Beinahe auf falschem Kurs
Meine Mutter, diese überaus tüchtige und praktische Frau, geübt in allen häuslichen Arbeiten, war am Verzweifeln: Ihr Nesthäkchen, das Sonnenschein-Kind von einst, sabotierte erfolgreich jeden Versuch, mit Hausarbeiten vertraut zu werden und sich beibringen zu lassen, dass der Wert einer Frau ganz wesentlich von ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten als Hausfrau abhängt. Ich war ein Mädchen, das lieber las als kochte oder putzte – für meine Mutter ein kummervolles Ärgernis. Im Bemühen, nichts unversucht zu lassen, mir pflegende, häusliche Tugenden beizubringen, verordnete sie mir ein so genanntes Welschlandjahr. Im französisch sprechenden Landesteil der Schweiz sollte ich in einer Familie der Madame des Hauses zur Hand gehen und so Freude an Hausarbeiten entwickeln.
Das Schicksal war mir gnädig. Ich kam in eine Dirigentenfamilie, deren Hausherr das Radioorchester eines französischen Rundfunksenders leitete. Seine Frau war an der Haushaltsführung nur mäßig, dafür sehr an musischen Dingen interessiert. So hatte ich denn die Aufgabe, mit den Kindern zusammen am Radio den Konzerten zu lauschen, die ihr Vater dirigierte. Ich bekam auf diesem Wege eine Einführung in die Werke klassischer Musik. Und was besonders prägend war: Monsieur war überaus angetan von der Dreigroschenoper. Er spielte täglich am Klavier Passagen aus diesem Werk. Dazu sang er den deutschen Text, den ich für ihn ins Französische übersetzen musste, wenn er ihn nicht ganz verstand. Stundenlang stand ich neben dem Klavier und versuchte, Texte zu übersetzen. Nach Ablauf eines Jahres konnte ich weder kochen noch bügeln. Aber ich hatte die Dreigroschenoper auswendig gelernt und sprach perfekt Französisch.
Beglückt mit vielen neuen Eindrücken, kehrte ich nach Hause zurück. Als meine Mutter feststellte, dass meine praktischen Fähigkeiten in keiner Weise gefördert worden waren und ich nach wie vor keinerlei Lust hatte, deren Wert einzusehen und mich einzuüben, war sie nicht nur enttäuscht, sondern zutiefst vergrämt. Unsere einst innige und ganz besondere Beziehung begann allmählich, in einem schmerzlichen Ablösungsprozess zu zerbröseln, und nahm bald feindselige Züge an. Es mag sein, dass meine Mutter auch gekränkt war, dass ich – beeinflusst vom musikalischen und geistigen Klima meiner Gastfamilie in der französischen Schweiz – in einer Welt zu leben begann, die sie zweifellos ebenfalls interessierte, ihr aber auf Grund der Umstände weitgehend verschlossen blieb. Jedenfalls erinnere ich mich noch genau, wie wir in Zeiten heftigster Auseinandersetzungen den Gang zum rettenden Plattenspieler fanden und dem virtuosen Spiel Arthur Rubinsteins lauschten, der uns mit dem 5. Klavierkonzert von Beethoven zu besänftigen verstand. Rückblickend kann ich den Ärger meiner Mutter weiß Gott gut verstehen: Während sie in der Fabrik arbeitete, nebenher den Haushalt führte, kochte, putzte, bügelte usw., verkroch ich mich hinter Büchern und weigerte mich, ihr behilflich zu sein. Irgendwann verzichtete ich sogar auf das Essen am gemeinsamen Mittagstisch, weil ich befürchtete, daraus würden sich automatisch Ansprüche auf Küchenhilfsdienste entwickeln. Zudem fand ich mich – obwohl eher untergewichtig – ohnehin viel zu dick.
Die Ablösung von meiner Mutter brachte eine große Orientierungslosigkeit mit sich, die ich aber nicht als solche wahrnehmen konnte. Meine Mutter hatte für mich ja lange Jahre im Mittelpunkt meines Lebens gestanden, an ihr orientierte ich mich, sie war für mich so etwas wie ein Wertmaßstab, der mir weitgehend die Richtung meines Denkens vorgab. Nun wurde diese Stelle frei und war neu zu besetzen.
Von nun stand das Theater bei mir an erster Stelle. Die Angewohnheit aus jener Zeit der Märchenvorstellungen, ein Stück mehrmals anzuschauen, behielt ich bei. Und so tröpfelten die verschiedensten Themen in mein aufnahmebereites Hirn und formten sich allmählich zu einem wilden Durcheinander von widersprüchlichen Einflüssen und Denkspuren. Der Dreigroschenoper aber hielt ich innerlich ungebrochen die Treue. Thematisch von sozialkritischem Gedankengut fasziniert, begann ich als 16-Jährige, weitere Bücher von Brecht zu lesen sowie die Schriften von Karl Marx, und ich stieg bei den französischen Existenzialisten zu – querbeet las ich mich durch anspruchsvolle Werke. Weil mir die Führung fehlte, überforderte mich die Überfülle zuweilen, und ich konnte einzelne Werke nicht einordnen. Und ich war ganz froh, wenn ich mich ab und zu an einer einigermaßen einfachen und einleuchtenden Formel wie «Zuerst kommt das Fressen und dann die Moral» festklammern konnte.
Als ich mich jedoch den griechischen Tragödien anzunähern begann und in den zerfledderten, vergilbten, im Buchantiquariat für 20 Rappen erworbenen, bräunlichen Reclam-Heftchen die erhabenen Texte las, fühlte ich mich zu Hause: Diese familiären Verstrickungen und all die tiefen Gefühlsabstürze konnte ich bis in die hinterste Seelenritze nachvollziehen! Ich sah meine persönlichen Erlebnisse in meiner Familie zu einer literarischen Kunstform erhoben. Nein, das alles hatte nichts mit Bildungshunger zu tun, sondern viel mehr mit dem dringenden Wunsch, die eigenen seelischen Konflikte besser einzuordnen und damit klarzukommen.
Zeitgleich mit dieser Entwicklung gab es noch eine weitere folgenreiche Veränderung. Als Kind ging ich jeden Sonntag in die Kirche und zur Kommunion, ich beichtete regelmäßig, sprach jeden Abend konventionelle Gebete, eilte unentwegt in die Mai-Andachten. In der Vorweihnachtszeit besuchte ich auch außerhalb der Gottesdienstzeiten die Kirche, um kniend darum zu bitten, dass wenigstens der Heilige Abend friedlich verlaufen und meine Eltern sich nicht streiten würden. Zwar wurde diese Bitte nie erfüllt, aber das nahm ich dem lieben Gott nicht übel – der hatte wohl Wichtigeres zu tun und konnte sich nicht auch noch mit meiner kleinen Welt befassen. Ich pflegte eine völlig unverkrampfte Beziehung zur Religion, sie gab mir Halt und war mir eine zuverlässige Begleiterin durch die Wirrnisse unverständlicher familiärer Verstrickungen. Dadurch, dass mein Vater deutscher und meine Mutter schweizerischer Herkunft war, hatte ich auch das Gefühl, je nach Gefühlslage zwischen zwei sehr unterschiedlichen Gottheiten wählen zu können. Bei dem deutschen lieben Gott konnte man die Dinge unverblümt beim Namen nennen, so, wie ich es eben laufend bei meinem Vater beobachtete. Er diskutierte laut und kraftvoll alles, was ihm irgendwie nicht in den Kram passte, sehr beliebt waren politische Dialoge, bei denen er immer wieder mal feuerwerkähnliche Fluchsalven in die Luft schoss. Klar, das gefiel mir. Mit dem schweizerischen lieben Gott musste man vorsichtiger sein, das war die subtile Welt meiner Mutter. Ich stellte mir immer einen etwas depressiven Wilhelm Tell vor, der zwar äußerlich ganz stabil wirkte, aber doch sehr leicht zu kränken war. Dieses Gefühl war mir von meinem schweizerischen Großvater sehr vertraut, da musste ich jedes Wort abwägen, um nicht danebenzutreten, wie damals, als ich ihm zur Begrüßung das für mich übliche Wort «hoi» zuwarf und er konterte: Man sagt nicht «hoi», sondern «grüezi». Neulich befand ich mich aus Anlass eines Konzertes wieder einmal in jener Kirche, in der ich meine halbe Kindheit verbracht hatte: Ich betrachtete die Gemälde, den Raum und hatte das verrückte Gefühl, jeden Farbton und jede Rundung genau zu kennen. Beeindruckt hatte mich als Kind auch immer die feierliche Liturgie der katholischen Messe. Während eines meiner Ausflüge ins Antiquariat auf der Suche nach Reclam-Heftchen fand ich einmal ein kleines Messbuch, dessen Texte in Stenografie festgehalten worden waren. Ich umkleidete das kleine Buch mit purpurroter Seide, lernte Stenografie und las immer wieder die Passagen der katholischen Liturgie. Ich schuf mir so meine eigene Welt, ein Refugium, in dem ich ungestört meinen Gedanken nachhängen konnte. Unbewusst versuchte ich, mich zu beheimaten und Tritt zu fassen in meiner Welt, in der so vieles verworren und unübersichtlich war und in der es so unendlich viele, schwer verständliche Probleme gab. Und ganz nebenbei übte ich die Schnellschrift, die mir bis zu meinem heutigen Tag geläufig geblieben ist und die ich immer verwende, wenn es eilt.
Mein kindliches Bedürfnis nach Religiosität hatte auch mit dem tief verankerten Wunsch zu tun, möglichst «gerade» zu wachsen – also nicht verkrümmt durch Unredlichkeit. Schon früh unterzog ich deshalb meine Gedanken einer präzisen Kontrolle. Dachte ich schlecht über einen Menschen, schien es mir wichtig, dies mit meiner Mutter zu bereden und den unguten Gedanken aus meinem Herzen und meiner Seele zu entfernen. Ich hatte ein tiefes Verlangen nach «Gut-Sein», nach Wahrhaftigkeit – nicht im Sinne eines von der Religion verordneten Auftrages, sondern aus dem Gefühl heraus, mit mir im Reinen sein zu wollen. Damals stellte ich mir vor, die Seele sei ein schmetterlingartiges Gebilde mit hauchzarten, wunderschön gezeichneten Flügeln. Bei schlechten Gedanken würden sich dunkle Knoten darauf bilden, und die wollte ich eben einfach noch vor dem...