Chronobiologie: zirkadiane Rhythmik und Zeitgeber
»Early to bed, early to rise, makes people healthy, wealthy and wise.«
(Früh zu Bett gehen und früh aufstehen macht Menschen gesund, wohlhabend und klug.)
Benjamin Franklin, 1706–1790
Zeitliche und räumliche Abläufe
Wenn Sie einen Gast abholen oder selbst mit dem Flugzeug reisen, erleben Sie am Flughafen bewusst oder unbewusst, wie Flugzeuge im Minutentakt abfliegen und landen, an unterschiedliche Hubs andocken, wie Lande- und Abflugbahnen zu ganz bestimmten Zeiten freigegeben werden, Gepäckräume beladen und entladen oder Gepäckstücke auf diverse Fließbänder verteilt werden. Es ist eine sehr zeit- und raumsensible Situation, die potenziell zu einem gefährlichen Chaos führen kann! Um dies zu vermeiden, ist es unabdinglich, die Vielzahl an Aktivitäten haargenau zu koordinieren.
Eine zentrale Rolle bei der komplexen Organisation eines Flughafens spielt die Flugverkehrskontrolle, die für die reibungslose Koordination der Maschinen am Boden und in der Luft verantwortlich ist. Sie staffelt die Flugzeuge und organisiert und beschleunigt den Verkehrsfluss. Die Piloten unterstützt sie unter anderem durch die Bereitstellung von relevanten Informationen. Zeitliche und räumliche Abläufe muss sie folglich mit großer Genauigkeit und viel Personal über ausgeklügelte Systeme abstimmen. Zudem ist die Flugverkehrskontrolle täglich mit Problemen wie dem (wachsenden) Umfang des Luftverkehrs oder prekären Wetterverhältnissen konfrontiert. Viel Geld, Zeit und Energie werden daher regelmäßig in die Entwicklung neuer Technologien investiert, um alle Prozesse so effizient wie möglich zu gestalten und sicherzustellen, dass die nötige Anpassung an sich verändernde äußere Umstände gewährleistet ist.
Die Aufgaben und Herausforderungen der Flugverkehrskontrolle bieten eine griffige Analogie zur faszinierenden Wissenschaft der Chronobiologie. Dieses Wort setzt sich aus den altgriechischen Wörtern chronos (Zeit), bios (Leben) und logos (Wissenschaft) zusammen. Folglich befasst sich die Chronobiologie mit den Auswirkungen der Zeit auf biologische Systeme und damit, wie diese Systeme die Zeit auf zellulärer Ebene verstehen und messen. Denn für jedes Lebewesen ist die Gewährleistung räumlicher und zeitlicher Ordnung von zentraler Bedeutung, beides muss harmonisch und in sinnvoller Weise aufeinander abgestimmt werden. Stellen Sie sich also Ihren Körper von Kopf bis Fuß als großen internationalen Flughafen vor, der konstant von der Flugverkehrskontrolle in Ihrem Gehirn räumlich wie zeitlich koordiniert werden muss: Jeder einzelnen Zelle muss zeitgerecht mitgeteilt werden, wann sie was zu tun hat. Die Verständigung untereinander und die Aktivitäten Ihrer Zellen müssen genau abgestimmt werden. Dabei werden – wie auf dem Flugplatz – externe Einflüsse registriert und entsprechende (physiologische) Reaktionen eingeleitet oder angepasst. Verlaufen diese Abgleichungen und Adaptionen reibungslos, finden sämtliche Prozesse zur richtigen Zeit am richtigen Ort statt.
GESUNDHEIT BRAUCHT RHYTHMUS
Bei Helligkeit sollten Sie wach sein und bei Dunkelheit schlafen können. Wird es Ihnen zu heiß, kühlt Ihr Körper Sie durch Schwitzen ab. Bei Kälte sollte er dagegen mit einer erhöhten Wärmeproduktion reagieren. Registriert Ihre Haut starke UV-Strahlung, wird im Normalfall die Ausschüttung des Hautpigmentes Melanin gesteigert, also Ihr persönlicher Sonnenschutz aktiviert. Reagiert Ihr System jedoch nicht zeitgerecht, weil der Abgleich mit externen Einflüssen und die Adaption daran mit Verspätung oder im schlimmsten Falle gar nicht erfolgt, ist für Chaos gesorgt. Dies kann sich auf sehr verschiedene Arten manifestieren, wobei kleinere innere Tumulte leider allzu häufig ignoriert werden. Typische »Kleinchaos«-Szenarien sind Hunger zur falschen Zeit (z. B. am späten Abend oder mitten in der Nacht), Verlust des Sättigungs- oder des Hungergefühls, kein oder zu starkes Durstgefühl, Verlangen nach Kohlenhydraten, Verdauungs- und Stoffwechselstörungen, Einschlaf-, Durchschlaf- oder Aufwachschwierigkeiten, Energiemangel am Tag, erhöhte Aktivitätslust am Abend oder nächtlicher Harn- oder Stuhldrang.
Werden derartige Szenarien über einen längeren Zeitraum ignoriert, breitet sich das Chaos großflächiger aus und der Handlungsbedarf wird dringlich! Es entstehen Verschiebungen in der Hormonproduktion, sei es beim Schlafhormon Melatonin oder beim Stresshormon Kortisol oder auch bei den Schilddrüsen- und Geschlechtshormonen. Die Gesundheit der Augen verändert sich von leichter Kurzsichtigkeit bis hin zum grauen Star oder zur Makuladegeneration, einer Netzhauterkrankung mit nachlassender zentraler Sehschärfe. Ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) schleicht sich ein, das Aktivitätsmuster des Gehirns verändert sich und unsere Körpermasse wächst oder schrumpft. Ist das Chaos schließlich in vollem Gange, kollabiert unser System. Dieser Niedergang äußert sich dann als Krebs, in Form neurodegenerativer Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Demenz oder Depression, in Unfruchtbarkeit oder Zeugungsunfähigkeit. Das Herz gerät buchstäblich aus dem Takt und erkrankt und unser Kollagen- und Knochengerüst »zerbröselt«. Es ist, als hätte unser Kontrollsystem den Selbstzerstörungsschalter umgelegt.
Die Rhythmen des Lebens
Zu jedem Zeitpunkt in unserem Leben müssen wir deshalb sicherstellen, dass die zeitliche und räumliche Synchronisation unserer inneren Rhythmen mit den äußeren Einflüssen optimal unterstützt wird. Damit sind wir bei einer der grundlegendsten Erkenntnisse der Chronobiologie: Alle Lebensvorgänge laufen in Form von Rhythmen unterschiedlicher Periodendauer ab, die als kontinuierliche Anpassungen der inneren Zustände an die äußeren Umstände zu verstehen sind. Da sich die Chronobiologie mit Mensch, Tier und Pflanze beschäftigt, profitieren viele unterschiedliche Disziplinen von ihren Forschungsergebnissen und Erkenntnissen. Dazu gehören die Vieh- und Pflanzenzucht, die Sozialmedizin (zum Beispiel bei Fragen zur Schichtarbeit), die Pharmakologie und die Psychiatrie wie auch die Chronomedizin einschließlich der Schlaf- und Sportmedizin sowie der Flug- und Raumfahrtmedizin. Alle diese Disziplinen befassen sich mit Periodenlängen, Rhythmen und externen Einflussfaktoren, den sogenannten Zeitgebern.
Kurzum: Anhand chronobiologischer Rhythmen und externer Faktoren (Zeitgeber) werden die mannigfaltigen physiologischen, biochemischen und metabolischen Prozesse in allen Lebewesen zeitlich optimiert. Chronobiologen nennen diesen Prozess interne Synchronisation.
PERIODENLÄNGEN UND NATÜRLICHE RHYTHMEN
Die Periodenlängen biologischer Rhythmen reichen von Millisekunden bis zu Jahren. Der zirkalunare Rhythmus der Mondphasen umfasst beispielsweise 29,5 Tage. Einige Untersuchungen haben Verschiebungen der Menstruationstermine anhand lunarer Rhythmen festgestellt. Andere zeigen, dass die Menstruationsrhythmen »moderner« Frauen oft nicht mehr mit äußeren Faktoren synchronisiert sind. Auch die Krankheitsanfälligkeit kann in Abhängigkeit von den Mondphasen zyklisch schwanken. So haben zum Beispiel Wissenschaftler in Bratislava dargelegt, dass infektiöse Durchfallerkrankungen seltener bei Vollmond und Neumond auftreten.
Mit Jahresrhythmen, den sogenannten zirkannualen Rhythmen, sind der sich verändernde Sonnenstand sowie die jahreszeitlichen Veränderungen verbunden. Zahlreiche Untersuchungen haben ergeben, dass saisonale Veränderungen einen Einfluss auf Stoffwechsel, Temperaturregulation, Kreislauf wie auch auf die Blutbildung haben. Sie kennen sicherlich das Phänomen der Frühjahrsmüdigkeit oder auch das der jährlichen Wintergrippewelle. Hier spielt die Zu- und Abnahme der UV-Strahlung eine große Rolle. Spannend ist auch die Beobachtung, dass unsere Körpertemperatur und Herzfrequenz im Februar am niedrigsten und im August am höchsten sind.
Dauert eine Schwingung bzw. ein Rhythmus deutlich länger als einen Tag, spricht man von einem infradianen Rhythmus. Mit diesem werden verschiedenste Entwicklungen in Verbindung gebracht, wie etwa Schwankungen der Geburtenrate, der Geburtsgewichte, psychiatrischer Krankheiten, der Herzinfarktraten, Schlaganfälle sowie Gezeiten- und Sexualrhythmen. Ein zirkadianer oder Tag-Nacht-Rhythmus dauert zirka 24 Stunden und ist von sehr großer Bedeutung für die interne Biologie, das interne Zeitgefühl aller Lebewesen, die sich täglich aufs Neue darauf einstellen müssen. Findet diese Koordination nicht geregelt statt, erlebt der Organismus einen »Jetlag« – und das ganz ohne Flug über mehrere Zeitzonen hinweg! Zirkadiane Rhythmen regulieren den Tagesverlauf Ihrer Körpertemperatur – und anhand Ihrer Thermoregulation lässt sich messen, ob Sie zeitlich gut...