Bedürfnis nach Kontrolle
Vor-Sorge
Die Erfahrung, dass man öfter als früher die Kontrolle über den Körper, über die Alltagsbewältigung zu verlieren droht oder gar verliert, ruft nach Kontrolle. Eine besondere Form der Kontrolle im Alter und für das Alter ist die Vorsorge. Alte Menschen können sagen, sie hätten vorgesorgt, und jetzt sei es genug. So, wie der Winter kommt und man sich darauf einstellt und Vorräte an Heizmaterial anlegt, weiß man, kommt auch das Alter, und man kann sich nicht mehr auf alles so einstellen wie zuvor. Bei einigem kann man zwar auch vorsorgen: hinreichend Geld, um über die Runden zu kommen, eine geklärte Wohnsituation, eine Idee, wie man leben möchte, wenn man viel Hilfe braucht. Für existentielle Erfahrungen vorzusorgen, ist schwieriger: Natürlich wissen alle Menschen, dass im höheren Alter Freunde und Partnerinnen sterben werden, wichtige Bindungen, die Geborgenheit geben, verloren gegeben werden müssen – aber da kann man nicht wirklich vorsorgen. Es ist vielleicht möglich dafür zu sorgen, dass es noch Menschen gibt im Beziehungsnetz, die jünger sind. Aber auch das kann einen nicht vor Verlust schützen.
Eigentlich kann man gegen das Schicksal nicht vorsorgen. Aber möglich ist das Sammeln von guten Erfahrungen, von Freuden, die man erlebt hat, das Sammeln von psychischen Schätzen – für die härteren Tage. Aber auch die Vorsorge hat ein doppeltes Gesicht: Das Vorsorgen, die Sorge im Voraus, der Blick auf die härteren Zeiten sind sinnvoll, damit man sich dann nicht mehr zu sorgen braucht, wenn man es nicht mehr kann. Der besorgte Blick auf die Zukunft – Wie lange noch? – bedeutet aber auch: Jede kleine Schwäche, die man früher unter Stress abgebucht hätte, wird als Vorbote einer Zeit gesehen, in der immer weniger geht. Wie lange geht das noch gut? Wie lange kann das noch gutgehen? Kann ich das in einem Jahr noch? Und vor allem: Was kann ich tun, damit es noch möglichst lang gut geht? Keine Vorsorge ist das, sondern eine handfeste Sorge! Natürlich kommt einmal die Zeit, in der vieles nicht mehr gehen wird. Aber: Vor lauter Sich-Sorgen kann man das, was noch da ist, was das Leben reich macht, nicht mehr genießen. Davor warnte bereits Seneca: „Es ist ohne Zweifel töricht, weil du irgendwann einmal unglücklich sein wirst, jetzt schon unglücklich zu sein.“9
Die Beschäftigung mit dem Alter ist problematisch: Wir wollen „gut altern“, wissen, was im Alter wichtig sein könnte – und alles, was wir tun, hat in sich auch die Tendenz, das Defizit bereits vorwegzunehmen, sich jetzt schon im sehr hohen Alter zu sehen und dieses zu generalisieren und mit dem Alter als Ganzem, das ja sehr unterschiedliche Phasen umfasst, gleichzusetzen. Entweder wird das Alter ausgeblendet, oder man lässt sich gleich schon sehr alt sein und möglicherweise sogar sterben. Dadurch wird das Jetzt – und das Leben findet im Jetzt und Hier statt – überschattet. Dazu macht Seneca in seiner Schrift Über die Kürze des Lebens darauf aufmerksam, dass die Erwartung, die vom Morgen abhängig ist, das Heute zerstört.10
Aber auch umgekehrt gilt: Die Angst von heute kann in der Vorstellungskraft die Zukunft viel düsterer malen, als sie dann ist. Die Befürchtungen von heute lassen die Zukunft nicht offen sein, lassen keinen Raum für Flexibilität im Umgang mit den Schwierigkeiten, aber auch keinen Raum für überraschend gute Erfahrungen. Das Vorsorgen, das dazu führen soll, dass wir mit wenig Angst das hohe Alter erreichen, kann gerade bewirken, dass eine Periode des Lebens nicht in ihrem Wert gesehen und geschätzt wird, weil man sich zukünftiges Unheil möglichst vom Leib halten will, weil man noch so viel wie möglich kontrollieren will.
Fantasien des Vertrauens
Was befürchtet man nicht alles: Wir können uns schreckliche Szenarien vorstellen, für uns selber, für die Menschen, mit denen wir uns verbunden fühlen! Nicht selten sind es gerade diese aggressiven Fantasien, die Angst auslösen können:11 Da stellt sich der alte Mann vor, wie seine beiden Söhne mit ihren Autos Unfälle haben werden – diese Unfälle stellt er sich minutiös vor –, und die Söhne werden behindert sein, er kann nicht helfen, und ihm wird auch nicht mehr geholfen werden. Er hofft, dass das nicht geschehen wird. Denn wenn das geschähe, dann hätte er niemanden mehr, der ihm beistehen könnte. Seine Vorstellung regt ihn aber unmäßig auf. Warum muss er sich ein so aggressives Szenario vorstellen? Er würde dieses Szenario nicht aggressiv nennen, sondern besorgt. Dennoch ist diese Fantasie voll von destruktiven Szenen. Ist das eine Form, sich mit dem nahenden Tod zu beschäftigen, dem Tod verstanden als „unzerstörbarem Zerstörer“?12 Man will der Angst entgehen und schafft dadurch gerade Angst.
Das Bedürfnis nach Kontrolle betrifft nicht nur die Bewältigung des Alltags, der zunehmend schwieriger sein kann, sondern auch die beiden Grundängste, verlassen zu sein und ausgestoßen zu werden. Um nicht verlassen zu werden und sich nicht ausgestoßen zu fühlen, werden in der Fantasie Beziehungen „kontrolliert“, und zwar paradox, wie bei dem alten Mann, der fantasiert, was seinen Söhnen alles geschehen könnte, und der wohl hofft, mit seinen Fantasien genau das zu verhindern. Er macht sich dabei aber nur unglücklich, wird noch ängstlicher.
Manche versuchen es realer im Alltag, indem sie den Beziehungspersonen klarmachen, wie sehr sie sie brauchen. Gelingt das liebevoll freilassend, mit freundlichem Blick, mag das bestehende Beziehungen intensivieren und eine größere Innigkeit ermöglichen. Geschieht das jedoch ängstlich vorwurfsvoll fordernd und daher auch klammernd, wird gerade das Gegenteil erreicht: Es entsteht keine Nähe, man bleibt allein, fühlt sich vielleicht sogar ausgestoßen. Es ist wichtig, sich selber nicht auszustoßen, sondern sich selber immer noch als einen Teil der Mitwelt zu verstehen und sich auch immer wieder einmal einzubringen mit Ideen und Gedanken, so wie es halt möglich ist. Flexibel eben. Allein sein, sich den eigenen Gedanken und Fantasien überlassen, aber auch wieder in Beziehung treten, sich einbringen, wenn es passt.
Es wäre sicher besser, Fantasien des Vertrauens zu pflegen, für sich selber, für die anderen Menschen. Das würde dazu führen, dass man darauf vertraut, noch Einfluss auf das Leben zu haben. Was hat man noch zu geben? Fantasien des Vertrauens nähren auch das Selbstvertrauen, zudem das Vertrauen, auf Veränderungen des Lebens in einer guten Weise reagieren zu können – flexibel zu sein. Manche Menschen sind von Kindheit an vertrauensvoller, sie haben dem Leben schon immer auch gute Überraschungen zugetraut, sie trauen anderen Menschen Gutes zu, sich selber auch. Sie haben einen freundlichen Blick aufs Leben und auf sich selbst, auch auf die zunehmenden Schwächen und die zunehmenden Ängste.
Wer nicht so sehr begabt dafür ist, vertrauensvoll zu sein, könnte sich zumindest zum Vertrauen entschließen. Wer ein höheres Alter erreicht hat, hat das eigene Leben kompetent gelebt und auch erlebt, dass in vielen Situationen Grund zum Vertrauen vorhanden war, zum Vertrauen in sich selbst, aber auch zum Vertrauen in andere Menschen. Ein erinnerndes Zurückblicken13 auf unser Leben erschließt dann, in welchen Situationen wir uns als besonders vertrauenswürdig erlebt haben oder wann wir froh waren, auf uns selber vertrauen zu können, aber auch, wo uns selbst ganz gegen unsere Erwartung viel Vertrauen entgegengebracht wurde. Angesichts der Tatsache, dass nie endgültig auszumachen ist, ob Misstrauen oder Vertrauen angebracht ist, könnte es Weisheit sein, sich zum Vertrauen zu entschließen und damit auch zum Ausdruck zu bringen, dass wir in einer Welt leben möchten, in der das Vertrauen über das Misstrauen dominieren kann. Das hieße praktisch: Auch wenn ich noch lange nicht alles kontrollieren kann, vertraue ich darauf, dass es mir gelingen wird, trotz Schwierigkeiten einen guten Einfluss auf mein Leben zu nehmen und auf diese Weise ein attraktiver Mensch zu bleiben, so dass andere Menschen meine Nähe gerne aufsuchen. Es könnte ein Zuwachs an Weisheit im Alter sein, nach und nach zu lernen, was kontrolliert werden kann, auch kontrolliert werden muss, und was man getrost auf sich zukommen lassen kann oder muss.
Die Fähigkeit des Hinnehmens
Eine 85-Jährige sagte mir, seit sie aufgehört habe, sich zu fragen, was „morgen“ sei, sei sie viel ruhiger geworden, geradezu heiter. Eines Morgens sei sie aufgewacht und habe sich gesagt: „Es kommt eh, wie es kommt. Flexibel muss man sein, sich auf die neuen Situationen einstellen, und das konnte ich eigentlich schon immer ganz gut.“ Allerdings gebe es da auch ein Problem: Sie werde nervös, wenn etwas Neues auf sie zukomme. Damit müsse sie lernen, umzugehen. Diese neue Lebensweisheit, die sie beherzigen will – man muss es nehmen, wie es kommt, und flexibel sein –, schreibt sie einem Traum zu.
Schon immer haben ältere Menschen, aber auch schwer kranke Menschen gesagt: „Man muss es nehmen, wie es kommt“, „Ich nehme das Leben jetzt von Tag zu Tag.“ Was steckt hinter dieser Aussage? Weisheit? Resignation? Gibt man sich auf? Die Anderen, Jüngeren, können noch in die Zukunft planen, ich aber, der ältere Mensch, stehe unter Zukunftsschwund, habe keine wirklich zeitliche Erstreckung mehr vor mir, kann mich nicht mehr lustvoll auf die Zukunft ausrichten. Oder doch? Die Aussage, jeden Tag zu nehmen, wie er kommt, hat durchaus einen Sinn: keine großen, zu sehr...