser Sendung. Herbert Grönemeyer ist neben Kanzleramtschef Peter Altmaier einer von fünf Talk-Gästen. Er bezieht ganz klar Position zur Flüchtlingsdebatte, argumentiert anfangs ruhig und gelassen. Er sagt Sätze wie:3 „Die Gesellschaft hat sich das erste Mal nach der Wiedervereinigung endlich erwachsen verhalten (…) das fand ich schon mal sehr toll.“ Er lobt diesen „historischen Moment“, in dem die Gesellschaft der Politik zeige, wie es gehe. Wichtig sei jetzt, betont Herbert Grönemeyer, den Flüchtlingen eine Heimat zu geben und erst einmal zu helfen. Er spricht schnell. Das macht er immer, wenn ihn etwas beschäftigt. Und man merkt deutlich, wie die Wut in ihm aufsteigt. Wut auf jene, die diese Familien einfach so im Stich lassen wollen.
Bis, ja, bis Herbert Grönemeyer der Kragen platzt. „Das ist doch verbale Brandstiftung, was der Seehofer macht“, empört sich der Musiker. Der Sänger wirft der CSU vor, „im rechten Lager zu fischen“ – dies sei eine „Unverschämtheit“ und gehe „überhaupt nicht“. Die Contenance hat er zu diesem Zeitpunkt längst verloren. Wieder gehen die Gefühle mit ihm durch. Sein Gesicht wird rot. Zornesrot. Schweiß steht ihm auf der Stirn.
Wie schwer es ihm fällt, Dinge, die ihn stören, für sich zu behalten, bekommen selbst die engsten Freunde von Herbert Grönemeyer zu spüren. So ätzt er auf dem Reeperbahn-Festival öffentlich gegen seinen alten Kumpel Bono von der Rock-Band U2:4 „Ich kenne Bono ziemlich gut. Aber ich muss sagen, als ich das gehört habe, war ich geschockt“, poltert der Sänger los. So eine Aktion von einer so großen Band, die alle Millionäre seien, sei respektlos gegenüber den hart arbeitenden Kollegen. Hintergrund des Streits ist, dass das neue Album von Bono kostenlos für alle Nutzer auf die Musik-Plattform i-Tunes gestellt wurde. Nicht nur das: Apple platzierte die Platte auch ungefragt in den Bibliotheken der i-Tunes-Nutzer. Musik dürfe aber nicht verschenkt werden, lautet der Vorwurf Grönemeyers.
Warum er seinen Kumpel Bono nicht einfach angerufen hat, so wie es Freunde ja normalerweise tun, statt ihn über die Medien bloßzustellen? Schließlich kennen sich die beiden seit Jahren, engagieren sich gemeinsam für soziale Gerechtigkeit, unter anderem 2007 bei einem Auftritt beim Rostocker Festival „Deine Stimme gegen Armut“. Wieso also dieser verbale Rundumschlag? Nun, der war wohl schlicht und ergreifend nicht geplant. Der Musiker ist auf dem Reeperbahn-Festival in Hamburg von einer Reporterin nach seiner Meinung gefragt worden und er hat geantwortet – nur wieder einmal viel zu impulsiv. Eben typisch Grönemeyer. Selten taktvoll, stets geradeaus, das Herz dabei auf der Zunge tragend.
Die Wut ... sie gehört zu Herbert Grönemeyer dazu. Sie ist neben der Trauer, der Liebe und der Sorge um die Familie nicht ohne Grund das stärkste Gefühl. Und sind es nicht unsere Gefühle, die unseren Charakter prägen und uns zu Menschen machen? Oder eben zu Musikern, die ganz Deutschland verehrt?
Die Wut macht Herbert Grönemeyer erfolgreich. „Was soll das?“ ist im Jahr 1988 der erste Song, der es in die Top 3 der deutschen Charts schafft. Ganze zwanzig Wochen hält er sich mit der Wut-Hymne ganz oben in der Hitparade, verbucht somit den längsten Single-Erfolg seiner damals noch jungen Karriere. Im dazugehörigen Video zeigt sich der Sänger gewohnt reduziert und doch ausdrucksstark. Fast das gesamte Musikvideo ist in Schwarz und Weiß gehalten. Das Lied handelt, wie jeder weiß, von Liebeskummer, davon, dass ein anderer Mann an die Stelle von Herbert Grönemeyer tritt. Er singt: „Meine Faust will unbedingt in sein Gesicht – und darf nicht.“ Und er meint es so.
Der renommierte Therapeut Robert August Masters behauptet, dass diese Art der Wut sogar ein Geschenk sei. „Die meisten von uns verwechseln Wut mit Aggression“, klärt er auf. Aber Wut, in ihrer reinen Form, ist eine Emotion, die verletzlich macht. Der Experte spricht von einer „Herz-Wut“, einer Wut voller Leidenschaft, Mitgefühl und Achtsamkeit. Wut kann Liebe sein – „lassen wir zu, dass es so ist“, fordert Masters.
Herbert Grönemeyer also ausschließlich auf den Zorn zu reduzieren, ist darum nicht nur falsch, es wird ihm schlicht nicht gerecht. Denn genauso wie der Sänger hassen und herumpoltern kann, so kann er eben auch loben und lieben.
Es ist der Abend der „Goldenen Kamera“. Zum 50. Mal wird die 25 Zentimeter große Trophäe der Zeitschrift HÖRZU, bestehend aus 18 Karat vergoldetem Sterling Silber, verliehen. Auch Herbert Grönemeyer gehört 2015 zu den ausgesuchten Preisträgern. Er ist ein „musikalischer Poet mit ganz eigenem Rhythmus“, begründet die Jury ihre Wahl. Und weiter: Mit seiner Musik kreiere er eine Sprache, die beim Zuhören direkt ins Herz gehe. Zu viele Worte nutze er nie. Aber die, die er nutze, träfen genau.
Das beweist der Sänger auch in seiner Dankesrede. Gut gelaunt erscheint er in den Hamburger Messehallen. Er hat sich an den Dresscode mit Jeans und Shirt zwar nur bedingt gehalten, trägt aber immerhin einen schwarzen Blazer zu den braunen Schuhen. Penibel jegliche Etikette zu bewahren, das scheint ihm sowieso nie sonderlich wichtig zu sein. Die Botschaft ist‘s, die zählt. Und sie kommt an, als er auf der Bühne seine Ballade „Fang mich an“ zum Besten gibt....