Kapitel 1
Warum Bestrafen nicht hilft
»Mein Kind hört einfach nicht auf mich«, sagte mir eine Mutter. »Egal was ich sage, ich könnte ebenso gut gegen die Wand reden. Die Hausaufgaben sind ein Albtraum, Haushaltspflichten sind ein ständiger Kampf, eigentlich ist alles ein Kampf.«
»Was haben Sie bei Ihrem letzten Kampf gemacht?«, fragte ich.
»Zuerst habe ich sie angeschrien. Dann habe ich damit gedroht, ihr etwas wegzunehmen.«
»Erzählen Sie mir ein Beispiel.«
»Anstatt ihre Hausaufgaben zu machen, spielte sie den ganzen Abend auf ihrem Handy irgendwelche Spiele. Also nahm ich ihr für zwei Wochen ihr Handy weg.«
»Was geschah dann?«
»Es brach die Hölle los. Sie schrie mich an, sagte, dass sie mich hasst und nie wieder mit mir sprechen will. Sie vergeudete weitere zwei Stunden damit, in ihrem Zimmer zu heulen. Mir gehen schon die Möglichkeiten aus, ihr noch etwas wegzunehmen oder zu verbieten. Es hilft alles nichts!«
Kommt Ihnen das bekannt vor?
Die meisten Eltern haben ihren Kindern schon irgendwann einmal gedroht. Wenn sie uns gegenüber frech sind, kürzen wir die Fernsehzeit. Wenn sie die Augen verdrehen, sagen wir ihre Verabredung zum Spielen ab. Wenn sie eine schlechte Note heimbringen, verwehren wir den versprochenen Ausflug in einen Freizeitpark. Wenn sie ihr Zimmer nicht aufräumen, nehmen wir ihnen ihr iPod weg. In einem ständigen Kreislauf gefangen aus »Wenn du … nicht machst, dann werde ich …« erschöpfen wir uns bei dem Versuch, unsere Kinder unter Kontrolle zu bringen.
Die meisten Eltern finden sich in einem endlosen Tauschhandel mit ihren Kindern wieder. Ich nenne das den Erziehungsansatz »Gefangener-Aufseher«, wobei der Aufseher die Handlungen des Kindes engmaschig überwachen muss. Das Kind, in der Rolle des Gefangenen, macht etwas richtig oder falsch. Mutter oder Vater, in der Rolle des Aufsehers, eilt herbei, um entweder eine Belohnung oder eine Strafe auszuteilen. Bald ist der Gefangene für die Regulierung seines Verhaltens von der Kontrolle des Aufsehers abhängig.
Dieses System von Belohnung und Strafe untergräbt die Fähigkeit des Kindes, Selbstdisziplin zu erlernen, und unterläuft damit sein Potenzial der Selbstregulierung. Indem das Kind zur Puppe wird, deren Leistung völlig abhängig vom Aufseher ist, lernt es, von außen motiviert statt von innen gelenkt zu werden. Im Lauf der Jahre wird unklar, wer hier eigentlich der Aufseher und wer der Gefangene ist, da sich beide in einem ewigen Kreislauf von Manipulationen gegenseitig quälen.
Es ist für kein Elternteil eine glückliche Situation, in der Rolle des Aufsehers zu sein. Ich fragte Eltern, ob sie diese Rolle mögen, worauf sie vehement antworteten: »Absolut nicht.« Wenn ich sie jedoch darauf hinwies, dass sie diese Rolle spielen, und ihnen vorschlug, damit aufzuhören, schauten sie mich völlig entgeistert an.
Ich sagte ihnen dann: »Das Maßregeln Ihres Kindes, indem Sie ihm das Handy wegnehmen oder es anschreien, ihm etwas verbieten oder ihm eine Ohrfeige geben, setzt das Problem nur endlos fort, anstatt es zu lösen. Sie erleben es ja unmittelbar, dass das strafende Disziplinieren nicht funktioniert. Andernfalls würde sich Ihr Kind inzwischen anders verhalten.«
Wenn wir uns im Umgang mit unseren Kindern von der Überzeugung leiten lassen, es sei ein wesentlicher Aspekt unserer Elternrolle, sie durch Strafe zu disziplinieren, gehen wir davon aus, dass Kinder grundsätzlich undiszipliniert sind und zivilisiert werden müssen.
Glaubt etwa jemand nicht, dass wir unsere Kinder strafend disziplinieren müssen? Auch ich habe das jahrelang geglaubt. Ich habe geschrien, habe es mit Aus-Zeiten probiert und gedroht. Ich glaubte, das würde von mir als Mutter verlangt. Kein Wunder also, dass Eltern, denen ich sage, Disziplinierungsmaßnahmen seien nicht nur unnötig, sondern würden das negative Verhalten, das sie zu korrigieren versuchen, in Wirklichkeit weiter fördern, den Eindruck haben, ich wollte ihnen ein Grundrecht absprechen.
»Wie meinen Sie das?«, fragen Eltern dann entrüstet. »Wie könnte ich damit aufhören, mein Kind zu bestrafen? Ohne Abschreckung oder Strafe würde es ja wer weiß was tun.« Wenn ich den beinahe panischen Tonfall dieser Eltern höre, wird mir klar, wie sehr sich bei den meisten von uns die Überzeugung festgesetzt hat, dass strafende Disziplinierung ein Grundpfeiler von Erziehung ist. Ich sehe auch die Auswirkungen dieses Erziehungsstils, bei dem Kinder von der ständigen Kontrolle so abhängig werden, dass sie nichts tun, solange ihnen nichts angedroht oder zur Belohnung versprochen wird.
Wenn wir uns im Umgang mit unseren Kindern von der Überzeugung leiten lassen, es sei ein wesentlicher Aspekt unserer Elternrolle, sie durch Strafe zu disziplinieren, gehen wir davon aus, dass Kinder grundsätzlich undiszipliniert sind und zivilisiert werden müssen. Ironischerweise sind die am stärksten durch Strafe disziplinierten Kinder häufig diejenigen, die am wenigsten dazu in der Lage sind, sich selbst zu kontrollieren.
Ohne den Gedanken jemals wirklich zu Ende gedacht zu haben, sind wir zu der Überzeugung gelangt, ohne strafende Disziplinierung würden Kinder aus dem Ruder laufen. Jedes Fehlverhalten ihrerseits betrachten und interpretieren wir durch diese Brille. Ich empfehle genau das Gegenteil. Was wir für Disziplinierung halten, ist abträglich und führt zum Scheitern der Bemühungen, bei Kindern das ersehnte Verhalten hervorzubringen.
Das Wort »Disziplin« hatte ursprünglich eine positive Bedeutung, man verband es mit Erziehung und Bildung. Aber fragen Sie heute beliebig Eltern, was sie unter Disziplin verstehen, so werden diese antworten, dass es eine Strategie zur Kontrolle kindlichen Verhaltens ist – eine Strategie, bei der es darum geht, dass Eltern ihren Kindern gegenüber ihren Willen durchsetzen.
Eltern grübeln tatsächlich über die Frage: »Was kann ich meinem Kind verbieten oder wegnehmen, woran hängt sein Herz besonders, damit es endlich folgsam wird?« Dabei überlegen sie nicht einmal, ob das, was sie verbieten, in irgendeinem Verhältnis zum Verhalten steht. Die Eltern glauben, sie würden ihr Kind wachrütteln und es würde folgsamer werden, wenn sie ihm etwas wegnehmen oder verbieten, woran es besonders hängt.
Diesen Ansatz wollen wir auf ein Beispiel aus dem Erwachsenenleben übertragen, um zu zeigen, wie unsinnig er ist. Sie haben sich zu einer Diät entschlossen und Ihr Partner erwischt Sie mit einer Tüte Donuts. Daraufhin nimmt er Ihnen den Autoschlüssel weg, damit Sie nicht mehr zur Bäckerei fahren können. Wie, meinen Sie, fühlen Sie sich dabei? Oder Sie verspäten sich zu einer Essensverabredung mit einer Freundin und diese verlangt, dass Sie ihr Ihren Lieblingsschmuck geben. Auch hier, wie würden Sie sich dabei fühlen?
Ich glaube, wir sind uns einig, dass solche Aktionen kontraproduktiv für die Entwicklung einer guten Ehe oder echten Freundschaft sind, geschweige denn verhindern, dass Sie je wieder Donuts essen oder sich verspäten. Vieles von dem, was wir Disziplinierung nennen, ist in Bezug auf unsere Kinder ebenso unsinnig – und wird ebenso übel genommen.
Fragen Sie sich einmal, welcher Zusammenhang jeweils zwischen den folgenden Aussagen besteht:
−Wenn du abnimmst, besuchen wir die Universal Studios.
−Wenn du Mitglied der Schwimmmannschaft wirst, darfst du eine Übernachtungsparty mit deinen Freunden feiern.
−Wenn du eine Eins bekommst, darfst du mit Oma ins Kino gehen.
−Wenn du jetzt nicht sofort deine Hausaufgaben machst, kaufe ich dir die Schuhe nicht.
−Wenn du nicht anständig mit mir sprichst, nehme ich dir dein Handy weg.
−Wenn du mich weiterhin belügst, bekommst du drei Wochen Hausarrest.
Eltern geben mir gegenüber zu: »Ich spreche Drohungen aus, ohne darüber nachzudenken. Ich bin oft so wütend, dass sie einfach aus meinem Mund kommen. Habe ich etwas angedroht, muss ich es auch durchführen, sonst denkt mein Kind, ich würde das, was ich sage, nicht ernst meinen, und dann ist die Hölle los.«
Ich antworte: »Vielleicht bessert sich die Situation kurzfristig. Aber hat sich durch dieses Vorgehen irgendetwas dauerhaft zum Positiven verändert?«
Jedes Elternteil, dem ich diese Frage stelle, gibt zu: »Nein, nie.« Eine Person bekannte: »Als mein ältestes Kind vier Jahre alt war, habe ich damit aufgehört. Ich dachte, so kann das nicht funktionieren. Menschen, Kinder sind von Natur aus gut! Heute ist sie elf Jahre alt und hat nie eine Erpressung, Drohung oder Bestrafung erfahren.« Es ist eine Tatsache, dass dieser strenge, auf Dominanz beruhende Ansatz nichts Positives erreicht. Studien haben hingegen ergeben, dass die Methode des Bestrafens lang anhaltende nachteilige Folgen hat.
Wenn ich dies Eltern gegenüber anspreche, antworten sie oft: »Aber ich wurde doch auch gemaßregelt. Mein Vater hat mich halb tot geprügelt – und es hat mir nicht geschadet.«
Ich lasse mich dann auf keine Debatte darüber ein, ob es diesem Elternteil wirklich nicht geschadet hat. Ich habe gemerkt, dass solche Diskussionen den Kern der Sache nicht treffen. Stattdessen frage ich: »Wie haben Sie sich damals als Kind gefühlt, wenn Sie bestraft oder verprügelt wurden?«
Wenn diese Mutter/dieser Vater ehrlich ist, antworten sie etwa: »Ich habe es gehasst« oder »Ich habe viel...