FREUDS »TRAUMDEUTUNG«, KÖNIGSWEG ZUR GESTALTTHERAPIE
Vorweg
Zu den wichtigsten, einfluss- und folgenreichsten Schriften von Sigmund Freud gehört seine »Traumdeutung«. Ihre Erstausgabe erschien 1900. Bis 1925 folgten mehrere Auflagen, die Freud teils stark veränderte. Historisch interessant ist die 4. Ausgabe. Sie fällt in den Juni 1914, wenige Wochen vor Beginn des ersten Weltkriegs. 1913 hatte Freud mit dem Waffenbruder C. G. Jung gebrochen, der dann auch bezüglich der Traumdeutung einen eigenen Weg einschlug.
»Die Traumdeutung« wieder zu lesen, neu zu lesen, wörtlich zu lesen, im Ganzen zu lesen, sie vor allem im Prozess ihrer verschiedenen Stufen der Bearbeitung zu lesen, führt vor allem zu einer großen Verwunderung: Dort findet sich nicht das, was bis heute Freud unterstellt wird. Ich jedenfalls war verwundert, wie sich weit übers erwartete Maß mir zeigte, dass zentrale gestalttherapeutische Konzepte, Haltungen, Theoreme direkt auf Freud zurückgeführt werden können. Darum organisiere ich die folgende Darstellung dessen, was meine Lektüre der »Traumdeutung« zutage gefördert hat, um sechs gängige Vorurteile. In Freud lese ich kein System hinein, sondern ein Ringen um Erkenntnis heraus. Vielfach gibt Freud zu, dass er die »volle Aufklärung« eines Sachverhaltes »nicht erbringen« könne. Sein Material habe ihn »im Stich gelassen«;56 eine »Vermutung«, die er äußert, erscheint ihm »noch recht schwer erweislich« oder eine »Anschauung« sei »nicht allgemein« erwiesen«.57
Vorurteil 1: Der Analytiker deutet!
»[1900:] In der Schrift über Traumdeutung [Oneirocritica] des Artemidoros aus Daldis [in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n.Chr.] wird nicht nur auf den Trauminhalt, sondern auch auf die Person und die Lebensumstände des Träumers Rücksicht genommen, so dass das nämliche Traumelement für den Reichen, den Verheirateten, den Redner [eine] andere Bedeutung hat als für den Armen, den Ledigen und etwa den Kaufmann. [1914:] Artemidoros aus Daldis [… legte …] Wert darauf, die Deutung der Träume auf Beobachtung und Erfahrung zu gründen […]. Das Prinzip seiner Deutungskunst ist […] identisch mit der Magie, das Prinzip der Assoziation. Ein Traumding bedeutet das, woran es erinnert. Wohlverstanden, woran es den Traumdeuter erinnert! Eine nicht zu beherrschende Quelle der Willkür und Unsicherheit ergibt sich dann aus dem Umstand, dass das Traumelement den Deuter an verschiedene Dinge und jeden an etwas anderes erinnern kann. Die Technik, die ich im Folgenden auseinandersetze, weicht von der antiken in dem einen wesentlichen Punkte ab, dass sie dem Träumer selbst die Deutungsarbeit auferlegt. Sie will nicht berücksichtigen, was dem Traumdeuter, sondern was dem Träumer zu dem betreffenden Element des Traumes einfällt.«58 Diese Stelle lässt nichts zu wünschen übrig an Eindeutigkeit, zugleich ist sie überraschend, denn sie stellt, was ich über Freuds Traumdeutung zu wissen meinte und allerorten kritisiert fand, die Deutung durch den Therapeuten59 nämlich, vom Kopf auf die Füße.
1911 fügt Freud die Beschreibung einer Traumdeutung ein, mit Formulierungen wie: »Die Kranke60 findet zuerst […]. Der nächste Einfall bezieht sich auf den Satz: […]. Sie macht der Mutter den Vorwurf […] und findet diesen Vorwurf in dem einleitenden Satz des Traumes wieder: […].«61 ¿Hören wir hier nicht bereits, wie Fritz Perls prahlt, er lasse »die Klientin [sic] sich bei der Arbeit die Finger selbst schmutzig machen«?62 Freud 1914: »Ich vermied es sorgfältig, [der Patientin] die Bedeutung der Symbole zu suggerieren.«63 In Bemerkungen zur Traumdeutung von 1923 betont Freud: Symbolübersetzungen ohne Mitwirkung der Träumenden, also ohne deren Assoziationen, werden den Patienten von den Analytikern allenfalls »vorgeschlagen«, sie seien nicht mehr als »wahrscheinlich«.64
Durch einen literarisch überlieferten Traum65 fühlte Freud sich 1900 an »Gullivers Reisen« erinnert. In dem Traum kamen »riesenhafte Personen und furchtbares Geklapper« vor, »das ihre aufeinander schlagenden Kiefer beim Kauen erzeugte«. Als der Träumer dann »erwachte, hörte er den Hufschlag eines vor seinem Fenster vorbeigaloppierenden Pferds«. »Ohne alle Unterstützung von Seiten des Autors« rief »der Lärm der Pferdehufe« bei Freud »Vorstellungen aus dem Erinnerungskreis von Gullivers Reisen, Aufenthalt bei den Riesen […] und bei den tugendhaften Pferdewesen« wach. »[Zusatz hierzu 1925:] Die obige Deutung auf eine Reminiszenz aus Gullivers Reisen ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie eine Deutung nicht [sic] sein soll. Der Traumdeuter soll nicht [sic] seinen eigenen Witz spielen lassen und die Anlehnung an die Einfälle des Träumers hintansetzen.«66 Die selbstkritische Anmerkung beweist, dass Freud auch 1925 die von den Assoziationen des Träumers unabhängige Deutung verwarf. Zudem offenbart sie einen zur Selbstkritik fähigen Freud, der dabei sich ertappen mag, nicht den von ihm aufgestellten Prinzipien treu zu sein.
Vorurteil 2: Der Patient schluckt!
Aus Freuds Analyse eines eigenen Traums, des berühmten »Traums von Irmas Injektion«: Freud machte in diesem Traum Irma, einer Freundin und Patientin Freuds, »Vorwürfe«, sie habe die von ihm angebotene psychoanalytische »Lösung nicht akzeptiert«; im Traum sagte er schließlich zu ihr: »Wenn du noch Schmerzen hast, ist es deine eigene Schuld.« Freud »merkte« (!) an dem Satz, den er im Traum zu Irma sagt, dass er »vor allem nicht schuld sein will an den Schmerzen«.67 Zwar zeigte Freud sich wenig erfreut, dass die Patientin seine »Lösung nicht akzeptiert«, zumindest indirekt gesteht Freud hier jedoch zu, dass niemand anderes als die Patientin die Deutungshoheit habe.
Darüber hinaus behandelt der »Irma-Traum« prototypisch ein Motiv, das bis heute seine Aktualität nicht verloren hat: Die Schuldgefühle, die Trauer und deren Projektion in Hass auf den Kranken, die beim Psychotherapeuten sich genauso einstellen wie beim Arzt, wenn die Kur68 nicht anschlagen will. Noch so oft kann ein Arzt sich sagen, »natura sanat, non medicus« (die Natur heilt, nicht der Arzt),69 oder der Psychotherapeut, er sei ja mehr nicht als ein »Steigbügelhalter«70 der vom Klienten selbst zu verantwortenden Prozesse: wenn es zu keinem Erfolg der »Kur« kommt, ist das frustrierend.
Aber in der Tat, niemand anderes als der Patient entscheidet nach Freud über die Richtigkeit der Deutung. Aus einer anderen Traumdeutung (1911): Die Patientin träumte von einem Hut, »dessen Seitenteile nach abwärts hängen (Beschreibung hier stockend) und zwar so, dass der eine tiefer steht als der andere«. »Da sie zu dem Hut im Traume keinen Einfall produzieren« konnte, sagte Freud zu ihr: »Der Hut ist wohl ein männliches Genitale.« Freud fügt an, »absichtlich« habe er sich »der Deutung« des ungleichen Herabhängens der beiden Seitenteile »enthalten«. »Bemerkenswert« sei es gewesen, »wie sich die Träumerin nach« der »Deutung« des Hutes als männliches Genitale »benimmt«: Zunächst zieht sie »die Beschreibung des Hutes zurück«, » schweigt eine Weile und findet dann den Mut zu fragen, was es bedeute, dass bei ihrem Manne ein Hoden tiefer stehe als der andere, und ob es bei allen Männern so sei. Damit war dies sonderbare Detail des Hutes aufgeklärt und die ganze Deutung von ihr [sic] akzeptiert.«71
Dieser Bericht ist auch noch in weiterer Hinsicht interessant: Freud schlägt die symbolische Deutung einerseits erst vor, nachdem die Patientin keine eigene Assoziation zum Element »Hut« hat oder preisgibt, quasi als Angebot, keineswegs schon als fertige Deutung. Es handelt sich eher um eine Provokation – aufgehängt möglicherweise an ihrer »stockenden« Beschreibung und nicht an dem Wort »Hut« – als um eine sachlich distanzierte, objektivierende Deutung. Andrerseits teilt er der Patientin auch nicht seine vollständige Assoziation zum »Hut« mit. Er wartet ab, ob die Provokation ausreicht, damit ihre eigene Imagination Raum bekommt. »Symbolübersetzungen, die man für wahrscheinlich [sic] hält« seien, wie Freud 1923 in einer anderen Schrift betont, dem Patienten allenphalls »vorzuschlagen«.72
Über einen Patienten sagt Freud, dass er dem therapeutisch »nicht günstigen Typus von Kranken« angehöre, »die bis zu einem gewissen Punkt der Analyse überhaupt keine Widerstände...