Eine Geschichte des Unternehmertums
Es gibt zwei Wege zu einem möglichen Erfassen der Phänomene. Der eine Weg ist der theoretische. In diesem Fall wäre es der Versuch, mittels ökonomischer Theorie eine stimmige Definition der Unternehmerfunktion abzuleiten. Im Bereich der Unternehmertheorie hat sich eine Tradition besonders verdient gemacht: die Wiener oder Österreichische Schule der Ökonomik. Eine Auseinandersetzung mit dieser Tradition ist die Voraussetzung zu einem tieferen Verständnis des Unternehmertums. Doch heute wird gemeinhin übersehen, dass diese Tradition ursprünglich in ein interdisziplinäres Umfeld im alten Wien eingebettet war. Das bedeutet, sie ist unentbehrliches Hilfsmittel der Erkenntnis in enger Kooperation mit anderen Disziplinen, aber kein geschlossenes Lehrgebilde, das für sich genommen die Welt erklärt. Der theoretische Weg läuft stets ein wenig ins Leere, wenn er sich nicht immer wieder an den Widersprüchen und Paradoxien der Realität reiben muss.
Dieses Reiben an der Realität eröffnet die zweite Möglichkeit, herauszufinden, was Unternehmertum eigentlich bedeutet, nämlich der historische Weg. Es handelt sich dabei um den systematischen Versuch, bisherige Erfahrungen und Dokumente menschlichen Handelns nach Besonderheiten zu untersuchen, die eben auf ein besonderes Phänomen hinweisen: das Unternehmertum. Der erste Ansatzpunkt ist stets der spracharchäologische, die Überprüfung, welche Erfahrungen, Beobachtungen und Ideen eine bestimmte Begriffsbildung motiviert haben. Der historische Erkenntnisweg verleitet jedoch zu einer gewissen Blindheit; die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Fakten blendet. Daher muss sich der historische Weg stets an theoretischen Erklärungsversuchen reiben, die Versuche darstellen, den Sinn hinter den dokumentierten Worten und Taten der Menschen zu erschließen.
Was also ist Unternehmertum? Weder Theorie noch Geschichte können, losgelöst voneinander, diese Frage zufriedenstellend beantworten. Theorie bietet in der Engführung nur die leere Tautologie, dass eine Definition eben genau das enthält, was man ihr willkürlich zugeschrieben hat. Geschichte bietet in der Engführung nur die blinde Sammlung willkürlich ausgewählter Dokumente, Daten und Zitate. Noch schlimmer ist die heute beliebte Zeitgeschichte: Diese betrachtet überhaupt nur aktuelle »Erfolgsgeschichten«, mediale Happen und persönliche Anekdoten. Die typische Unternehmerzeitgeschichte auf den Bestsellerlisten sieht so aus: Wähle momentan erfolgreich scheinende Unternehmer und Unternehmen und zeichne deren Wege nach, um sie als allgemein gültige Erfolgsrezepte zu verkaufen. Dabei unterläuft meist ein Irrtum, der als Halo-Effekt bekannt ist. Diesen Effekt entdeckte der amerikanische Psychologe Edward Thorndike während des Ersten Weltkriegs. Er untersuchte, wie militärische Vorgesetzte ihre Untergebenen bewerteten. Dabei erkannte er, dass positive Kriterien wie charakterliche Eignung, körperliche Kondition, Intelligenz oder Eignung für Führungsaufgaben miteinander korrelierten. Offiziere, die Soldaten in einer Hinsicht gut bewerteten, etwa aufgrund ihres körperlichen Eindrucks oder ihres intelligenten Aussehens, schrieben ihnen auch in allen anderen Bereichen positive Eigenschaften zu. Thorndike bezeichnete dieses Phänomen als Halo-Effekt.
Auch beim Vergleich von Unternehmer und Unternehmen greift oft der Halo-Effekt, wie Phil Rosenzweig in seinem Buch zu diesem Phänomen aufzeigte. Momentaner Unternehmenserfolg wird mit den überlegenen Eigenschaften des jeweiligen Unternehmens assoziiert. Doch jede Langzeitbeobachtung von Erfolgsunternehmen ist ernüchternd. Wie gewonnen, so zerronnen. Von den 500 Unternehmen aus dem S&P 500 des Jahres 1957 waren vierzig Jahre später nur noch 74 Teil des Index, der Rest war inzwischen verdrängt, aufgekauft oder aufgelöst worden. Von den überlebenden Unternehmen hatten sich dabei nur 12 besser entwickelt als der Index. Rosenzweig zitiert Studien, die zeigen, dass der jeweils eigene Stil von Führungspersönlichkeiten in puncto Investitions- und Finanzpolitik bzw. die jeweiligen Managementmethoden mit bloß vier bis zehn Prozent in die Varianz der Unternehmensperformance einfließen. Der Halo-Effekt von Spitzenmanagern und ihren Erfolgsrezepten täusche daher:
Die Verwechslung von Ursache und Wirkung kann uns dazu verleiten, die vermeintlichen Erfolgsrezepte einiger außergewöhnlich erfolgreicher Unternehmen blindlings zu kopieren, ohne uns zu vergegenwärtigen, dass diese Rezepte zugleich mit einem erhöhten Risiko des Fehlschlags verbunden sind, was die durchschnittlichen Erfolgschancen eher noch mindert. […] In ihrer Summe entlarven diese Punkte den fiktiven Kern vieler Wirtschaftsbücher, wonach es in der Macht eines jeden Unternehmens stehe, unabhängig vom Verhalten des Marktumfelds und allein durch Befolgen bestimmter Regeln in die Riege der Spitzenunternehmen aufzusteigen. Damit sind wir nicht weit entfernt von einer Ratgeberliteratur, die ihren Lesern erzählt, es stünde jedem von ihnen frei, in fünf einfachen Schritten zum Millionär zu werden, binnen zwei Wochen zehn Kilo abzunehmen oder die Macht der inneren Seelengröße zu entdecken.1
Der Schluss liegt nahe, dass die meiste Unternehmerliteratur in den Mülleimer gehört. Doch dieser Schluss ist übertrieben. Rosenzweigs Untersuchungen können nicht ausschließen, dass die Unternehmen, deren Erfolgsgeschichte zu einem Ende gelangte, von den eigenen Prinzipien abgekommen waren. Um ein Unternehmen wach zu halten, ist laufende Wachsamkeit nötig, ansonsten neigen alle menschlichen Institutionen dazu, mit der Zeit zu schläfrigen Riesen zu werden, die vergessen, wozu sie eigentlich da sind. Dennoch liegt Rosenzweig mit seiner Grundbotschaft wohl richtig, die etwas Bescheidenheit lehrt.
Der Halo-Effekt ist im Kern ein statistischer Irrtum. Ein einfaches Beispiel sollte dagegen wappnen: 1300 Personen würfeln mehrmals hintereinander, um ihr Würfelglück zu vergleichen. Eine schafft unglaubliche vier Mal hintereinander einen Sechser und erweist sich damit als echtes Würfeltalent. Jede der anderen 1299 Personen versucht nun, das Erfolgsgeheimnis des Würfeltalents zu kopieren, stellt Fragen oder Beobachtungen an und setzt die Erkenntnisse bei einer nächsten Würfelrunde in die Praxis um. Das scheint relativ schwierig zu sein, da keine Einigkeit vorherrscht, worauf zu achten sei. Viele verbessern in der zweiten Runde ihr Würfelglück, und einer Person gelingt es sogar, nach nur einer Runde die erfolgreiche Würfelmethode zu erlernen und korrekt anzuwenden, denn sie würfelt nun, nach mangelndem Erfolg in der Vorrunde, problemlos vier Sechser. Beeindruckt von dieser schnellen, unglaublichen Verbesserung bemühen sich alle anderen, vom offensichtlich besten Schüler des Würfelmeisters zu lernen. Sie hören sich seine Ratschläge an und versuchen es erneut. Einige verbessern wieder ihre Resultate, und einer Person gelingt es nun, beim dritten Mal, die Reihe von vier Sechsern fortzusetzen. In jeder Runde, so stellt sich heraus, wird ein neuer Würfler durch Übung und achtsame Imitation ein Meister und bietet Hoffnung und Ansporn für die übrigen, die bislang scheiterten. Der Leser weiß natürlich, dass das Würfeln (näherungsweise) ein unabhängiges Zufallsergebnis ist. In der realen Welt abseits der Spiele sind Zufälle aber nicht so leicht zu erkennen. Je länger die historische Perspektive, desto eher lassen sich Muster im Chaos der Zufälligkeiten und Unfälle erkennen.
Die längste Perspektive bietet meist die »Spracharchäologie«, das etymologische Nachverfolgen der Begriffe, bis man auf jene Phänomene stößt, die Menschen zur Bildung neuer Konzepte bewegten. Diese Begriffsgeschichten sind fast immer widersprüchlich, inkonsistent und manchmal sogar irreführend. Doch sie eröffnen ein Spektrum realer Eindrücke und Interpretationen, auch wenn erstere verzerrt und letztere oft falsch sind. Wörter wechseln zwar oft ihre Bedeutung, doch lernt man so zumindest etwas über die Ursprünge und Wandlungen eines Begriffs.
Das Wort »Unternehmer« sieht im Deutschen täuschend einfach und natürlich aus, erscheint es doch als bloße Zusammensetzung zweier gängiger Grundwörter. Dieser Eindruck täuscht, denn das Wort ist in dieser Verwendung viel jünger – überraschenderweise nämlich nur wenige Jahrhunderte alt. Das ist ein erster Hinweis darauf, dass das Phänomen des Unternehmertums erst mit Entwicklung einer besonderen wirtschaftlichen Dynamik auffiel, die nicht schon immer vorhanden war. Diese Zunahme an Dynamik wird von den meisten Beobachtern der Geschichte unterschätzt. Tatsächlich wurden mehr als 97 Prozent des materiellen messbaren Wohlstands (Einkommen hinsichtlich Güterkaufkraft und Güterauswahl) der Menschheit in den letzten 0,01 Prozent der Menschheitsgeschichte geschaffen.
Dass Begriffe von neuen Bedeutungen überlagert werden, kommt häufig vor. Oft hat man es mit sogenannter »Volksetymologie« zu tun, wo ähnlich klingende Begriffe verwechselt oder zusammengelegt werden. Wenn man vor der Neuzeit vom »unternehmen« sprach, so hatte dies eine bloß wörtliche Bedeutung. Ein Beispiel, das die Gebrüder Grimm in ihrem Wörterbuch anführen, ist etwa:
zwai starcke sper si under namen
Zwei starke Speere nahmen sie unter [die Arme].
Der Begriff Unternehmer jedoch leitet sich nicht von dieser Zusammensetzung ab. Das Wort fand erst später über einen Umweg ins Deutsche Eingang. Im Französischen gibt es ein ähnliches Wort: entreprendre. Wörtlich bedeutet es allerdings nicht unternehmen, sondern zwischennehmen. Auch das französische Wort ist allerdings eine falsche...