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Unter Buddhas Augen
Ihr Name war Zakia. Kurz vor Mitternacht am klirrend kalten Vorabend des persischen Neujahrsfestes lag sie auf ihrer dünnen Matratze und dachte nach. Sie trug ein langes Kleid über ihren Beinkleidern, einen abgetragenen rosaroten Pullover und einen langen orange-violetten Schal. Einen Mantel besaß sie nicht. Vor der Matratze standen ordentlich nebeneinander hochhackige Peeptoe-Pumps. Gleich daneben lag ein Foto von Ali, dem Jungen, den sie liebte. Was sie anhatte, eignete sich eigentlich nicht für das, was sie vorhatte – über die Berge zu fliehen –, aber sie wollte ja auch heiraten und an ihrem Hochzeitstag schön aussehen.
Es war die Nacht auf den 21. März 2014, nach dem persischen Kalender der 1. Farvardin 1393. Zakia hatte schon oft daran gedacht, aus dem Frauenhaus von Bamiyan auszureißen, das die letzten sechs Monate, seit sie ihr Zuhause verlassen hatte, um Ali zu heiraten, ihre Zuflucht und zugleich ihr Gefängnis war. Aber nie hatte sie den Mut dazu aufgebracht. Zwei der anderen Mädchen, mit denen sie den Raum teilte, waren ebenfalls wach und warteten darauf, dass sie den ersten Schritt tat. Zakia hatte Angst, wusste aber auch, dass die Zeit knapp wurde und eine günstigere Gelegenheit nicht in Aussicht war.
Zakia war achtzehn, also volljährig. Sie konnte sich nach afghanischem Recht frei bewegen. Doch das Recht ist immer abhängig von dem, was die Menschen daraus machen, und nirgendwo bewahrheitet sich dieser Satz mehr als in Afghanistan. Was Zakia vorhatte, würde nicht nur ihr Leben und das von Ali, der auf der anderen Seite des Tals auf sie wartete, von Grund auf verändern, sondern auch das Leben all derer, die sie kannte. Ihr Vater Zaman, ihre Mutter Sabza, ihre vielen Brüder und ihr Cousin – sie alle werden den Hof verlassen, die Verfolgung aufnehmen und öffentlich geloben, Zakia und ihren Geliebten zu töten. Alis Vater würde sich in Schulden stürzen müssen, die Ernte der Familie auf Jahre hinaus verpfändet sein und für den ältesten Sohn kein Erbe übrigbleiben. Andere werden auf unerwartete Weise betroffen sein. Eine Frau namens Fatima Kazimi, die dem Frauenministerium in Bamiyan vorstand und Zakia unter ihren Schutz gestellt hatte, würde ins Exil nach Afrika fliehen müssen. Shmuley Boteach, ein Rabbi aus New Jersey, der in jener Nacht noch nicht einmal wusste, wie der Name Zakia ausgesprochen wird, würde sich aufs intensivste mit ihrem Fall befassen und sich schließlich vor den obersten Instanzen der US-amerikanischen Regierung für sie einsetzen. Im Laufe all dessen sollte dieses Mädchen, das aus armen Verhältnissen kam und keine Bildung genoss, das nicht bis zehn zählen konnte und nie einen Fernseher gesehen hatte, zum bekanntesten weiblichen Gesicht Afghanistans werden. Sie wurde zu einer Heldin für alle jungen afghanischen Frauen, die davon träumen, einen Mann zu heiraten, den sie lieben, anstatt einen Unbekannten, der für sie ausgesucht wurde. Die konservativen Stammesältesten jedoch sollten Zakia zur gefallenen Frau herabwürdigen, deren Verhalten die soziale Ordnung der patriarchalen Gesellschaft bedrohte und einen weiteren Beleg für den schädlichen Einfluss von Fremden auf die traditionelle Kultur Afghanistans lieferte.
Die Artikel, die ich über Zakia und Ali 2014 für die New York Times geschrieben habe, erzürnten das konservative Establishment. Ich ahnte damals noch nicht, dass ich für die beiden schon bald die größte Hoffnung sein würde, dass sich unsere Leben auf eine Weise miteinander verflechten sollten, die meine eigenen Werte und professionellen Standards bedrohte. In jener Nacht, am Vorabend der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche und des persischen Neujahrs, als ich mich drei Tagesreisen von ihnen entfernt aufhielt, wusste ich nichts von ihren Plänen.
Einen Monat zuvor hatte ich sie in Bamiyan besucht. Als ich später von ihrer Flucht erfuhr, konnte ich mir die Szene genau vorstellen. Mir kam Robert Brownings Gedicht »Porphyria’s Lover« in den Sinn, in dem es um die Ungeduld geht, mit der der Liebste erwartet wird:
Heut Abend setzte früh der Regen ein,
Schon war der grimme Wind erwacht,
Die Ulmenwipfel zaust’ er ganz gemein
Und rührte auf den See mit Macht:
Ich lauschte, und mein Herz war aufgebracht.
Man setze für Ulmen Weißbirken ein, wie sie sich in stolzen Doppelreihen auf der südlichen Seite des Bamiyan-Tals, wo das Frauenhaus steht, entlang der Feldwege erstrecken. Hohe, schlanke Bäume, die an die wegsäumenden Zypressen von Etrurien erinnern, außer dass ihre silbrigen Blattunterseiten und die helle Rinde im Mondlicht schimmern. Die Provinz Bamiyan liegt am Rande des Hindukusch-Gebirges, eine abgeschiedene Landschaft voller grüner Täler zwischen kargen, unwegsamen Bergausläufern. Ihre gleichnamige Hauptstadt breitet sich auf zwei Ebenen aus. Auf der unteren befindet sich die Altstadt, eine Ansammlung von Lehmbauten, wie es sie schon vor Tausenden von Jahren gegeben haben mochte, durchsetzt mit moderneren Betonkästen. Die Metalltüren der Geschäfte im Basar sind in Primärfarben gestrichen. Ganz in der Nähe verläuft der Fluss, über den noch Eisschollen trieben, mit Restschnee an den Ufern.
Um einiges höher und weiter im Süden gelegen, befinden sich auf einem breiten Plateau der kleine Flughafen, die dazugehörigen Terminals aus Containern und eine Ansammlung von Gebäuden jüngeren Datums, genutzt vor allem von Regierungsbehörden und Hilfsorganisationen. Sie wurden mit Hilfe von ausländischen Geldspenden entlang der frisch asphaltierten Straßen errichtet, die ihrerseits dem Geld und der Ingenieurskunst von Japanern und Südkoreanern zu verdanken sind, schnurgerade verlaufen und im Nichts enden. Eines der Gebäude ist das Frauenhaus, in dem sich Zakia versteckt gehalten hatte.
In Bamiyan-Stadt gab es unter günstigen Umständen rund vier Stunden Strom am Tag. So spät in der Nacht brannte nirgends Licht, nur das Firmament schimmerte. Früher am Abend hatte es leicht geregnet. Als gegen Mitternacht die Temperaturen sanken, war der Regen in Schnee übergegangen.
Von der wunderschönen Birkenallee aus, die zum Fluss hinunterführt, lassen sich selbst im Dunkeln die etwa drei Kilometer entfernten Felsen erkennen, die nördlich des Flusses aufragen und in deren Nischen die großen Buddha-Statuen gestanden hatten. Allein ihre Größe ist beeindruckend, ihr Anblick unvergleichlich. Die Nelsonsäule vom Trafalgar Square würde sich selbst in der kleinsten, östlichen Nische, dem einstigen Schrein der sogenannten Mutterkönigin Shahmama, verlieren; in der größeren Nische im Westen, die den König Solsal enthielt, hätte auch die Freiheitsstatue Platz gefunden. Steinmetze der Spätantike hatten den Stein in lebenslanger, hingebungsvoller Arbeit mit Hammer, Picke und Meißel behauen. Solsal und Shahmama waren die beiden größten stehenden Buddhas auf unserem Planeten. Sie standen vierzehnhundert Jahre, bevor sie 2001 innerhalb weniger Tage von den Taliban zerstört wurden, die mit Panzern vorgefahren kamen und hochexplosive Ladungen auf sie abfeuerten. Die Taliban zogen während ihrer Schreckensherrschaft randalierend durch das Tal und töteten Hunderte der dort ansässigen Hazara, teils aufgrund ethnischer Ressentiments (sie sind asiatischer und nicht indoeuropäischer Herkunft), teils aus religiösen Motiven (Hazara sind zwar auch Muslime, aber nicht sunnitischen, sondern schiitischen Bekenntnisses). Allerdings konnten die Taliban nicht die gesamte riesige Felsformation aus Sandstein zerstören, mit jenem mattgolden Schimmer, der auch nachts einen faszinierenden Anblick bietet. Zwischen den Nischen der großen Buddhas und um sie herum verzweigt sich ein Geflecht aus uralten Stollen und Höhlen, Mönchszellen und Schreinen, von denen manche so groß sind wie der Innenraum einer europäischen Basilika, andere wiederum sind winzig kleine Gelasse längst verstorbener Eremiten. Die Felsen selbst scheinen behauen und geglättet worden zu sein, bevor man sie vor fast anderthalbtausend Jahren ausgehöhlt hatte.
Heute bilden sie nur noch die Kulisse für die Geschichte des Liebespaares Zakia und Ali, die als kleine Kinder mit ihren Familien vor den Taliban in die höheren Bergregionen geflohen waren und sich erst nach deren Abzug zurückgewagt hatten. Was vor langer und nicht so langer Zeit hier geschah, machte aus den beiden jungen Leuten das, was sie heute sind. Es prägte nicht nur das Schicksal, dem sie trotzten, sondern auch jene Bestimmung, der sie in jener Nacht folgen sollten, als in den Bergen ringsum noch der Winter herrschte und das persische neue Jahr begann. Auf seltsame Weise und völlig unerwartet hatten die Taliban Zakias und Alis Welt auf den Kopf gestellt und übten auch einen entscheidenden Einfluss auf ihre Liebesgeschichte aus. Ohne die Taliban hätte der Westen nicht interveniert, und ohne westliche Intervention wäre die Geschichte von Zakia und Ali eine kurze mit blutigem Ende geworden.
Die Warlords, die die Taliban bekämpft und später die afghanische Regierung maßgeblich mitgestaltet hatten, verhielten sich in allen Belangen, die Frauen betrafen, nicht besser, manchmal sogar noch schlimmer als die Taliban. Nur auf Drängen des Westens, gleiche Rechte für Frauen zu schaffen, wurden eine Verfassung und Gesetze in Kraft gesetzt, die Männer und Frauen zumindest nominell gleichstellten. Praktische Konsequenzen blieben aus. Als vor wenigen Jahren die Taliban an die Macht zurückzukehren drohten, waren es die afghanischen Staatslenker und ihre westlichen Verbündeten leid, sich mit den...