4. Die Baiuwarisierung des Landes zwischen Donau und Alpen
4.1. Siedlungen und Ortsnamen als Indizien für Baiuwarisierung des Landes
Aus der Frühzeit baiuwarischer Besiedlung und des Landesausbaus liegen uns keinerlei schriftliche Quellen vor. Wir sind zwar dank Archäologie, Ortsnamenkunde und Historischem Atlas von Bayern über die frühe Siedlungsgeschichte in Bayern, oberflächlich gesehen, brauchbar informiert, doch ergeben sich bei genauem Hinsehen immer wieder neue Fragen, die noch nicht befriedigend beantwortet werden können. Zudem haben die Archäologen hinsichtlich römischer Siedlung, Völkerwanderungsgeschehen und Stammesbildung der Bayern eine Reihe wichtiger neuer Spuren gefunden, die noch in das Gesamtbild von der Bauiwarisierung des Landes einzubauen sind.
Neues Licht in diesen schwierigen Fragenbereich scheinen die alten Flurmaße zu bringen. Bei der Suche nach der historischen Erklärung für die unterschiedlichen archäologischen Grabungsfunde im Raum Aschheim bei München stieß Gertrud Diepolder auf drei verschiedene, alte Flurmaßeinheiten: den ‹Römischen Fuß›, den ‹Aschheimer Fuß› und den ‹Karlsfuß› bzw. den ‹Karolingischen Fuß›. Sie glaubt, alte Flurblöcke mit diesen Regelmaßen nicht nur entlang der Römerstraße Augsburg-Salzburg, sondern auch entlang der Via Claudia zwischen Augsburg und Epfach und in Romanenorten des frühen Mittelalters gefunden zu haben. In diesem Zusammenhang scheinen ihre Beobachtungen im Römerort Quintanis an der Donau, dem heutigen Künzing, von besonderer Bedeutung für die zukünftige Forschung zu sein. Hier stellte sie fest, daß die Bewohner dieses schon vom Severin-Biographen Eugippius beschriebenen Quintanis, dem späteren Künzing, in ihrer Flurabmessung am ‹Römischen Fuß›, also der römischen Flurabmessung, auch im Frühmittelalter festhielten. Am Rande dieser Gemarkung freilich siedelte sich der Baiuware Giricho an, Namengeber des Nachbarorts Girching. Er maß seinen Hof und sein Feld nach dem neuen baiuwarischen Feldmaß aus, dem ‹Aschheimer Fuß›. Das wohl später im Anschluß an den Hof offenbar erst nach 788 entstandene Dorf Girching verwendete dagegen das inzwischen übliche fränkische ‹Staatsmaß›, den ‹Karlsfuß›. Ließe sich dieses «Modell Künzing» auch in anderen baiuwarischen Landschaften und Dörfern so sauber rekonstruieren, dann hätten wir grundlegende Erkenntnisse für die Ansiedlungsmechanismen im frühmittelalterlichen Bayern. Solange diese aufwendigen Flurforschungen noch nicht gediehen sind, müssen wir uns vorwiegend mit der Deutung der Ortsnamen zufrieden geben.
Im Vergleich zu anderen deutschen Landschaften ist die schriftliche Quellenlage bezüglich der Nennungen von Siedlungen ausgezeichnet. Bis 788 dokumentieren die bayerischen Traditionsurkunden etwa 580 Orte. Unter ihnen finden sich 110 auf -ing endende und meist auf Personennamen zurückgehende Orte, etwa 30 vordeutsche Ortsnamen, aber auch 52 -bach-Ortsnamen, 44 -dorf-Ortsnamen, 29 -hausen-Ortsnamen. In dieser Zeit begegnen auch schon ausgesprochene Rodungsnamen (5× -reut, je 1× -schwend und -hart): solche Namen zeigen an, daß dort Orte entstanden, indem man den dafür erforderlichen Raum durch Waldrodung gewonnen hat. Dies macht freilich die übliche Einteilung des Siedlungsgeschehens, nach der letztere Orte theoretisch vorwiegend dem hochmittelalterlichen Ausbau zuzurechnen sind, nicht leichter.
Allgemein gelten die -ing-Ortsnamen mit Personennamen als Siedlungszeugnisse aus der ältesten baiuwarischen Zeit. Bezüglich des Alters lassen sich freilich in verschiedenen Räumen, die im 8. Jahrhundert quellenmäßig gut belegt sind, zwei Ortsnamengruppen mit der Endung -ing herausfinden. Die eine, deren zugrundeliegender Personenname in diesen schriftlichen Quellen noch vorkommt, die andere, deren Personenname im 8. und 9. Jahrhundert nicht mehr begegnet. Beispielsweise konnte sich der Ortsname Erding (althochdeutsch Ardeoninga = bei den Leuten des Ardeo) bis heute erhalten, obgleich die Ortsbewohner auch im 8. Jahrhundert schon lange nicht mehr unter Schutz und Herrschaft des Ardeo standen. Diese Ortsnamen konservierten also Personennamen, die bereits beim Aufkommen der Schriftlichkeit außer Gebrauch gekommen waren.
Besonders kennzeichnend für Bayerns alte Ortsnamen ist der Sachverhalt, daß die -ing- und -heim-Namen fast schon regelmäßig mit Personennamen verbunden, d.h. in der Fachsprache patronymisch gebildet, also von einem Herrennamen abgeleitet sind. Früher glaubte man in ihnen die landnehmenden Ortsgründer zu sehen. Inzwischen fällt aber auf, daß manche dieser Orte nach archäologischen Befunden weit vor die Bayernzeit zurückgehen. Das heißt, die namengebenden Personen können vielfach nicht die Ortsgründer, sondern müssen eher frühe germanische – wohl in der Regel baiuwarische – ‹Grundherren›, gegebenenfalls Okkupatoren gewesen sein. Auf Erding bezogen heißt dies, daß Ardeoninga/Erding keineswegs von einem Ardeo auch gegründet sein muß, wohl aber, daß es der ältesten baiuwarischen Ortsnamenschicht angehört.
Nur sehr selten sind wir über die vorbaiuwarische Bevölkerung eines Ortes informiert, am ehesten im Falle von romanischen Ortsnamen. Archäologische Grabungen lassen immer häufiger auf weit ältere Siedlungen und damit auf eine Siedlungskontinuität schließen. Kaum wird man annehmen dürfen, daß alle Vorbewohner den neuen Baiuwaren auswichen; eher ist in der Regel an Besitznahme durch einen neuen Herrn, z.B. Ardeo, zu denken, der der Wohnstätte seinen Namen gewissermaßen als Stempel aufdrückte und dabei vermutlich auch seinen eigenen Herrenhof schuf. Die immer noch weitverbreitete Vorstellung, daß die einwandernden Siedler ihre neugewonnene Wohnstätte nach ihren Sippengenossen benannten, scheint weniger der Realität zu entsprechen.
Festzuhalten ist jedenfalls, daß die vielen -ing-Orte, die sich besonders häufig an Flüssen aufgereiht finden, die älteste baiuwarische Siedlungsschicht darstellen, wobei freilich gesagt werden muß, daß auch die Alemannen dieselbe Siedlungsbenennung seit rund 400 n. Chr. pflegten. Die heutigen bayerischen -ing-Orte hießen genau wie die alemannischen im Frühmittelalter -ingen (-inga usw.).
Kann man archäologisch die Vorbevölkerung bisher nur schwer fassen – das mag mit Religion und Bestattungsriten zusammenhängen –, so ist doch kaum denkbar, daß die neuen baiuwarischen Herren in völlig unbewohntes Gebiet kamen. Da die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen sicher nicht ausgelastet waren, vielleicht auch öd lagen, vermochten die waffentragenden ‹Kolonisten› verschiedener Herkunft sich in oder an den Rand der Altsiedlungen zu setzen, die noch vorhandene Bevölkerung zu beherrschen, vielleicht auch in den Stand der Unfreiheit zu setzen und künftig tonangebend in der kleinen oder größeren Siedlung zu sein. Es lag sicherlich im Interesse der neuen baiuwarischen Leitgruppen, die noch vorhandene Altbevölkerung möglichst schnell in den Stammesverband zu integrieren. Sieht man von den eigentlichen Romanenorten ab, die wir behandelt haben, dann machen die frühesten schriftlichen Zeugnisse durchaus den Eindruck, daß dies bis spätestens zum 8. Jahrhundert gelungen war.
Offensichtlich infolge starker Bevölkerungsvermehrung kam es rasch zur Ausweitung alter und begrenzter Siedlungsräume. Man legte im siedlungsnahen lokalen Wald oder im Ödlandgebiet neue Höfe an, um Söhne und Töchter mit möglichst gleichen Erbteilen ausstatten zu können. Den ausgeweiteten Siedlungskammern gab man bisweilen neue Namen, oft nur den Zusatz «Ober-» und «Unter-» bzw. «Nieder-», «Vorder-» und «Hinter-» und dergleichen. In diesem Zusammenhang sind besonders die archäologischen Ergebnisse von ergrabenen Siedlungs- und Bestattungsplätzen rund um eine alte Siedlung aufsehenerregend, wie etwa in der Flur Aschheim. Die Namen dieser archäologischen Fundplätze kennen wir nicht exakt. Ob beispielsweise die Fundplätze um Aschheimauch den Namen Aschheim trugen, weiß man nicht. Es kann gut sein, daß die Archäologen, die ihre Funde meist außerhalb der heute besiedelten Dörfer – in der Regel in Neuerschließungsgebieten – gewinnen, möglicherweise Siedlungen erfassen, die unter Umständen nicht mit dem Namen der heutigen Kernsiedlung identisch sind.
Der Münchener Raum nimmt eine Sonderstellung im Rahmen der archäologischen Erfassung der Baiuwaren ein. Die Münchener Schotterebene besitzt zwar nur flache und mittelgründige Böden, erforderte aber im Frühmittelalter nur relativ geringe Rodungsarbeit. Lockere, eichendurchsetzte Bewaldung erlaubte Waldweide und bot Möglichkeiten zur Jagd. Die umliegenden Landschaften eigneten sich weit weniger für Siedlungen. Angesichts der rasch zunehmenden Bebauung des Münchener Umlands in den...