Kapitel zwei
NACH HAUSE GEHEN
Liebe Freunde, heute ist der 28. Dezember 1995, und wir befinden uns im Upper Hamlet von Plum Village.
Weihnachten und Neujahr sind Festtage, die uns die Gelegenheit geben, nach Hause zu gehen. In Asien gilt der Beginn des lunaren neuen Jahres als ein Zeitpunkt, an dem die Menschen zurückkehren zu ihrem Zuhause, zu ihren Wurzeln. Für Chinesen oder Vietnamesen versteht es sich von selbst, dass sie an diesem Tag mit ihrer Familie zusammen sind. So haben sie die Möglichkeit, einander nach einer gewissen Zeit der Trennung wiederzusehen. Während ihres Zusammenseins versuchen sie, einander ganz nahe zu sein und die Verbindung zu ihren Vorfahren aufzunehmen. Am Neujahrstag möchte jeder nach Hause zurückkehren und Kontakt aufnehmen zu seinen Vorfahren.
UNSER WAHRES ZUHAUSE
Es gibt die Übung, dem Klang einer Glocke voll Achtsamkeit zu lauschen. Wir in Plum Village haben der Glocke deshalb den Namen ‚Glocke der Achtsamkeit‘ gegeben. Während wir einatmen, richten wir unsere Achtsamkeit allein auf ihren Klang und sagen uns: „Höre, höre!“ Dann atmen wir aus und sagen: „Der wunderbare Klang dieser Glocke bringt mich zurück zu meinem wahren Zuhause.“ Unser wahres Zuhause ist ein Ort, nach dem wir alle uns sehnen und zu dem wir alle zurückkehren wollen. Manche von uns haben das Gefühl, nicht wirklich ein Zuhause zu haben.
Was bedeutet ‚wahres Zuhause‘? Wir haben kürzlich über Wellen und Wasser gesprochen. Hat eine Welle ein Zuhause? Wenn eine Welle tief in sich hineinschaut, wird sie sich der Tatsache bewusst werden, dass viele andere Wellen um sie herum sind. Wenn wir achtsam sind und jeden Augenblick des Tages bewusst erleben, erkennen wir, dass alles, was um uns herum existiert, unser Zuhause ist. Ist es nicht wahr, dass die Luft, die wir atmen, unser Zuhause ist? Stimmt es nicht, dass der blaue Himmel, die Flüsse, die Berge, unsere Mitmenschen, die Bäume und die Tiere alle unser Zuhause sind? Eine Welle, die tief in ihr Inneres schaut, wird erkennen, dass alle anderen Wellen zu ihrer Existenz beigetragen haben und noch beitragen, und wird sich nicht länger isoliert und von allem und allen anderen abgeschnitten fühlen. Sie wird in der Lage sein zu erkennen, dass die anderen Wellen auch ihre Heimat sind. Wenn ihr Gehmeditation praktiziert, so geht auf eine Weise, die es euch möglich macht, euer Zuhause zu erkennen, euer Zuhause im Hier und im Jetzt. Seht die Bäume als euer Zuhause an, die Luft, den blauen Himmel, die Erde, auf die ihr eure Füße setzt. All das kann nur im Hier und Jetzt geschehen.
Zuweilen überkommt uns ein Gefühl des Fremdseins. Wir fühlen uns einsam und verlassen, so als ob wir von allem abgeschnitten wären. Wir irren herum und bemühen uns nach Kräften, unser wahres Zuhause zu finden, aber es gelingt uns nicht. Tatsächlich aber haben wir alle ein Zuhause, und dieses zu finden, müssen wir üben.
Es ist merkwürdig. In meiner Heimat spricht der Ehemann von seiner Ehefrau als von seinem ‚Zuhause‘. In gleicher Weise nennt auch die Ehefrau ihren Ehemann ihr ‚Zuhause‘. Wenn sie mit jemandem spricht, ist es vorstellbar, dass sie sagt: „Mein Zuhause hat erklärt ...“ oder: „Mein Zuhause ist im Moment nicht da.“ Das ist wohl Ausdruck eines ganz bestimmten Lebensgefühls.
Wenn wir von unserem ‚home sweet home‘ sprechen, wo ist es zu finden? Durch tiefes Schauen erfahren wir, dass unser wahres Zuhause überall ist. Tiefes Schauen läßt uns erfahren, dass die Vögel unser Zuhause sind und dass der blaue Himmel unser Zuhause ist. Es mag den Anschein haben, als wäre diese Erfahrung nicht leicht zu erreichen, in Wirklichkeit aber ist es ganz einfach. Du brauchst nur aufzuhören mit dem unsteten Herumirren und allem Suchen nach einem Zuhause. „Höre, höre! Der wunderbare Klang dieser Glocke bringt mich zurück zu meinem wahren Zuhause.“ Der Klang der Glocke, die Stimme des Buddha, der Sonnenschein, alles ruft dich zurück zu deinem wahren Zuhause. Wenn du erst einmal dahin zurückgefunden hast, wirst du den Frieden und die Freude verspüren, die du verdienst.
Als Christ oder Christin spürst du, dass Jesus Christus dein Zuhause ist. Als Buddhist oder Buddhistin weißt du, dass der Buddha dein Zuhause ist. Dieses Zuhause ist verfügbar im Hier und im Jetzt, denn Jesus Christus ist gegenwärtig, und der Buddha ist gegenwärtig. Du nennst Christus den ‚lebendigen Christus‘; also kannst du nicht meinen, Christus sei jemand, der nur in der Vergangenheit existierte und nicht länger gegenwärtig ist. Christus ist allgegenwärtig. Er ist dein Zuhause, und du musst dich darin üben, ihn zu berühren. Als Buddhist oder Buddhistin kannst du mit dem Buddha dadurch in Berührung kommen, dass du ihn bei seinem Namen anrufst. Der lebendige Christus, der lebendige Buddha – sie sind dein wahres Zuhause.
Der lebendige Christus und der lebendige Buddha dürfen aber nicht bloß Vorstellungen sein, nicht nur Ideen. Sie müssen zu Realitäten werden. Wie kannst du die Gegenwart des lebendigen Christus oder des lebendigen Buddha erkennen? Dein Übungsweg wird dich dahin führen. Möglich, dass es der Klang der Glocke ist, der dich ihn als dein wahres Zuhause erkennen lässt, oder weil du in der Lage bist, achtsam und gesammelt zu gehen. Was ist das Zuhause einer Welle? Das Zuhause einer Welle sind alle anderen Wellen, und das Zuhause aller Wellen ist das Wasser. Eine Welle, die imstande ist, sich und die anderen Wellen tief zu berühren, erkennt, dass sie aus Wasser besteht. Indem sie sich dieser Tatsache bewusst wird, überwindet sie die Vorstellung, eine isolierte Existenz zu haben und verlassen zu sein, überwindet sie allen Kummer und alle Ängste. Dein Zuhause ist verfügbar im Hier und im Jetzt. Dein Zuhause ist Jesus Christus oder Gott. Dein Zuhause ist der Buddha oder die Buddhaschaft.
WEDER PERSON NOCH NICHT-PERSON
In der vergangenen Woche sprachen wir über das Nirvana als der Realität von Geburt- und Todlosigkeit.
Das Nirvana ist unsere wahre Substanz, genauso wie das Wasser die wahre Substanz der Welle ist. Wir müssen uns darin üben, das zu erkennen. In dem Augenblick, da wir diese Erkenntnis gewonnen haben, überwinden wir unsere Angst vor Geburt und Tod, vor Sein und Nicht-Sein. Dem Ausdruck ‚Nirvana‘ entspricht der Ausdruck ‚Gott‘. Gott ist das Fundament des Seins, oder, wie viele Theologen, zum Beispiel Paul Tillich, es sagen: „Gott ist der Grund des Seins.“
In der vergangenen Woche haben wir festgestellt, dass die Vorstellung von Sein und Nicht-Sein nicht auf Gott oder das Nirvana angewendet werden kann. Es ist auch abwegig, sich vorzustellen, dass das Absolute einen Anfang und ein Ende hat. Aus dem Grund können weder Gott noch das Nirvana als etwas Personales oder Nicht-Personales aufgefasst werden. Wir vergeuden also unsere Zeit, wenn wir darüber streiten, ob Gott eine Person ist oder eine Nicht-Person. Die buddhistische Lehre rät von derlei Spekulationen ab, und Paul Tillich war sehr geschickt, als er erklärte: „Gott ist weder eine Person noch eine Nicht-Person.“ Damit hat er den Menschen in wunderbarer Weise geraten, ihre Zeit nicht allzu sehr mit Spekulationen zu vergeuden.
Wir sind Menschen, aber wir sind auch mehr als nur Menschen. Bist du nur ein Mensch? Bist du nicht auch gleichzeitig ein Baum oder ein Fels? Du brauchst nur tief zu schauen, und du wirst feststellen, dass du ein Mensch, zugleich aber auch ein Fels und ein Baum bist. Buddhisten glauben, dass sie in früheren Existenzen einmal Menschen, Tiere, Pflanzen und Mineralien gewesen sind. Das ist im Sinne der Naturwissenschaft auch richtig. Schauen wir tief in die Evolution unserer Spezies, so erkennen wir, dass wir in früheren Zeiten in unterschiedlichster Weise verkörpert waren – als Fels zum Beispiel oder als Baum, Rose, Einzeller, Kaninchen, Hirsch, Wolke. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Der Mensch ist eine sehr junge Spezies. Millionen von Jahren hat es gedauert, bis sich der heutige Mensch entwickelt hat.
Wenn du nicht nachlässt, tief zu schauen, wirst du erkennen, dass du auch jetzt noch eine Rose, ein Kaninchen, ein Baum, ein Fels bist. Das ist die Wahrheit von ‚Intersein‘: Du bestehst aus Nicht-Du-Elementen. Du kannst die Wolke in dir berühren. Du kannst den Sonnenschein in dir berühren. Du kannst die Bäume und die Erde in dir berühren. Du weißt, dass du in diesem Augenblick nicht existieren könntest, wenn diese Elemente in dir nicht vorhanden wären. Nicht nur in früheren Leben warst du ein Baum, sondern auch jetzt, in diesem Augenblick, wo du hier sitzt, bist du ein Baum. Aus dem Grund sage ich, dass die Bäume dein Zuhause sind. Erkenne dein Zuhause, dein ‚home sweet home‘.
DEN HEILIGEN GEIST IN UNS STÄRKEN, UNSERE BUDDHA-NATUR BERÜHREN
In Ostasien betrachten wir den menschlichen Körper als einen Mikrokosmos. Der Kosmos ist unser Zuhause. Wir können dieses Zuhause berühren, indem wir uns unseres Körpers gewahr werden. Meditation bedeutet Stille: Wir sitzen still, wir stehen still, und wir gehen voll innerer Ruhe. Meditation bedeutet, tief zu schauen, tief zu berühren, so dass wir erkennen können, dass wir schon zu Hause sind. Unser Zuhause ist im Hier und im Jetzt verfügbar.
Auch Jesus hat meditiert. Als Johannes Jesus taufte, machte er es dem Heiligen Geist möglich, geboren zu werden, sich zu manifestieren – in Jesus, dem Menschen. Jesus zog sich daraufhin vierzig Tage lang in die Berge zurück. Er meditierte und stärkte den Heiligen Geist in sich, um eine völlige Transformation zu erlangen. Es ist nicht überliefert, welche Haltung er einnahm,...