2. Kapitel
Meine persönliche Geschichte
Wie gesagt, ich selbst hatte nicht einmal ein Bild zum Thema Absturz, Pleite, Jobverlust und Hartz-IV. Dennoch, plötzlich war ich arm. Ich wurde 50, als ich alles verlor. Gesundheit, Geld, Haus und Grund, sowie meine Firma - alles futsch. Ich hatte nichts mehr und schon gar keine Perspektive von Zukunft. Und für den Mann, dem damals mein Herz gehörte, war ich auch nicht mehr interessant. Es gab auch niemanden mehr, der mich in irgendeiner Form unterstützt hätte, weder moralisch, tatkräftig noch finanziell. Ich gehörte einfach nicht mehr dazu, zu den Starken und Erfolg-Reichen. Schluss, aus, Micky Mouse! Das Ende vom Lied war, dass mein Kind Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, was mir persönlich den Rest gab und meine kleine Familie für lange Zeit völlig zerstörte. Von diesen Katastrophen umgeben vegetierte ich in ständiger Angst und von Panikattacken geschüttelt dahin. Angst zu sterben, Angst nie wieder gesund zu werden, Angst vor dem Gerichtsvollzieher, der zum ungebetenen Dauergast wurde, Angst, dass mein Kind das alles nicht überlebt, Angst vor Hass, Angst vor dem Leben, Angst vor Gläubigern, Angst vor Rechtsanwälten, Angst Briefe zu öffnen, Angst vor Türläuten und, und, und … Nervlich war ich buchstäblich zu einem Wrack geworden.
Ich konnte vor Kraftlosigkeit, Erschöpfung und Herzschmerzen nicht mehr aufstehen und hütete das Bett. Lediglich um mein Kind zu versorgen, schleppte ich mich lethargisch durch die Wohnung und rührte irgendwelche Nahrungsmittel zu einer Mahlzeit zusammen, wobei ich mich bemühte, so zu tun, als sei alles halbwegs in Ordnung. Was natürlich nicht der Fall war. Ich lag also ständig mit Herzschmerzen, Panikattacken und Depressionen im Bett, und mein Sohn inhalierte vor dem Fernseher Kindersendungen. Allein körperlich waren wir beide zu nichts mehr im Stande. Unser beider, sowohl seelischer, körperlicher, als auch geistiger Zustand war grottenschlecht. Letztlich spiegelte der körperliche Zustand lediglich unser Innenleben wider. Natürlich. Anstatt Liebe, tauschten wir Hass und Aggressionen aus und machten uns somit zusätzlich gegenseitig das sowieso schon kranke Leben zur Hölle.
Vielleicht kann es ein Trost sein zu wissen, dass man nicht alleine betroffen ist; dass es noch mehr Menschen gibt, die von der Erfolgsleiter geplumpst oder aus anderen Gründen in die Armut gefallen sind. Mir persönlich war dieses Wissen insofern ein Trost, weil mir klar wurde, dass dies jedem Menschen passieren kann. Gespräche über das Elend habe ich jedoch möglichst vermieden. Lediglich mit meinem Betreuer sprach ich gelegentlich darüber, was aber aufgrund der niedrigen Besuchsfrequenz entsprechend selten war. Falls sich Menschen im persönlichen Umfeld befinden, die einen ein Stückweit auffangen und Trost spenden können, so ist dies sehr wertvoll. Da ich niemanden dieser Art hatte, hätten mich Gespräche über das allgemeine Hartz-IV-Elend eher noch weiter heruntergezogen. Außerdem besteht immer die Gefahr, dass man im Elend steckenbleibt und leicht andere Menschen für das „Schicksal“ verantwortlich macht. Irgendwie wusste ich jedoch, dass ich diesen Absturz alleine bewältigen muss, ohne dass ich es hätte erklären können.
Allerdings sollte auch niemand vergessen, dass jeder Mensch in eine Situation geraten kann, in der er alles verliert, auch unverschuldet. Jedenfalls dann, wenn wir wieder in der Lage sind sachlich über unsere Situation nachzudenken. Leider funktioniert das nicht sofort und auch nicht so einfach. Manchmal nie! Denn sonst wären wir schon wieder auf dem aufsteigenden Ast, nicht wahr? Mit diesem Abrutschen entstehen neue, möglicherweise nie gekannte Gefühle der Demütigung, des Versagens und der Hoffnungslosigkeit. Vieles davon ist hausgemacht. In der Abwärtsspirale erkennen wir das jedoch in aller Regel nicht. In diesem Abwärtstrend schaffen wir es auch nicht von jetzt auf gleich damit aufzuhören. Diesbezüglich ist niemandem ein Vorwurf zu machen. Ich selbst empfand zudem Desillusionierung, Enttäuschung und nicht zuletzt Resignation darüber, es nicht mehr geschafft zu haben, mich und meine Familie dauerhaft selbst finanzieren zu können, mit allem was es braucht, um ein geordnetes und finanziell stabiles Leben zu führen. Mein Selbstvertrauen war mit einem Wisch weggefegt. Dort, wo einst mein Selbstvertrauen regiert hatte, gab es nur noch einen dicken Klumpen, der Versagen hieß und gleichsam mit meinen Ängsten wuchs. Dieses Gefühl versagt zu haben, verdrängte ich noch lange Zeit, während es längst meine Zukunft kreierte. Und zwar in Form von Angst vor der Zukunft, weil ich mich davor fürchtete wieder zu versagen.
Vorbei war natürlich auch jegliche Art von Luxus, die ich uns vorher gönnen konnte. Einfach in ein Geschäft gehen zu können und einzukaufen ohne lange zu überlegen, ob diese Ausgabe ins Budget passt. Mal wenig Geld zu haben, ist eine Sache, arm zu sein, ist etwas vollkommen anderes.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag, als ich, mittlerweile physisch und psychisch zum Wrack geworden, zum Sozialamt schlich, um finanzielle Unterstützung zu erhalten. Ich schämte mich so sehr, dass ich am liebsten im Erdboden versunken wäre, als ich wie ein Häuflein Elend zusammengesunken, apathisch und heulend vor der Beraterin saß, die mir im Übrigen ausgesprochen freundlich und hilfsbereit begegnete. Ich war nicht in der Lage die Antragsformulare eigenständig auszufüllen. Einfach ausgedrückt: Ich war so kaputt, dass ich einen Betreuer benötigte, der einen Großteil erledigte. Allerdings sollte es noch Monate dauern, ehe ich die erste Zahlung erhielt. Da aufgrund meiner ehemaligen Selbstständigkeit eine Steuererklärung beim zuständigen Amt vorgelegt werden musste, und ich diese erst Monate später vorlegen konnte, verzögerte sich die erste Zahlung entsprechend nach hinten. In jener Zeit lebten mein Kind und ich in einem kleinen Dorf, in dem es keine Einkaufsmöglichkeiten gab, jedenfalls nicht für meinen Geldbeutel. So war ich in meinem kranken Zustand gezwungen, zum Einkauf mehrere Kilometer auf meinem uralten, klapprigen Fahrrad zum nächsten Supermarkt zu eiern oder zu Fuß zu gehen. In jenem Winter gab es eine Menge Schnee und Bahnfahrten konnte ich mir nicht leisten ohne zu riskieren, dass ich nichts Essbares mehr für meine kleine Familie kaufen konnte. In dieser Zeit entwickelte ich ein beständiges Mangelbewusstsein, dass mich noch eine ganze Weile begleiten sollte, nachdem ich bereits die Grundsicherung erhielt. Dieses Mangelbewusstsein ging so weit, dass ich das Gefühl hatte zu verhungern, weil mein Kühlschrank immer leer war und ich natürlich lieber nichts aß, als mein Kind hungern zu lassen. Später dann, als ich im Hartz-IV-Bezug war und genug Nahrungsmittel kaufen konnte, aß ich einfach immer zu viel. So als würde es morgen nichts mehr geben. Heute habe ich auch das erfolgreich gelöst.
Was Mangel und Armut betrifft, so erinnere ich mich in diesem Zusammenhang gut an folgende Begebenheit: Irgendwann nach monatelanger Wartezeit wurde mein Antrag auf Grundsicherung bewilligt. Die erste Zahlung sollte jedoch erst im folgenden Monat erfolgen. Allerdings erhielt ich an jenem Tag unverhofft im Vorhinein ein Monats-Ticket für das regionale Netz von Bus und Bahn. Plötzlich hatte ich 15,00 Euro, die ursprünglich für Nahrungsmittel bestimmt waren, mehr im Portemonnaie, und ich konnte mit der Bahn nach Hause fahren ohne auch nur einen Cent für die Bahnfahrt zu zahlen. Was für ein Luxus! Dieses Ereignis überwältigte mich dermaßen, dass ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und vor Dankbarkeit und Glück weinte, als mir das Ticket überreicht wurde. Schnurstracks steuerte ich zum ersten Mal seit vielen Monaten ein Café an und beschenkte mich selbst mit einer Tasse Kaffee. In den nächsten Monaten sollte ich noch häufig mit dem Zug einfach von A nach B fahren, nur um das Geschenk des Fahrens willen.
Niemals hätte ich den Gang zum Sozialamt unternommen, hätte ich nicht ein Kind gehabt, das es zu versorgen galt. Wir lebten von knapp 300,00 Euro monatlich. Vielleicht denken Sie: „Das ist doch eine Menge Geld!“ Das stimmt auch. Allerdings konnte ich mit diesem Betrag unsere Fixkosten nicht annähernd zahlen. Daher wuchsen auch meine Schulden gleichmäßig weiter. Darlehensraten, die ich nicht bedienen konnte; Miete meiner gewerblichen Immobilie, Strom, Gas, Wasser und so weiter - ohne dass ich, außer für Nahrungsmittel und Schule Geld ausgab. Wie schon erwähnt, konnte ich aufgrund meiner Krankheit nicht mehr arbeiten und war gezwungen, mein Beratungs- und Trainingsgeschäft aufzugeben. Wie bereits berichtet, hatte ich ja auch noch mein krankes Kind. Allerdings kam ich irgendwann nicht mehr umhin, mich zu fragen, warum ich wohl mehrere Zusammenbrüche in einem Jahr erlitt, also so krank wurde, dass ich nicht mehr arbeiten konnte. Um ehrlich zu sein: Ich konnte überhaupt nichts mehr!
Natürlich hörten, nur weil ich mittlerweile alles aufgegeben hatte, sämtliche finanziellen Verpflichtungen...