Cosima und Siegfried (1883–1930)
Mit Wagners Tod endet Cosimas Tagebuch. Sein Name darf in ihrer Anwesenheit nicht genannt werden. Wenn sie ihn zitiert, sagt sie Dies wurde gesagt oder Ähnliches. Felix Weingartner: «Als wäre Wagner niemals menschlich auf dieser Erde gewandelt, so klang es in dieser Ausdrucksweise seiner Witwe. Die Kinder hielten in ihrer Gegenwart diesen Ton streng ein, ließen ihn aber sofort fallen, wenn die Mutter abwesend war. Dann sprachen die Mädchen ganz einfach vom ‹Papa›, während Siegfried meistens mit dem ihm eigenen, etwas melancholischen Tonfall ‹mein Vater› sagte.» (Weingartner II, 260f.)
Im Sommer 1883 finden die vorgesehenen Aufführungen des Parsifal in Abwesenheit der in Trauer versunkenen Cosima statt. Die Besetzung ist fast die gleiche wie im Vorjahr. Carrie Pringle ist nicht engagiert.
Bei den Festspielen 1884 – wieder nur Parsifal – habe die künstlerische Disziplin nachgelassen und einer weitestgehenden Willkür Platz gemacht, berichtet Daniela: Mehr und mehr verwischten sich die großen Linien der Regiegebung, mehr und mehr schien sich der 1882 geschaffene Stil des hehren Werkes zu verflüchtigen, ja drohte gänzlich zu verschwinden. Damals sei die einst so getreue Gralsgefolgschaft des Meisters zu einer mut- und führerlosen Ritterschaft herabgesunken. Daniela, motiviert von Fritz Brandt, dem technischen Leiter der Festspiele, bewegt Cosima zum Inkognito-Besuch des Parsifal und schreibt darüber: Wie ein Blitzstrahl, versengend und erhellend zugleich, fuhr es da in die Todesnacht ihrer Seele. In höchstem Schrecken sah sie das Werk, die Krönung eines ganzen Meister- und Märtyrerlebens gefährdet nicht nur, nein, der Profanierung, dem sicheren Untergang preisgegeben. In dem furchtbar grellen Licht solcher Erkenntnis entrang sich ihr ein stilles Gelübde. Ihre Sendung stand plötzlich leuchtend und mahnend vor dem innersten Auge da, sie erfaßte sie, so wie wohl der Gläubige das Kreuz umfaßt; das Leid war zur Wiedergeburt gewandelt, sie war dem Leben, das Werk war dem Leben gerettet. (StA Coburg)
Nun nimmt Cosima die Zügel fest in die Hand. Sie lässt sich auf der Bühne einen Verschlag bauen, um Proben wie Aufführungen genau zu kontrollieren, und stellt laut Daniela den von fremden Einflüssen tief bedrohten Parsifal in seiner vollen Reinheit wieder her. (StA Coburg) Für eine Neuorientierung schiebt sie 1885 ein Freijahr ein. Sie hat viele treue Helfer: die Dirigenten Hans Richter, Hermann Levi und Felix Mottl, musikalische Assistenten wie Engelbert Humperdinck und Heinrich Porges und viele andere. Zur Belohnung für ihre Mühen sind die Helfer – in feiner Rangordnung – in den äußeren oder inneren Kreis der «Heiligen Familie» zugelassen und werden vom Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick als «Betbruderschaft vom heiligen Richard» verhöhnt.
Für die Zukunft der Familie wie der Festspiele ist der ehrenamtliche Finanzberater Adolf von Gross der wichtigste Helfer. Er klärt mit den verschiedenen Verlegern die Rechte an Wagners immer häufiger gespielten Werken und baut konsequent und erfolgreich ein stattliches Vermögen auf. Die Familie unterstützt seine Bemühungen, indem sie nun konsequent spart.
Nach Cosimas Konzept soll Bayreuth fortan das Muster für Wagnerinszenierungen in aller Welt vorgeben, und zwar durch die Rekonstruktion jener Inszenierungen, die Wagner selbst erarbeitete oder billigte und auf denen jedenfalls das Auge des Meisters geruht habe. Die Bayreuther Inszenierungen des Rings und Parsifal werden unverändert weiter gespielt. Für 1886 erarbeitet Cosima als Regisseurin Tristan und Isolde nach dem Muster der Münchner Uraufführung von 1865. Das Bayreuther Motto heißt nun laut Daniela: Wir haben hier nichts zu erfinden, nur auszuführen. (StA Coburg)
Was das Publikum betrifft, so lässt Cosima ihre vielfältigen Beziehungen zur internationalen Aristokratie spielen. Sie gibt in Wahnfried hochelegante Empfänge für Auserwählte und macht den kleinen Ort zum sommerlichen Treffpunkt für die erste Gesellschaft.
König Ludwig übernimmt in seinem letzten Brief an Cosima am 21. September 1885 die Schirmherrschaft über die Festspiele 1886. (Schad 540) Aber der geisteskranke König wird bald seines Amtes enthoben und auf Schloss Berg interniert. Er flieht und ertrinkt am 13. Juni 1886 mit seinem Arzt Bernhard von Gudden im Starnberger See.
Franz Liszt kommt seit Wagners Tod nur noch selten nach Bayreuth. «Der Pudel hat genügend aufgewartet» ist sein bitterer, wenn auch scherzhaft geäußerter Kommentar. (Kraft 49) Immerhin kümmert sich seine Enkelin Daniela in Cosimas Auftrag um ihn und begleitet ihn auch auf einer Italienreise. Der Fünfundsiebzigjährige kommt am 4. Juli 1886 zu Danielas Hochzeit mit Henry Thode nach Bayreuth. Von dort reist er nach Luxemburg, kehrt aber auf Cosimas dringenden Wunsch erschöpft und stark erkältet am 21. Juli zu den Festspielen nach Bayreuth zurück. Da in Wahnfried für ihn kein Platz ist, wohnt er in einem nahegelegenen Privathaus, dem heutigen Liszt-Haus, Wahnfriedstraße 9, wo 1882 auch das Blumenmädchen Carrie Pringle wohnte. Fiebernd, den Husten nur mühsam dämpfend, erlebt er aus der Familienloge den von seiner Tochter rekonstruierten Tristan. Am nächsten Tag kann er nicht mehr aufstehen und stirbt am 31. Juli 1886.
Tochter Cosima sagt für Wagners wichtigsten Freund und Förderer keinen Empfang in Wahnfried ab und lässt noch nicht einmal die Fahne des Festspielhauses auf halbmast setzen. Es gibt auch keine musikalische Feier zu Ehren des Toten. Die Liszt-Schüler sind empört. Weingartner: «Beinahe wäre es zu Tätlichkeiten gekommen, da sich zwei Parteien bildeten.» (Weingartner II, 276)
Gegen Liszts Wunsch, in Weimar begraben zu sein, besteht Cosima auf der Beisetzung auf dem Bayreuther Friedhof und triumphiert damit über die gehasste Rivalin, Fürstin zu Sayn-Wittgenstein. Dann wird um Liszts Asche gestritten, die der Franziskanerorden in Budapest, dem Liszt als Abbé angehörte, ebenso für sich beansprucht wie der Großherzog von Sachsen-Weimar, Liszts Geburtsort Raiding in Ungarn wie auch die Städte Bayreuth und Eisenach. Es bleibt bei Bayreuth.
Nach der bestandenen Feuerprobe von 1886 erarbeitet Cosima in einem neuerlichen Freijahr die Meistersinger, die 1888 unter Hans Richter großen Erfolg haben. Im nächsten Jahr wird Bayreuth durch den Besuch des jungen Kaisers Wilhelm II. und seiner Gemahlin geadelt, die am 17. und 18. August 1889 die Meistersinger und Parsifal erleben. Cosima hofft vergeblich, dass der Kaiser anstelle Ludwigs II. Bayreuths Mäzen wird.
1891 bringt Cosima Tannhäuser heraus, wobei sie auch mit Johanna Jachmann Kontakt aufnimmt, der ersten, von Wagner sorgfältig einstudierten Elisabeth bei der Dresdner Uraufführung 1845. 1894 folgt Lohengrin, 1896 erstmals nach zwanzig Jahren wieder der Ring des Nibelungen und 1901 der Fliegende Holländer.
Inzwischen ist Wagner der meistgespielte Komponist der Opernbühne, was auch Bayreuth zugutekommt. In London, New York, Barcelona und anderswo bilden sich Wagnervereine, die wiederum die Festspiele unterstützen. Cosima hat es geschafft und in zäher Arbeit und mit großer Energie die Festspiele erst wirklich etabliert. Sie ist nun das unumstrittene Oberhaupt nicht nur ihrer Familie, sondern auch der organisierten Wagnerianer in aller Welt und ein prominentes Glied der internationalen Gesellschaft.
Während Wagner zuletzt an Bayreuth und den Festspielen zweifelte, kann Cosima zehn Jahre später zu Recht erklären: Bayreuth, das ist unser Boden, von da aus kommt uns der Segen, von da aus aber auch kommt alles, was uns an freundlicher Beachtung zuteil wird. (An Isolde 10.4.1892, Mack 297)
Über das geradezu königliche Protokoll rund um Cosima staunt 1897 die junge Sängerin Anna Bahr-Mildenburg: «Um halb neun Uhr früh konnte man schon Frau Wagner in ihrem großen Landauer, begleitet von ihren Töchtern und Siegfried, auf den Festspielhügel fahren sehen. Ganz aufrecht gerade saß sie im Wagen, und nur ein leises Neigen ihres Kopfes verschob die Linien ihrer stolzen Haltung, wenn sie unter freundlichem Lächeln für die Grüße dankte, die ihr von allen Seiten zuflogen.» (Bahr 17)
Und über einen Abend in Wahnfried notiert sie: «Wo man hinsah, verbeugte sich irgendwer vor irgendwem, oder die Menschen standen und starrten und waren ergriffen und bewegt trotz des Trubels rings herum, und dann gabs wieder Neugierige und Sensationslustige, die sich jedes Buch, jedes Bild ansahen, jeden Stuhl berührten, jeden Polster abfühlten, nur um dann später damit protzen zu können. … Mitten im ärgsten Gedränge nahm Frau Cosima, unterstützt von ihren Kindern, die Huldigung der Welt entgegen.» (Bahr 24) Das reiche Publikum sichert den Bestand der Festspiele zum Nutzen der Wagners und Bayreuths. Wagners Künstlerfreunde und die Altwagnerianer sind nun weniger gefragt.
Harry Graf Kessler beschreibt eine Soiree in Wahnfried mit rund sechzig Personen, darunter die Königin von Württemberg: «Die Cosima ganz in Schwarz in einer Art von Hut auf und einem schwarzen Gaze Schleier, der ihr bis über die Augenbrauen reichte; darunter das fabelhaft energische Gesicht mit dem gewaltigen Knochengerüst; die Backenknochen und das Nasenbein scheinen wie aus Granit. Nach jedem Stück beglückwünschte sie die Spielenden sehr laut, mit ihrer etwas groben Stimme, daß man es bis in die Nebenzimmer hinein hörte … Unter...