Radikal spannend – zwischen Herkunft und Zukunft
Karlheinz Ruhstorfer
I.
„Insofern könnte man in einem höchsten Maße christlichen Glauben als eine Philosophie der Freiheit bezeichnen. Für ihn bedeutet nicht ein allumfassendes Bewußtsein oder eine einzige Materialität die Erklärung des Wirklichen insgesamt; an der Spitze steht vielmehr eine Freiheit, die denkt und denkende Freiheiten schafft und so die Freiheit zur Strukturform allen Seins werden läßt.“1
II.
Das Memorandum „Kirche 2011. Ein notwendiger Aufbruch“ brachte eine neue Offenheit in den kirchenpolitischen Diskurs der Gegenwart. Dabei haben die Spannungen innerhalb der Kirche und innerhalb der Theologenschaft durch das Memorandum zunächst deutlich zugenommen, denn das Memorandum hat polarisiert: auf der einen Seite die Autoren und Unterzeichner und auch Befürworter, die aus verschiedenen Gründen nicht unterschrieben; in der Mitte die Skeptiker, die sich teilweise mit dem Memorandum solidarisierten und die teilweise Kritik übten; auf der anderen Seite die Gegner, von denen manche wohlwollend und kritisch den Text analysierten und von denen andere mit schroffer Ablehnung gegen ihn polemisierten. Dabei irritierte vor allem die Tatsache, dass den Unterzeichnenden von einzelnen Gegnern die ‚Kirchlichkeit‘ abgesprochen wurde. Die deutschsprachigen Bischöfe reagierten erst zurückhaltend, dann eher vorsichtig ablehnend. Doch ist daran zu erinnern, dass das Memorandum auch durch die bischöfliche Aufforderung zum innerkirchlichen Dialog hervorgerufen wurde. Denn genau dieser Dialog ist der Weg, auf dem die aktuellen Spannungen ins Produktive gewendet werden können. Bischof Scheuer von Innsbruck formuliert: „Es gilt in dieser Situation, die Mitte der Kirche zu stärken. Diese Mitte ist heute kein angenehmer Ort. Es ist der Ort inmitten der Spannungen von entgegengesetzten Kräften. In dieser Mitte ist Christus. Er öffnet seine Arme nach beiden Seiten hin und will alle an sich ziehen. Mit Christus als Mitte können wir Spannungen in unserer Kirche aushalten und weitgehend überwinden“.2
Meine erste Reaktion auf das Memorandum war die Sorge, dass bestehende Gräben eher vertieft als überwunden werden könnten. Und ich gestehe, auch mich hat das Memorandum auf den ersten Blick nicht vollends überzeugt. Zunächst schien es mir ungeschickt, eine derart umfassende Kritik der bestehenden Verhältnisse mit einem Missbrauchsskandal einzuleiten. Sodann ist die Gedankenführung der sechs Handlungsfelder zwar behutsam, aber doch auch nicht unbedingt originell oder gar durchschlagend. Und schließlich: Warum hat das Memorandum nicht auch die weit verbreitete Auflösung des Christentums ins Diffuse und die Verkündigung von „Beliebigkeitspropheten“ (Ulrich Lüke) als Ursachen der Krise zumindest erwähnt? Die besondere Radikalität des Christlichen scheint oft in Vergessenheit geraten zu sein – gleichermaßen vergessen von manch ‚progressiven‘ und manch ‚konservativen‘ Kräften. Während sich die einen oft wurzellos in oberflächlicher Heutigkeit tummeln, versuchen die anderen, Strukturen zu konservieren, die nicht zur Wurzel des Christlichen gehören. Doch genau die Wurzel des Christlichen wird im Memorandum durchaus treffend und zentral angesprochen, wenn der Zweck der Kirche als der ‚Auftrag, den befreienden und liebenden Gott Jesu Christi allen Menschen zu verkünden‘, bezeichnet wird – deshalb habe ich meine Bedenken zurückgestellt und die Denkschrift unterzeichnet. Es kommt in der Tat darauf an, die ‚Freiheitsbotschaft des Evangeliums‘, die mit den Synoptikern gesprochen nichts anderes sein kann als die Botschaft vom Anbruch des Gottesreichs, mit Paulus gesprochen das Wort vom Kreuz und mit Johannes die Menschwerdung Gottes, klar und deutlich zur Sprache zu bringen. Eben diese Wurzel oder Mitte des Christentums wird sowohl durch theologische und spirituelle Diffusion als auch durch die im Memorandum präzise erwähnten Problemlagen verdunkelt. Nur durch eine radikale Besinnung auf diese Wurzel können auf Dauer unnötige Konflikte mit unserer Zeit abgebaut, falsche Harmonien mit dem Zeitgeist aufgedeckt und überkommene Erscheinungsformen des Christlichen abgelegt werden.
Den Unterzeichnern des Memorandums wurde immer wieder das Beispiel der Reformatorischen Kirchen vorgehalten, in denen viele der ‚Handlungsfelder‘ bereits weitgehend abgearbeitet wurden und die dennoch von einem vergleichbaren Schwund an Gläubigen bedroht sind. Doch wenn es den Protestanten und Anglikanern noch nicht gelungen ist, jene Spannung zwischen ihrer Verwurzelung in Jesus Christus, ihrer geschichtlich gewachsenen Tradition und unserer Zeit so zu gestalten, dass das Wort Gottes heute in seiner radikalen Kraft verkündet werden kann, dann liegt dies im Wesentlichen nicht daran, dass sie sich zu sehr auf die Gegenwart eingelassen haben, sondern daran, dass sie zu wenig radikal gegenwärtig sind. Auch die reformatorischen Kirchen hinken noch zu oft der gesellschaftlichen, kulturellen und denkerischen Dynamik hinterher. Gewiss gibt es auch Formen des Christlichen – in allen Konfessionen –, die nur noch schwach mit ihrer Wurzel verbunden sind. Es gibt bedauerlicherweise nicht selten Predigten, Religionsunterricht und wissenschaftliche Theologien, die dem Salz gleichen, das seinen Geschmack verloren hat, wenn etwa nicht mehr vom Anbruch des Gottesreichs, von der Menschwerdung Gottes und von Tod und Auferstehung Christi, vom Leben des dreieinen Gottes in einer Weise die Rede ist, die die Wirklichkeit verändert. Doch ist eine geschmacklose Verkündigung nicht mit dem Versuch zu verwechseln, den Menschen im Heute das Evangelium zu verkünden bzw. das Evangelium so zu leben, dass es mit der eigenen geschichtlichen Wirklichkeit in spannender Zeitgenossenschaft stehen kann. Den Theologen, die das Memorandum unterzeichnet haben, geht es – soweit ich sehen kann – darum, aus Liebe zur Katholischen Kirche diese Kirche und keine andere mit der heutigen Zeit zu versöhnen – nicht in billiger Anpassung, sondern in kritischem ‚Aggiornamento‘, wie das II. Vatikanum gefordert hat. Trotz aller berechtigten Kritik am Text des Memorandums ist festzustellen: Dieser Text ist ein Aufschrei, der die fast unerträglich gewordenen Spannungen innerhalb der Katholischen Kirche sinnfällig gemacht hat. Woher kommen diese Spannungen?
III.
Die Katholische Kirche weiß sich in besonderer Weise spätantiken und mittelalterlichen Formen des Denkens und Lebens verbunden. In mancherlei Hinsicht führt sie Aspekte und Strukturen des alten römischen Reichs in verwandelter Form weiter: den universalen Anspruch und die römische Zentralmacht mit einem Machthaber an der Spitze, das römische Klientelwesen und das entsprechende Patronatssystem, die liturgische Tracht und die Einteilung in Diözesen, um nur einige Punkte zu benennen. Doch ist auch die Rolle der griechischen und lateinischen Kirchenväter zu erinnern. Unter ihnen ragt Augustinus von Hippo (354 – 430 n. Chr.) hervor. Man kann nicht bezweifeln, dass die Kirchen des Westens auf seinen Schultern stehen. Jedem heutigen Glaubenden seien die Bekenntnisse, das Handbüchlein über Glaube, Hoffnung und Liebe oder die Schrift über die christliche Lehre zur Lektüre empfohlen. Eine Frucht des frühen Christentums ist auch das kulturtragende Wirken des Mönchtums. Seit den Tagen Augustinus’ bis heute gelten die Mönche und Nonnen in ihrer zurückgezogenen Lebensweise als konsequente Zeugen Jesu.
Auch das Mittelalter lebt im Katholizismus fort. An erster Stelle ist die scholastische Theologie zu erwähnen. Gleich den großen Kathedralen der Gotik finden sich hier die geistigen Bauwerke der glaubenden Vernunft. Viel zu wenig wird im heutigen theologischen Betrieb – wie schon Karl Rahner monierte – das Werk des Thomas von Aquin (1225 – 1274) berücksichtigt. Durchaus auch die Bettelorden des Mittelalters, die Franziskaner und Dominikaner dürfen erwähnt werden; sie lebten (und leben) die Nachfolge Jesu in besonderer Radikalität, und ihr geistliches Wirken in den Städten gab der Entwicklung des Abendlands kaum zu überschätzende Impulse. Doch übernahm die Kirche im Mittelalter auch eine hierarchische Ständestruktur, die sie bis heute bewahrt hat. Analog zur weltlichen Hierarchie der Kaiser, Fürsten, Ritter, Bauern bildete sich die geistliche Hierarchie von Papst, Bischöfen, Priestern und Laien heraus. Bereits 1952 (!) monierte Hans Urs von Balthasar bezogen auf die Struktur der Kirche: „Im Mittelalter schien sie sich in beabsichtigter Mimikry ganz dem weltlichen Ständesystem anzugleichen (so dass man von kirchlichen Ständen zu reden begann), das Petrinisch-Hierarchische spiegelte im geistigen Bereich die konstantinisch-karolingische Hierarchie ab.“ Doch während die Katholische Kirche im Mittelalter auch in dieser Adaption selbst das Movens der europäischen Geistesgeschichte und damit durchaus auch der Weltgeschichte war, verliert sie in der Neuzeit diese progressive Funktion. Es ist zu beachten: Die Leistung eines Augustinus oder Thomas von Aquin bestand gerade darin, das Wissen ihrer Zeit umfassend zu durchdringen und auf die Wurzel des Christentums, Jesus von Nazaret, zu beziehen.
Seit dem Anbruch der Neuzeit allerdings vermag die Katholische Kirche die Dynamik der Geschichte nicht mehr voll und ganz in sich zu integrieren. So wird die Neuzeit stark von den Impulsen der Reformatorischen Kirchen geprägt, die sich auf der Höhe der Zeit befanden. Absolute Freiheit, Aufklärung der Vernunft, universale Menschenrechte und...