3WIE VERTEIDIGE ICH MEINE GRENZEN?
3.1Wie stelle ich das Einhalten meiner Grenzen sicher?
Viele wichtige Lösungsansätze sind bereits in den bisherigen theoretischen Ausführungen, den vielfältigen Verhaltensweisen bei der Grenzen-Übung und den erzählten Geschichten angesprochen worden. Hier weitere Empfehlungen:
Probieren Sie die Grenzen-Übung selbst aus
Ich kann Ihnen das nur empfehlen. Laden Sie Ihren Ehepartner, Ihren Lebensgefährten, einen Freund ein, diese Übung miteinander zu probieren. Sie werden erleben, was es für einen Unterschied macht, über diese Übung zu lesen oder sie ausprobiert zu haben. Sie werden enorme Erkenntnisse über Ihr Verhalten gewinnen. Nicht nur das: Wenn Sie diese Übung z. B. mit Ihrem Ehepartner durchführen, wird sie nicht bloß ein Ausprobieren sein. Sie werden ihre konkreten gemeinsamen Revier- und Grenzthemen zum Thema machen. Diese Übung wird für Sie zur hilfreichen Brücke, Ihr Miteinander neu anzugehen.
Grenzverletzungen durch ein „Aua!“ signalisieren
Die eine Seite erfolgreicher Grenzverteidigung ist, Grenzverletzungen überhaupt wahrzunehmen, die andere, den für mich damit verbundenen Ärger oder Schmerz auch zu zeigen. Grenzverletzung hat mit Verletzung zu tun. Wenn ich das Ausmaß der Verletzung anderen nicht signalisiere, ist diesen nicht bewusst, wie sehr sie mich verletzt haben.
Wie kann ich das in der Praxis umsetzen?
Besser ist es, die Verletzung in der ICH-Form zu äußern und nicht in einem beschuldigenden DU:
„Ich bin verärgert über …“
„Mich stört, dass …“
„Ich bin echt sauer, weil …“
Grenzen durch klare Signale sichtbar machen
Ich kann selbst dafür sorgen, dass meine Grenzen nicht so schnell überlaufen werden, indem ich Stoppsignale aufstelle, die meine Reviere andeuten.
Tipps für das Büro:
Schließen Sie die Tür, wenn Sie nicht gestört werden wollen.
Legen Sie fixe Besprechungszeiten fest.
Legen Sie Regelungen für telefonische Kontakte/Störungen fest.
Hängen Sie ein Schild an die Tür: „Bitte nicht stören!“
Stellen Sie sichtbare Signale der Abgrenzung zwischen Arbeitsrevieren auf, z. B. zwischen Schreibtischen: Grünpflanzen, Blumen, Behälter für Schreibmaterialien, Ablageboxen, Bilderständer, Stellwände (Paravents) u. a. m.
Rücken an Rücken
Eine Bekannte erzählte kürzlich von einer Begebenheit mit ihrem Arbeitskollegen. Die Schreibtische sind in diesem Unternehmen so angeordnet, dass die Mitarbeiter Rücken an Rücken sitzen, was ohnehin nicht sehr angenehm ist. Jedes Mal wenn ihr Kollege etwas von ihr brauchte oder ihr etwas gab, rollte er mit seinem Bürosessel zurück und drang so in ihr Revier ein. Inzwischen siedelten einige Mitarbeiter aus den Nebenbüros um und eine ganze Menge Mobiliar blieb dort übrig. Nach einem kleinen Rundgang in diesen Büros fand sie eine einfache Lösung des Problems. Ein kleines Kästchen wurde in die Mitte gestellt und damit eine sichtbare Markierung angebracht. Ein Eindringen in ihr Revier war jetzt nicht mehr möglich.
Möglichkeiten, den Grenzübertritt zu erschweren
Sperren Sie Ihr Revier ab: Büro, Zimmer, Kasten oder ein wichtiges Schreibtischelement.
Entscheiden Sie, wer einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung haben und wer sie wann betreten darf, wenn Sie nicht anwesend sind. Wechseln Sie gegebenenfalls das Türschloss aus, damit bestimmte Personen nicht mehr ohne Ihr Wissen, Beisein oder Ihre Erlaubnis Zutritt haben.
Bringen Sie Sicherheitseinrichtungen wie Türwächter, Schlösser oder eine Alarmanlage an, wo ein höherer Schutz ratsam oder sinnvoll ist.
Sichern Sie Ihren PC oder Ihr Sparbuch mit einem geeigneten Codenamen bzw. Lösungswort. Es hat sich bewährt, einen Code zu verwenden, der Buchstaben und Zahlen beinhaltet. Zudem sollte er weder mit Ihrem Vor- oder Nachnamen noch mit der Firma bzw. Institution, in der Sie arbeiten, in Verbindung zu bringen sein.
Für Männer oder Frauen, die sich bei der Verteidigung auf körperlicher oder sprachlicher Ebene schwer tun, kann ein Selbstverteidigungskurs oder ein Rhetorikseminar hilfreich sein. Gerade das innere Bewusstsein, sich gegebenenfalls auch mit stärkeren Waffen verteidigen zu können, ist ein entscheidender Faktor dafür, seine Grenzen erfolgreich zu verteidigen.
Grenzen auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene verteidigen zu lernen wirkt wie eine medizinische Gesundheitsvorsorge: Ich bin gerüstet für allfällige Angriffe von außen. Ich erkenne sie rechtzeitig und kann Eindringlinge erfolgreich abwehren.
Hilfe holen
Es kann immer wieder vorkommen, dass ich mit einer übernommenen Aufgabe, einer Situation oder in einem Konflikt an meine Grenzen stoße.
Sich dann Hilfe zu holen ist keine Schande!
Vielleicht leiden Sie unter der Situation, dass Ihr Nachbar ständig zu laut ist. Das Gespräch mit ihm und der Hausverwaltung hat nichts gebracht. Wenden Sie sich an die Gendarmerie bzw. Polizei.
In der Arbeitswelt kann es notwendig sein, dass Sie sich beim Betriebsrat, Ihrer Innung oder Kammer Rat und Schützenhilfe holen, um Ihre Interessen zu verteidigen.
Kümmern Sie sich um rechtlichen Beistand im Klage- oder Schadensfall.
Suchen Sie Rat und Hilfe bei Gewalt oder entsprechenden Androhungen. Es gibt viele Einrichtungen und Notrufdienste des Landes oder gemeinnütziger Vereine, die helfen, wirksam eingreifen oder Sie vor weiterer Bedrohung schützen können.
Ich habe Angst, eine Grenze zu setzen
Ängste hindern Menschen daran, Grenzen zu setzen.
Die Hauptangst ist, mit der Verteidigung der eigenen Grenze die Liebe, Zuwendung oder das Vertrauen von Personen zu verlieren.
Mutter zum Kind: „Wenn du die Suppe nicht isst, mag ich dich nicht mehr.“
Oma zum Enkel: „Wenn du mir kein Busserl gibst, bin ich schon sehr traurig.“
Gegenüber Kollegen im Betrieb:
Wenn ich zu etwas NEIN sage, mache ich mich unbeliebt, gelte als Spielverderber und bin nicht mehr der nette Kollege.
Des Weiteren ist es die Angst, verletzt zu werden bzw. jemanden zu verletzen (Angst vor dem daraus resultierenden Schmerz bei mir oder beim anderen). Diese Angst hindert uns oft daran, Kritik zu äußern.
Die Angst vor Aggressionen anderer Personen – vom Wutausbruch bis zur körperlichen Gewalt. Ich lasse Grenzverletzungen an mir zu, damit diese Aggression ausbleibt oder sich nicht verschlimmert.
Manchmal ist es auch die Angst vor dem eigenen ungelebten Aggressionspotenzial: die Befürchtung, außer Kontrolle zu geraten, wenn ich mich zur Wehr setze.
Oder ich habe Angst vor der Vergeltung, wenn ich zu etwas NEIN sage. Ich befürchte, beim nächsten Mal kein Entgegenkommen vom Nachbarn oder von der Kollegin erwarten zu können, wenn ich einmal etwas brauche.
Wenn ich mich gegenüber dem Chef abgrenze und ich ihm so manchen „Gefallen“ verweigere, entzieht er mir vielleicht sein Vertrauen und bindet mich nicht mehr in innerbetriebliche Vorgänge ein. Unter Umständen rückt durch ein NEIN meine Beförderung in weite Ferne oder mein Chef gibt mir zusehends unangenehme Arbeiten. Im Extremfall befinde ich mich auf der „Abschussliste“ weiter oben, wenn es um Kündigungen geht.
Manche Angst mag begründet sein. Angst ist auch manchmal ein guter Schutz vor unüberlegtem Verhalten oder zu großem Risiko. Andererseits zeigt die Erfahrung, dass die vermuteten Reaktionen auf mitgeteilte Grenzen oder NEINs selten mit den tatsächlichen Reaktionen der anderen übereinstimmen. Oft schaffen gerade klare Grenzen mehr Zufriedenheit auf beiden Seiten, denn sie beenden das Spiel scheinbarer Harmonie. Die Chance zu echter Kooperation zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter beginnt dort, wo Grenzen von beiden Seiten zuerst klar sind und dann respektiert werden. Auf dieser Basis kann verhandelt und eine Lösung gefunden werden.
Oft ist nicht die mitgeteilte Grenze oder das NEIN das Problem. Wichtig ist ein Gespür für die Situation, für die Art und Weise, eine Grenze zu setzen. Es gilt, Grenzen liebevoll zu setzen, d. h. ich respektiere das Revier und die Interessen meines Gesprächspartners. Das kann auch der Vorgesetzte sein. Zugleich respektiere ich auch mein Revier, meine Grenzen und...