Vorwort
Der Islam steht unter Druck. Was spätestens mit dem 11. September 2001 begann, hat sich in den vergangenen beiden Jahren zugespitzt. Im Herbst 2014 haben die Landgewinne des sogenannten Islamischen Staats im Westirak und in Syrien die Aufmerksamkeit erregt, Anfang 2015 erfolgte der Anschlag auf das französische Satire-Magazin »Charlie Hebdo«. Seitdem steht die Frage, welche Gewaltpotenziale »der« Islam aufweist, stärker im Fokus. Nicht zuletzt angesichts der mehrheitlich muslimischen Flüchtlinge, die seit dem Sommer 2015 in größerer Zahl gerade nach Deutschland gekommen sind, und jetzt der Anschläge in Paris werden die Debatten jetzt mit noch mehr Verve geführt.
Dabei hatte sich gerade in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt, ebenfalls in der Folge der Anschläge auf das World Trade Center am Beginn des neuen Jahrhunderts, ein neuer Umgang mit den Muslimen im Land herausgebildet. Die Diskussionen über Schulversuche zum islamischen Religionsunterricht und der Bau repräsentativer Moscheen in deutschen Großstädten haben den Islam als eine Religion in Deutschland stärker ins Bewusstsein gebracht. Die »Deutsche Islamkonferenz« der Bundesregierung, die es seit 2006 gibt, hatte zudem eine Studie angestoßen, deren überraschendes Ergebnis es war, dass hierzulande mit rund vier Millionen deutlich mehr Muslime leben, als man zuvor dachte.
Unmittelbar war klar, dass die bis dato nur zögerlichen Versuche, in den einzelnen Bundesländern einen islamischen Religionsunterricht zu etablieren, verstärkt werden müssten. Auch die inzwischen fünf Zentren zum Studium der Islamischen Theologie an staatlichen Universitäten in Deutschland wurden daraufhin von der Islamkonferenz angeregt, nachdem der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble 2009 erstmals eine Fakultät für Islamische Theologie an einer hiesigen Hochschule gefordert hatte. Die Etablierung dieser wissenschaftlichen Einrichtungen, bei denen eine Vielfalt im Rahmen der europäischen Wissenschaftstradition geradezu erwünscht ist, schreitet mit hohem Tempo voran.
Dabei ist momentan völlig offen, ob aus dem sogenannten Euro-Islam mehr als ein Schlagwort wird. Natürlich gibt es heute eine Reihe von Ansätzen zu einer historisch-kritischen Lesart des Korans, zum Überdenken der Geschlechterrollen bei den Muslimen, zur Weiterentwicklung des islamischen Rechts und zum Umgang mit beziehungsweise zum Leben in pluralistischen Gesellschaften. Einmal abgesehen davon, dass die muslimische Existenz in den europäischen Gesellschaften aufgrund von unterschiedlichen ethnischen und anderen kulturellen Prägungen selbst höchst vielfältig ist: Es ist jedoch noch nicht abzusehen, ob solche Versuche einer neuen Verhältnisbestimmung von Islam und Moderne die muslimische Identität in westlichen Gesellschaften in der Breite werden prägen können. Immerhin wurde von Politikern wie von Kirchenvertretern mehrfach schon mit Recht daran erinnert, dass es auch in den christlichen Kirchen vergleichsweise lange gedauert habe, bis sie sich mit den Prinzipien der aufgeklärten Moderne konstruktiv auseinandergesetzt und diese in ihr Selbstverständnis integriert hatten. Auch der Islam sei allerdings zu einem solchen historischen Lernprozess in der Lage.
Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die aktuelle Situation. In einer Erklärung des Ständigen Rats der Deutschen Bischofskonferenz zum »Islamischen Staat« heißt es: »Islam und ISIS sind nicht dasselbe. Vielmehr tobt in der muslimischen Welt selbst ein hitziger, manchmal erbarmungsloser und mörderischer Kampf um das rechte Verständnis der eigenen Religion und zu Recht wird immer wieder auf die große Zahl der Muslime hingewiesen, die Opfer dieses Konflikts werden.« Die Stellungnahme richtet allerdings gleichzeitig auch die Frage an die überwältigende Mehrheit der friedliebenden Muslime, welche Rolle die eigene Religionsgemeinschaft bei den beängstigenden Entwicklungen spiele. Nur auf Fehler, Versäumnisse und Schuld außerhalb der islamischen Kultur zu verweisen, greife jedenfalls zu kurz.
Abermals stellt sich hier die Frage, inwieweit Muslime und ihre Repräsentanten bereit sind, sich kritisch mit diesen Vorgängen auseinanderzusetzen und dann auch öffentlich dazu zu äußern.
Vor diesem Hintergrund hat die Herder Korrespondenz als Monatszeitschrift für Gesellschaft und Religion im Oktober 2015 ein neues Themenheft der Reihe Herder Korrespondenz Spezial zum Islam vorgelegt. In der Ausgabe mit dem Titel »Religion unter Verdacht. Wohin entwickelt sich der Islam?« haben beide Entwicklungen ihren Niederschlag gefunden.
Das gilt zum einen für Herausforderungen durch den sogenannten Islamischen Staat und die weltweit agierenden Salafisten, die auch hierzulande um Anhänger werben. Neben einem Blick in die wichtigsten Herkunftsländer von Muslimen in Deutschland wird die Frage bedacht, wie die neuen Flüchtlinge den Islam in Deutschland verändern werden.
Aber auch muslimische Theologen kommen zu Wort. Sie erläutern, wie aus ihrer Perspektive der Islam in Europa gelebt werden kann. Ausdrücklich thematisiert wird dabei das Spannungsfeld zwischen der jungen islamischen Theologie und den in der Mehrzahl konservativen Dachverbänden als Vertretung der deutschen Muslime. Andere Beiträge widmen sich sowohl den neuen Ansätzen des wissenschaftlichen Umgangs mit dem Koran als auch den unterschiedlichen Argumentationen im Kopftuchstreit sowie weiteren wichtigen Fragen mit Blick auf die Rolle muslimischer Akteure in der deutschen Gesellschaft, aber auch im Verhältnis zum Christentum.
Angesichts der massiven Anfragen an den Islam auf der einen und den ermutigenden Entwicklungen einer aufgeklärten islamischen Theologie auf der anderen Seite erschien es uns notwendig, diese Positionen in einem Streitgespräch sichtbar werden zu lassen. Dazu haben wir den Islamkritiker Hamed Abdel-Samad und den muslimischen Theologen Mouhanad Khorchide gebeten.
Hamed Abdel-Samad, in Ägypten als Sohn eines Imams geboren und selbst eine Weile Mitglied der Muslimbruderschaft, gehört zwischenzeitlich zu den schärfsten Kritikern des Islam und steht aufgrund von Drohungen unter Polizeischutz. Dass er inzwischen in jedem Fall zu den publizistisch Erfolgreichsten gehört, belegt nicht zuletzt sein ebenfalls im Oktober erschienenes Buch »Mohamed. Eine Abrechnung«.
Mouhanad Khorchide, palästinensischer Abstammung und im Libanon und Saudi-Arabien aufgewachsen, ist als Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster heute der bekannteste muslimische Theologe in Deutschland. Er vertritt einen dezidiert liberalen Ansatz, der am Begriff von Gottes Barmherzigkeit ansetzt und – so der Titel seines jüngsten Buches – für einen neuen Humanismus aus islamischer Perspektive plädiert. Auch er wird in Teilen der muslimischen Community kritisch gesehen. Ob es in Deutschland langfristig einen Islam auf Augenhöhe geben kann, wird sich allerdings auch an der Akzeptanz einer solchen islamischen Theologie entscheiden.
Hat der Islam als solcher ein Gewaltproblem? Welche Rolle spielt die Gründungsfigur des Propheten Mohammed dabei? Wie ist dem sogenannten Islamischen Staat zu begegnen? Wie ist der Koran überhaupt zu lesen und wie die neuen Ansätze islamischer Theologie in Europa zu bewerten? Wie denken aufgeklärte muslimische Theologen heute über Gott, wie denken sie vom Menschen zwischen Hölle und Himmel? Wie sinnvoll ist auf der anderen Seite überhaupt die Rede vom Euro-Islam und welche Rolle werden die Muslime schließlich zukünftig in der deutschen Zivilgesellschaft spielen können? Um diese Fragen ging es in dem Streitgespräch zwischen den beiden.
Dieses muslimische Religionsgespräch hat sich als so ergiebig erwiesen, dass wir in dem Themenheft nur einen kleinen Ausschnitt publizieren konnten. Im Folgenden dokumentieren wir nun das gesamte Gespräch, das Hamed Abdel-Samad bei dessen Autorisierung als »großartig und wichtig« bezeichnete und folgendermaßen kommentierte: »Hoffentlich setzen wir damit einen Maßstab für einen inner-islamischen Dialog, der zwar kritisch, aber mit Respekt geführt wird.«
Das Gespräch ist nicht nur eine gute Einführung in die konträren Ansätze der beiden Dialogpartner. Der eigentliche Reiz besteht darin, dass sie aufeinander reagieren, ihre gegenseitigen Anfragen artikulieren und für ihre Position Argumente vorbringen. Der Dialog sei »nicht produktiv, wenn man aus Höflichkeit oder Konfliktscheu die wirklichen Probleme nicht anspricht und nur Freundlichkeiten austauscht, die atmosphärisch hilfreich sein mögen, aber untergründig Spannungen und Aggressionen fortleben lassen«, heißt es im »Handbuch christlich-islamischer Dialog« (Freiburg 2014). Allerdings dürfe man auch nicht »aus Höflichkeit und falsch verstandener Toleranz Hass und Intoleranz« dulden. Beides gilt gleichermaßen für den innerislamischen Dialog.
Wie könnte es auch anders gehen, als dass angesichts der schwierigen Fragen ernsthaft und direkt miteinander gesprochen wird, um Missverständnisse zu klären, Grenzen auszuloten und Perspektiven aufzuzeigen? Wie sollten die Herausforderungen bewältigt werden können, wenn es nicht gelingt, dass die muslimischen Protagonisten selbst über all diese Fragen miteinander ins Gespräch kommen?
Wir freuen uns, mit diesem Band den ersten einer neuen Buchreihe Edition Herder Korrespondenz vorzulegen, die ab sofort in lockerer Folge im Verlag Herder erscheinen wird.
Ein herzlicher Dank gilt beiden Kontrahenten, die sich nicht nur auf dieses Gespräch eingelassen haben, sondern fair und freundschaftlich, dafür aber umso energischer miteinander gestritten haben....