2.1 Das Ding an sich
Die Einladung, das Phänomen ›Entscheiden‹ aus selbstverständlichen und überraschenden Perspektiven zu erkunden, will einen Beitrag dazu leisten, den Boden für mehr Achtsamkeit und Sprachfähigkeit in der ganzen Organisation aufzubereiten. Woraus besteht Entscheiden im Allgemeinen und in Organisationen im Speziellen? Genau darum geht es hier: um eine Wanderung durch die Landschaft des Entscheidens, auf der Suche nach dem Phänomen. Die einzelnen Etappen werden dabei unterschiedlich anstrengend und unterhaltsam sein, immer jedoch wertvoll. Wir werden unterwegs immer wieder Halt machen, um einen Überblick über das Terrain des Phänomens einzufangen.
Das Erkunden ist gleich in zweierlei Hinsicht lohnend. Nicht nur wächst die Brisanz des Phänomens aus guten Gründen seit Jahren unaufhaltsam. Zudem ist im genaueren facettenreichen Verständnis einer gemeinsamen Sprache des Entscheidens ein enormer Wettbewerbsvorteil angelegt, der ausgeschöpft sein will (siehe Abbildung 2.1).
Abbildung 2.1: Verständigung über das Entscheiden in Organisationen
In Vorbereitung dieser Wanderung haben wir viele Menschen befragt: Was heißt für Sie entscheiden? Welche Bedeutung hat der Begriff für Sie? Tatsächlich sind die Aussagen von Menschen in Organisationen über Entscheidungen und den Prozess des Entscheidens sehr aufschlussreich – und fast immer sehr emotional.
Das Spektrum der Antworten reichte generell von ›ist selbstverständlich, man tut es eben‹ bis hin zu ›ist sehr merkwürdig‹. Tatsächlich sind die Phänomene des Entscheidens genauso selbstverständlich und merkwürdig wie die Phänomene der Zeit und der Sprache.1
Unsere Vorbereitung lieferte uns einen ersten Eindruck des vor uns liegenden Geländes. Man sollte annehmen, dass jeder Mensch selbstverständlich weiß, was Entscheiden ist, ja sogar Experte darin ist. Wie sich herausgestellt hat, sind die Vorstellungswelten über Entscheiden jedoch unendlich vielfältig! Heute ist allgemein anerkannt, dass Entscheiden am allerwenigsten ein rationaler Wahlakt einzelner Menschen ist, sondern sich viel ergiebiger beschreiben lässt als ein durch Sprache transportierter sozialer Prozess, die Entscheidung also ein sprachliches Konstrukt darstellt, worauf sich Menschen, im besten Falle selbstverständlich, einigen. Diese Einigung sieht in jedem sozialen System, in jeder Organisation, und differenziert nach Situation und Anlass, klugerweise sehr verschieden aus. Wie verhält es sich damit bei Ihnen, lieber Leser?
2.1.1 Unterschiedliche Kontexte prägen die Zugänge zum Entscheiden
Überblick über das Gelände des ersten Streckenabschnitts
Dieser erste Abschnitt wird Kontext genannt, ist ziemlich steil, das spröde Landschaftsbild spricht nicht gerade alle Sinne an. Doch die Verständigung über den Kontext bildet eine erste Weichenstellung für den Gesamtprozess: Bereits hier zeichnet sich ab, ob und wie pur und effektiv man gemeinsam entscheiden wird. Von der Einschätzung der Relevanz, Komplexität und relativen Neuartigkeit des Kontextes hängt die Reichweite der wahrgenommenen Entscheidungsräume ab. Last but not least unterscheiden sich Menschen und Organisationen eben darin, ob sie den Kontext als hinzunehmende Einschränkung oder als gestaltbare Größe einschätzen. Eine positive Herangehensweise bestünde darin, sich mehr als Mitwirkende und Täter zu verstehen denn als Opfer.
Sicherlich wird es jedem leicht einsichtig sein, dass es einen großen Unterschied macht, ob man etwa aus Sehnsucht nach Liebe oder im Verlangen nach Erkenntnis und Weisheit entscheidet, oder ob man Entscheiden per se als Machtausübung oder (im günstigeren Falle) als Risikokalkül versteht. Diese Unterschiede spiegeln sich oft in radikal unterschiedlichen Prozessen und Outputs des Entscheidens wider. Alle Zugänge zum Gelände des Entscheidens treffen auf Systemlogiken – seien sie von Berufsrollen geprägt, aus der Wissenschaft, den Künsten, Philosophien oder Religionen entlehnt – die jeweils für sich unbestreitbar beanspruchen, relevante Handlungsempfehlungen (und damit implizit Entscheidungsregeln) zu bieten zu haben. An diesen herrscht somit wahrlich kein Mangel, sondern im Gegenteil ein zunehmend desorientierendes Überangebot und Sprachengewirr.
Die Systemtheorie ist sehr hilfreich im Benennen der Leitdifferenzen. Aus diesen leiten sich unterschiedliche Regeln und Prozesse des Entscheidens ab. Moderne Organisationen, etwa Krankenhäuser, setzen hybride Logiken ins Werk. Unter allen Herangehensweisen gewinnt dabei die wirtschaftliche zunehmend an Relevanz, wenn nicht sogar Dominanz. Darüber hinaus machen die jeweiligen gesellschaftlich-kulturellen Kontexte einen riesigen Unterschied aus, der uns mit zunehmender Globalisierung der Welt gleichzeitig sehr real immer näher rückt.2
Abbildung 2.2: Starke Einflüsse der Kontexte auf das konkrete Entscheiden
Die wesentliche Frage wird in der Regel nicht gestellt: Was schließt die jeweilige Zugangs- und Systemlogik ein, was schließt sie aus? Aktuell wird in fast allen Systemen über diese Frage wenig Verständigung hergestellt. Die Konsequenz ist keineswegs zu vernachlässigen: Es mag unter solch diffusen Gesprächsbedingungen zwar viel über das Entscheiden geredet werden. Unter solchen Voraussetzungen kann jedoch die gemeinsame Verantwortung für den Entscheidungsprozess und die Realisierung der Entscheidungen weder so hoch noch so verlässlich sein, wie es wünschenswert wäre.
2.1.2 Acht generelle Aspekte, die dem Entscheiden in allen Kontexten und Systemen innewohnen
Überblick über das Gelände der zweiten Wegstrecke
Dieses Wegestück weist einen völlig anderen, viel abwechslungsreicheren Charakter auf. Die Ausblicke von den acht Zwischengipfeln machen deutlich, dass das vermeintlich so selbstverständliche Phänomen überaus facettenreich ist. Am Ende dieser Etappe wird das ›pure Entscheiden‹ viel plastischer zu verstehen und sauber abzugrenzen sein, weil wir es nicht mehr so leicht mit den anderen Aspekten der Einflussnahme und des Gestaltens verwechseln.
(1) Richtig oder falsch?
Die Frage nach der Beurteilung Ist eine Entscheidung richtig oder falsch? taucht im Mainstream-Verständnis immer wieder auf. Sie ist zu einem gleichermaßen beliebten wie fragwürdigen ›Volkssport‹ geworden. Im Moment der Entscheidung ist der ›Richtig-Reflex‹ nur allzu menschlich und daher nicht zu unterschätzen, da er uns ein gutes Gefühl gibt. Aber wie lang hält dieses Gefühl an? Allein der Versuch der Einschätzung ist bereits fragwürdig, weil man zum Zeitpunkt der Entscheidung ja nicht wissen kann, ob sie sich in der Zukunft als richtig oder falsch erweisen wird. Das Richtig oder falsch bindet den Beschluss einzelnen Personen und ihrem Verhalten ans Bein – und lässt damit den sozialen Vorgang des Entscheidens außer Acht. Diese Betrachtungsweise lenkt den Fokus allein auf die Entscheidung, den Beschluss. Sie blendet das Vorher und Nachher vollkommen aus – und damit auch den Einfluss der Akteure, die an diesem Vorher und Nachher beteiligt sind, sowie die nicht beeinflussbaren Dynamiken des Kontextes. Die Frage Richtig oder falsch zielt darauf ab, das eigene Scheitern, wenn auch vielleicht nur für kurze Zeit, aus der Welt zu schaffen. Die Möglichkeit des Scheiterns ist jedoch untrennbar mit dem Entscheiden verbunden. Wer das Scheitern aus seinem Erleben verbannen will, beschneidet sein Entscheiden und damit sein Leben an der Wurzel.
Ein Ausbruch aus der Richtig-falsch-Illusion ist nicht leicht zu realisieren, aber potenziell sehr ergiebig. Das ist Ihre Chance! Gehen Sie aktiv dagegen vor, bei sich selbst und bei allen in Ihrer Umgebung. Sie schaffen damit eine große Entlastung, sparen wahrscheinlich viel Geld und vermeiden in jedem Fall etliche Unbill.
Eine gute Alternative: Formulieren Sie Fragen, die den Prozess in den Vordergrund stellen und den sachlichen In- und Output zeitweilig in den Hintergrund verweisen. Den Prozess können die Beteiligten nämlich in hohem Maße beeinflussen und gestalten unter der Fragestellung: Wie können wir den Prozess handwerklich so sauber und sorgfältig gestalten und steuern, dass der – aus jetziger Sicht! – bestmögliche Beschluss zustande kommt und umgesetzt wird? Dann können Sie sich beruhigt sagen: ›Alles richtig gemacht.‹
(2) Konsequenzen des (Nicht-)Entscheidens – vom Ende her denken
Was Watzlawick über das Kommunizieren sagt, trifft ebenso auch auf das Entscheiden zu: Man kann nicht nicht entscheiden. Dieses Wesensmerkmal des Entscheidens (als Vorstufe des Handelns oder Vermeidens) und der damit verbundenen Verantwortung wird sehr unterschiedlich wahrgenommen, bewusst im Dunkeln gelassen, geleugnet, ja oft überhaupt nicht thematisiert. Und das oftmals aus gutem tiefer sitzendem Grunde.
Das lateinische respice finem – Bedenke das Ende! –...