Unser Mann in Rose Hill
Seit zwei Tagen wütet er schon, der Novembersturm über Österreich, reißt die Dächer von den Häusern, entwurzelt Bäume, stürzt Lastwagen um. Einen Toten hat es bereits gegeben, draußen auf der Südautobahn ist sein Truck samt Anhänger über die Leitplanken geweht worden.
Fünf Uhr früh ist es jetzt in Wien, finstere, frostige fünf Uhr früh. Wir jausnen. Über unseren Köpfen breitet ein gewaltiger Mangobaum seine schwer behangenen Äste aus, spendet Schatten vor der ersten Glut des Tages. Um sieben, vor einer knappen Stunde also, sind wir auf Mauritius gelandet.
Unser Mann hat uns vom südöstlich gelegenen Flughafen abgeholt und uns mit seinem Pick-up quer durchs Land chauffiert; jetzt sitzen wir auf der Terrasse seines Hauses im nordwestlichen Rose Hill und genießen die Spezialitäten, die wir ihm aus dem guten alten Europa mitgebracht haben: deftiges steirisches Schwarzbrot mit Grammelschmalz und einer Prise ungarischen Paprikas, dazu ein Stamperl Waldviertler Mohnkornbrand, der seinesgleichen sucht. Diese Dinge, sagt Jens, sind es, die er gleich nach seiner Familie am meisten vermisst. Das Wetter mit Abstand am wenigsten.
Jens Kleefers ist in Belgisch-Kongo geboren, aber im Burgenland aufgewachsen; er hat nach ausgedehnten Reisen durch den Nahen Osten und durch Afrika seine mauritische Frau Marie-Lourdes kennengelernt und ist nach einer weiteren, in Gambia verbrachten Zeit endgültig in Mauritius sesshaft geworden. Zwölf Jahre ist das nun her. Jens öffnet eine der großen Tafeln Schweizer Schokolade, bricht sie behutsam auseinander, teilt ein, rationiert, schiebt sich endlich eine Ecke in den Mund, schließt genießerisch die Augen. Zwei Meter über seinem Kopf kriecht ein rötlich-grün schillernder Gecko aus einer Ritze in der Wand und wartet auf unachtsame Insekten.
Mauritius also.
Der gewöhnliche europäische Binnenlandmensch weiß nicht sehr viel über dieses Land; seine Kenntnis beschränkt sich zumeist auf einige wenige Eckdaten. Dass es eine Insel ist zum Beispiel. Dass sie weit unten im Süden liegt, wo der Weihnachtsmann vergeblich nach Kaminen sucht. Dass es auch eine blaue gibt, eine Briefmarke nämlich, die zum weltweiten Inbegriff philatelistischer Begehrlichkeit geworden ist …
Julia und ich glauben schon ein bisschen mehr zu wissen, was nicht nur daher rührt, dass wir uns die betreffende Fachliteratur zu Gemüte geführt haben: In erster Linie stützt sich unsere Einschätzung auf die Berichte meines Bruders Tomas, der schon dreimal hier gewesen ist. Besonders die Sonne und die Küche von Mauritius haben ihn jedes Mal sichtlich gezeichnet, und er hat im Gegenzug seine Spuren auf der Insel hinterlassen: Nicht lange nach unserer Ankunft begegnen wir in einer Seitengasse des Badeortes Flic en Flac einem kreolischen Ehepaar, das uns entgeistert aufhorchen lässt. »Hans-Franz, wüüüst an Kaffee?«, hören wir die Frau in breitestem Wienerisch zu ihrem Mann sagen. »Geh schajßen, Oide!«, entgegnet er freundlich, bevor sie beide in schallendes Gelächter ausbrechen. Die zwei heißen Jean-François und Valérie; sie haben meinen Bruder vor mehreren Jahren kennengelernt, ins Herz geschlossen und ihm – im Tausch gegen ein paar Brocken Wienerisch – das eine oder andere kreolische Wort beigebracht.
Natürlich habe ich meine Vorstellungen von dem, was uns in diesem Land erwartet. Fantasien, die auf keinen Büchern oder Erzählungen beruhen, sondern schon eher der Kategorie »Schwärmerei und Inselromantik« zuzurechnen sind. Was ist es denn schließlich, das einen in die Fremde treibt? Was bringt den westlichen Wohlstandsbürger dazu, Jahr für Jahr sein komfortables Bett, seinen zum Bersten gefüllten Kühlschrank und seinen in mühevollen Stunden programmierten Fernsehapparat zurückzulassen, den sicheren Hort seines blank gescheuerten Fließwasserthrons gegen schmutzverkrustete, stinkende Strandkloaken einzutauschen? Ist es eine Art Entdeckerdrang? Wohl kaum. Denn was, bitte schön, soll man noch groß entdecken an Gegenden, die Jahr für Jahr von abertausenden leichenblassen Touristenbeinen platt getrampelt werden? Vor allem: Welche Neuigkeiten werden sich dem Globetrotter wohl auf seinen täglichen Wegen zwischen Leintuch und Badetuch offenbaren? Die Antwort ist so nahe liegend wie ernüchternd: Der heutige Mensch fährt nicht so sehr weg, um sich einem Ziel zu nähern, als vielmehr, um sich von daheim zu entfernen. Je weiter weg, desto besser, denn: Sein Leben geht ihm auf die Nerven. Es entbehrt der Stille, der Einfachheit, Klarheit und Schönheit, der Kontemplation. Mit jeder Reise versucht er zugleich den Beweis dafür anzutreten, dass sein gewohnter, von Hektik und Lärm durchpulster Lebensstil für sein Glück gar nicht notwendig ist. So reduziert sich sein Wandertrieb meistens darauf, einem Traum nachzujagen, dem Traum vom entspannten Vergessen, der schlichten Hoffnung auf das Paradies. Wird diese Hoffnung in der kurzen Frist seines Urlaubs auch nur ansatzweise erfüllt, dann war es eine gute Reise und er kehrt erfrischt in sein altes, ungeliebtes Leben zurück, um es da fortzusetzen, wo er drei Wochen zuvor die Pausetaste gedrückt hat. Der augenzwinkernde Gedanke an eine Zäsur, an ein dauerhaftes Abschalten, Umkrempeln und Aussteigen bleibt fast immer nur Koketterie.
Der aufgeschlossene Reisende sieht seinem Ziel ins Angesicht, um es abzuschätzen, einzuschätzen und um damit auch sich selbst ein Stück besser kennenzulernen. Nicht mehr und nicht weniger. Schließlich lässt sich ein Land in so vielfältiger Hinsicht wahrnehmen wie ein Mensch: Man kann es vermessen, abklopfen, prüfen, tranchieren, sezieren und analysieren, man kann es betrachten, belauschen, berühren, kneten, streicheln und lecken. Man kann daran riechen. Die Möglichkeiten der topografischen Beschreibung der Welt sind so facettenreich wie die der anatomischen ihrer Bewohner, und so wie es Tonnen von medizinischer Literatur über Psyche und Körper des Menschen bis hin zu den kleinsten Wurmfortsätzen gibt, so haben Geologen, Meteorologen, Biologen, Ökologen, Archäologen, Soziologen und Ethnologen das Ihre mit der großen weiten Welt getan.
Hat man nun aber das Wesen eines Menschen begriffen, sobald man seine Blutgruppe kennt? Seine Haarfarbe? Oder die Zahl seiner Darmwindungen? Mit Sicherheit nicht. Seine Persönlichkeit offenbart sich weit eher in kleinen Gesten und Eigenheiten, in der Art beispielsweise, wie er abends seine Socken über den Stuhl hängt, wie er an einem frostigen Tag aus dem Fenster blickt oder wie er ein Stück Zucker in seinen Kaffee rührt.
Die Insel Mauritius ist so eine Persönlichkeit. Und eine unendlich vielschichtige noch dazu. Ihr tieferes Wesen ist so komplex, dass es den Feriengästen für gewöhnlich vollkommen verborgen bleibt. Die begnügen sich mit beschaulichen Tagen am Strand oder Pool, gießen sich den einen oder anderen Cocktail hinter die Binde und genießen die vom Hotelkoch bis zur Unkenntlichkeit entschärfte, gleichwohl als »mauritisch« bezeichnete Küche. Vielleicht drehen sie auch hin und wieder eine Runde auf dem Golfplatz, oder sie lassen sich in Kleinbussen zu den Sehenswürdigkeiten des Landes chauffieren, um nach ihrer Heimkehr nicht als kulturscheue Banausen zu gelten. Sie geben sich insgesamt einer Art der Urlaubsbelustigung hin, die nicht nur angenehm, sondern auch legitim ist: Schließlich bietet Mauritius die idealen Voraussetzungen für entspannte und üppige, ja luxuriöse Ferien. Jegliche Form des Massentourismus (wie Charterflüge, Pauschal- oder Gruppenangebote) wurde bislang von der Insel ferngehalten, was sich natürlich in der Qualität (und im Preis) des touristischen Angebotes niederschlägt. Sich also mit dem selektiven Bildausschnitt der Reiseindustrie zu begnügen, ist durchaus schön und gut, nur: Das Land und seine Leute lernt man auf diese Art nicht kennen.
Zugegeben: Es fällt uns verhältnismäßig leicht, Mauritius ins Angesicht zu sehen, steht uns doch jemand zur Seite, der uns beharrlich die Augen öffnet. Unser Mann in Rose Hill nämlich und seine Frau, deren Wurzeln untrennbar mit denen der Insel verflochten sind.
Statt uns in eine der strandnahen, prachtvollen Touristenenklaven zu begeben, haben Julia und ich – schon aus finanziellen Gründen – die warmherzige Gastfreundschaft von Jens und Marie-Lourdes in Anspruch genommen. Das hieß nicht nur, dass unser tägliches Leben näher am Puls der Insel verlief, sondern auch, dass wir Zugang zu einer Fülle von – gleichsam internen – Informationen hatten, ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre.
Es ist also ein Gemeinschaftsprodukt von Jens und mir, und die Idee, die ihm zugrunde liegt, spiegelt zugleich unsere Arbeitsmethode wider: Der Weise kann zwar die Antworten geben, aber der Narr muss zuerst die Fragen stellen. Und im Fragen ist der Narr der Meister, weil sein Blick noch...