I. 1840–1865
Herkunft – Familie – Jugend
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – Pëtr Il’ič Čajkovskij – wurde am 25.4.1840 in Wotkinsk im Gouvernement Wjatka (heute Udmurtia) geboren. Die Stadt liegt südwestlich des Ural und etwa 1200 Kilometer östlich von Moskau. Sie beherbergt seit 1759 eine von Zarin Elisabeth gegründete Metall verarbeitende Fabrik, die damals Werkteile und Maschinen für den Schiffs- und beginnenden Eisenbahnbau herstellte und bis in die Gegenwart existiert, aktuell als Zulieferbetrieb für die Öl-, Gas- und auch Nuklearindustrie. 1837 wurde Ilja Tschaikowsky (1795–1880) als Oberst des Korps der Bergingenieure die Gesamtleitung der Industrieregion Kamsko-Wotkinsk und damit auch die Aufsicht über diese Fabrik übertragen.
In den gut zehn Jahren, die er dort wirkte, wurden ihm vier Kinder geboren: der älteste Sohn Nikolaj (1838–1911), genannt «Kolja», der im Eisenbahnbau Karriere machte und sich später um den Nachlass seines komponierenden Bruders kümmerte, sodann der Komponist Pjotr, ferner die Tochter Alexandra (1841–1891) – «Sascha» –, verheiratete Dawydowa, und schließlich der Sohn Ippolit (1843–1927), der eine Laufbahn bei der Marine einschlug und ab 1919 das Museum in Klin leitete. Die Zwillinge Anatolij (1850–1915) und Modest (1850–1916) kamen in Alapajewsk im östlichen Ural zur Welt, wohin die Familie 1849 übersiedelte. Mit Anatolij – «Tolja» –, aus dem ein hoch angesehener Jurist wurde, hielt der Komponist zeitlebens engen Briefkontakt. Modest – «Modja» – absolvierte gleichfalls eine Juristenausbildung und war später als Dramatiker und Librettist, nicht nur für den Bruder, vor allem aber als Übersetzer, etwa von Werken Corneilles und Shakespeares, aber auch von russischer Literatur in westeuropäische Sprachen tätig. Er gehört zu den Gründern des Tschaikowsky-Museums in Klin und ist Autor der ersten großen Tschaikowsky-Biographie.
Die Ursprünge der Familie des Vaters liegen in der Ukraine. Dessen Großvater Fjodor Tschaika war ein Kosake, der sich unter Peter dem Großen in der Schlacht bei Poltawa auszeichnete. Sein zweiter Sohn, Pjotr Fjodorowitsch Tschaikowsky, aus dem Gebiet Poltawa gebürtig und später als Bürgermeister der Stadt Glasow im Gouvernement Wjatka tätig, stilisierte den Tiernamen Tschaika – Čajka (Möwe) – in den russisch klingenden Nachnamen Tschaikowsky. Sein sechstes Kind, Ilja, wurde Vater des Komponisten. Wohl durch diesen Pjotr Tschaikowsky hatte die Familie einen starken Bezug zur Gegend von Wjatka, so dass Ilja Tschaikowsky gern bereit war, dort einen Führungsposten zu übernehmen.
Alexandra Andrejewna, geborene d’Acier (1813–1854), die Mutter seiner sechs Kinder, war Ilja Tschaikowskys zweite Frau. Seine erste Frau war 1831 gestorben, aus der Ehe mit ihr brachte er die Tochter Sinaida mit in die Familie. Alexandra d’Acier war die Enkelin des Bildhauers Michel Victor Acier, des berühmten Meißener Porzellanmodelleurs. Ihr Vater André d’Acier war als Lehrer für französische und deutsche Sprache nach Russland gegangen und hatte 1800 die russische Staatsbürgerschaft angenommen.
Ilja Tschaikowsky und Alexandra Tschaikowskaja ließen ihren Kindern eine auch nach westeuropäischen Maßstäben gutbürgerliche Erziehung angedeihen, zu der eine französische Gouvernante und vor allem Musik gehörten. Die Mutter spielte Klavier und sang, im Haus befand sich eine kleine mechanische Orgel, die populäre Opernmelodien, auch aus Mozarts Don Giovanni – dem später von Tschaikowsky als geradezu heilig verehrten Opus –, spielen konnte. Selbstverständlich gab es Musikunterricht für die Kinder, unter denen sich Pjotr als besonders talentierter Pianist erwies. Die Lebensperspektive für die Tochter war eine standesgemäße Ehe – Alexandras Mann, Lew Dawydow, war Gutsverwalter der Familiengüter in Kamenka und Werbowka, auf denen der Komponist später regelmäßig zu Gast war; die Söhne erhielten Ausbildungen in den standesgemäßen Tätigkeitsfeldern Bergbau, Marine und Jura.
Auch Pjotr wurde zum Juristen bestimmt. 1850 trat er als Internatsschüler in die hoch angesehene kaiserliche Juristenschule in Petersburg ein, die Söhne aus dem niederen und mittleren Adel auf Karrieren im Staatsdienst vorbereitete. Tschaikowsky schloss diese Ausbildung im Mai 1859 ab; einen Monat später nahm er den Dienst als Referendar im Justizministerium auf. Berufsbildende Schulen vermittelten üblicherweise fachliche Qualifikation und Allgemeinbildung parallel; daher war ein früher Schuleintritt üblich. Das Jahrzehnt der Reifung vom Knaben zum jungen Mann war geprägt von einschneidenden Ereignissen. Das furchtbarste war der überraschende Cholera-Tod der Mutter, den der Vierzehnjährige als zutiefst traumatisch erlebt und zeitlebens im Gedächtnis bewahrt haben muss. Noch 1889 findet sich am 13.6. der Tagebuchvermerk: «Sterbetag meiner Mutter vor 35 Jahren.»
In den Lehr- und Studienjahren trat die Musik immer mehr in den Vordergrund, sowohl Klavierspiel, Klavierstudien und Gesangsunterricht als auch erste Kompositionen. In einer autobiographischen Skizze, die er 1889 für eine deutschsprachige Zeitschrift verfasste, sagt Tschaikowsky, sein deutscher Klavierlehrer habe ihn nicht nur an symphonische Musik, sondern auch an Mozarts Don Giovanni herangeführt; sein italienischer Gesangslehrer dagegen habe ihm Komponisten wie Rossini, Bellini und Donizetti nahegebracht. «Bis zum heutigen Tage spüre ich ein gewisses Wohlbehagen, wenn die reichverzierten Arien, Cavatinen, Duette eines Rossini mit ihren Rouladen ertönen, und gewisse Melodien Bellinis kann ich nie hören, ohne dass mir die Tränen in die Augen kommen.» Auch wenn sich der zu dieser Zeit bereits weltberühmte Komponist vor seinen deutschen Lesern für italienische Vorlieben quasi entschuldigt, wird doch deutlich, dass der Schüler Tschaikowsky Musik noch als Hobby, nicht als Beruf betrachtete. Vor allem wirft die Skizze ein Licht auf die Tatsache, dass Musikunterricht in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland noch eine Angelegenheit privater Initiative war und dass die Lehrer üblicherweise aus dem Ausland kamen. Die systematische Professionalisierung der Musikerausbildung in Russland setzte zu der Zeit ein, als Tschaikowsky die Rechtsschule besuchte.
Im Jahrzehnt seiner Jura-Ausbildung wird auch erstmals Tschaikowskys homosexuelle Entwicklung erkennbar. Internat und Monoedukation werden seinen homoerotischen Neigungen förderlich gewesen sein. Auch weiß man, dass dieser Erziehungstyp jugendliche Gewaltexzesse begünstigt – Robert Musil hat das in seinem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß thematisiert und zugleich sublimiert. Was der junge Tschaikowsky im Internat erlebt haben mag, ist unbekannt. Aus der Manuskript gebliebenen Autobiographie Modest Tschaikowskys, der gleichfalls homosexuell war, weiß man dank Alexander Poznanskys Recherchen, dass der junge Tschaikowsky durch die Begegnung mit einem Knaben namens Sergej Kirejew eine Art erotisches und künstlerisches Erweckungserlebnis gehabt haben muss. Es ist gut möglich, dass er seinem Bruder offen von dieser Sache berichtet hat, als die beiden 1867 Hapsal (Haapsalu), einen Kurort an der estnischen Küste, besuchten, was in dem kleinen Klavierzyklus Souvenir de Hapsal (Op. 2) Niederschlag fand.
Aus Modest Tschaikowskys wie auch immer stilisiertem Bericht wird deutlich, dass der Knabe nicht nur die erotischen Gefühle seines Bruders weckte, sondern so etwas wie eine metaphysische Erschütterung auslöste, die in dem emotional empfänglichen jungen Tschaikowsky künstlerische Inspiration und Affektion freisetzte. Die Knabengestalt fungiert als eine Muse, die verklärt wird und als Triebfeder für künstlerisches Schaffen dient. Von 1857/58 datiert die Vertonung eines kurzen Gedichts von Afanassij Fet, das aus dessen Zyklus An Ophelia (1842) stammt. Tschaikowsky muss es in der 1856 erschienenen revidierten Ausgabe entdeckt und darin ein Echo auf seine emotionale Verfassung gespürt haben. Es ist ein Liebesgedicht, das Hamlet an die tote Ophelia richtet. Der Text lautet in Prosaübersetzung:
Ist es nicht hier, dass du wie ein leichter Schatten, mein Genius, mein Engel, mein Freund, still mit mir sprichst und leise umherfliegst? Und du gibst schüchterne Begeisterung, und heilst die süße Krankheit, und gibst stille Traumbilder, mein Genius, mein Engel, mein Freund …
«Mein Freund» richtet sich im Russischen sowohl an einen Mann als auch an eine Frau. Tschaikowsky wählt den wiederkehrenden Vers «mein Genius, mein Engel, mein Freund» als Titel und wiederholt die Worte am Schluss noch ein weiteres Mal. Es ist ein sehr schlichtes Lied in c-Moll, der Tonart, die der junge Tschaikowsky aus der populären Beethoven-Rezeption als tragische Tonart begriffen haben mag. Zu den monotonen Akkordrepetitionen, in denen man den noch unerfahrenen Komponisten oder eine musikalische Ausdeutung der desolaten Verfassung des Autors und seines lyrischen Ichs erblicken kann, tritt eine ausdrucksvolle und in ihrer Schlichtheit edle Melodie. Der Widmungsträger ist durch 13...