Kapitel 2
NATURSCHÖNHEITEN
Argentinien, Teil 2: Peninsula Valdés bis Puerto San Julian
08.10.–15.11.2011
Ich bin kein Freund von Umwegen auf einer Umrundung wie dieser. Kommt eine Bucht, überlege ich, ob ich sie queren kann. Es ist zwar unterhaltsamer, wenn man Land sehen kann, aber die Nähe zur Küste verspricht keinesfalls mehr Sicherheit. Durch das Paddeln in jede einzelne Bucht hinein würde ich einige Hundert Kilometer mehr zu bewältigen haben. Rund um Australien habe ich den fast 600 Kilometer breiten Golf von Carpentaria im Norden Australiens gequert und sieben Nächte in meinem kleinen Kajak geschlafen. Weit und breit war kein anderes Schiff in Sicht, nur Wasser, Wasser, Wasser überall …
Südamerika hat nur wenige solch großer Buchten zu bieten, doch um die markante Peninsula Valdés zu erreichen, könnte ich doch auch hier einfach quer über den Golfo San Matías fahren?
Gedacht, getan: Nach nur einem Erholungstag sitze ich wieder im Boot, gebe den nun 140 Kilometer entfernten Zielpunkt an der nördlichen Spitze der Peninsula Valdés in mein GPS ein und folge dem kleinen Pfeil auf dem Display. Wind, Tide und Seegang sind freundlich, gut gelaunt »unterhalte« ich mich mit den riesigen braunen Albatrossen, die mit ihren fast zwei Metern Spannweite majestätisch über mich hinwegsegeln oder im Sturzflug knapp an mir vorbeisausen. Gerne hätten sie wohl auch das unbekannte Objekt unter ihnen auf dem Wasser angepickt, würde es sich nicht mehr bewegen. »Haut ab, ihr Geier, ihr bekommt mich nicht!«, schimpfe ich scherzhaft und drohe mit meinem Paddel.
Beim Anbruch der Nacht habe ich bereits 65 Kilometer geschafft, ein guter Fortschritt. Ich denke, bis zum Monduntergang gegen drei Uhr morgens habe ich genug Licht, um trotz Müdigkeit, die ich mit »kreativem« Gesang bekämpfe, vernünftig paddeln zu können. Leider verschwindet das Mondlicht schon zwei Stunden früher hinter dicken Wolken, es hängt Nebel über dem Wasser. Der Wind frischt auf und die See wird wellig. Fast habe ich vergessen, was nun unweigerlich passieren wird: Ich werde seekrank! Der unsichtbare Horizont gibt meinem Gleichgewichtssinn keinen visuellen Halt mehr, und mein Kajak tanzt auf den Wellen. Seekrankheit ist nichts Neues für mich, sich einmal kräftig übergeben, und es wird besser. Mir wird weder schwindelig noch fühle ich mich deutlich schwächer. Heute aber will mein Abendessen auch mit einem Finger im Hals nicht herauskommen, und ich leide vor mich hin. Die Sicht verbessert sich zeitweilig, mit ihr auch das Gefühl der Seekrankheit. Gegen vier Uhr morgens ist mir wieder übel, leider kommt immer noch nichts heraus. Ich zähle die Minuten bis zum Tagesanbruch um Viertel vor sechs.
Gegen neun Uhr morgens dreht die Tide, nun wird es richtig lustig! Vorhergesagt war ein Seegang von höchstens einem Meter, hier aber bläst ein 20 Knoten starker Rückenwind gegen eine starke Gezeitenströmung und entwickelt damit drei bis vier Meter hohe, stehende Wellen. Das bedeutet, dass ich zwar mit 15 oder mehr Stundenkilometern einen Wellenkamm hinabreiten kann, meine Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt aber über Grund trotzdem kaum fünf Kilometer pro Stunde. Die Wetterlage lädt eigentlich zum Spielen in den Wellen ein, in diesem endlosen, superbreiten »Tidal Race«, nur bin ich dazu zu müde, seekrank und steuere ein voll beladenes Kajak. Irgendwann muss ich doch Land sehen können? Meine Nerven sind bis zum Äußersten gespannt. Viele Beobachter unterstellen mir zwar eine übertriebene Risikobereitschaft, aber lebensmüde bin ich nicht. Im Rahmen meiner Vorbereitung tue ich alles, um mein Risiko zu minimieren.
An meinen Proviant komme ich bei diesem Seegang nicht heran, meine Trinkflasche kann ich gerade noch so ansetzen. Ein Nachfüllen aus dem Wassersack gelingt nur, wenn ich die Balance halte. Ich versuche noch wie üblich mit meinem Pinkeltrichter zu urinieren, nachdem aber bereits zweimal ein großer Schwall Wasser in den offenen Schlitz geschwappt ist, ist mir alles egal: Zum ersten Mal lasse ich es innerhalb des Trockenanzuges laufen. Leider fließt die frische, warme Körperflüssigkeit nicht bis an meine eiskalten Füße. Die Verdauung meldet sich zum Glück nicht, aber auch das wäre mir jetzt sprichwörtlich … scheißegal. Längst bin ich an meinem Kajak angeleint, weil ich meine Konzentrationsfähigkeit schwinden fühle.
Wer bei solchen Bedingungen nicht übermenschliche Kräfte entwickeln kann, sollte solche Abenteuer besser nicht angehen. Ich bin froh, nur für mich selbst verantwortlich zu sein und mich nicht auch noch um einen eventuell schwächeren Partner kümmern zu müssen. Kein Rettungsboot wäre in der Lage, diese Wellen auszureiten und mich auch noch dabei herauszufischen!
Irgendwann komme ich wieder in ruhigeres Küstengewässer. Viel Zeit zum Durchatmen besteht nicht, denn ich muss nochmals zehn Kilometer dranhängen. Alejandro hat mir per SMS einen Landepunkt viel weiter westlich ans Herz gelegt, da am angepeilten Leuchtturm häufig die Ranger der Insel patrouillieren und meine spezielle Genehmigung zum Paddeln entlang der unter Naturschutz stehenden Insel wegen meiner Abkürzung über die Bucht noch nicht vorliegt. Ich habe keine Idee, wie die Küste aussehen mag, und bereite mich auf eine unangenehme Landung vor. Doch das Wasser am Ufer ist glücklicherweise ruhig, und ich kann an einem steilen Kieselstrand hinter einem kleinen Riff sicher aussteigen – nach 160 Kilometern und 32 Stunden ununterbrochenen Paddelns. Meine Beine zittern, ich bin übermüdet, leicht schwindlig und fühle mich ziemlich am Ende meiner Kräfte.
Peninsula Valdés ist weltberühmt für seine mannigfaltige Tierwelt, fast jeder Meter Küstenstreifen ist entweder mit Tausenden der kleinen Magellan-Pinguinen, Seelöwen oder See-Elefanten-Kolonien besetzt. Auch die Südkaper, eine Bartenwal-Art, kommen jedes Jahr zum Kalben in die beiden geschützten großen Buchten. Der Zugang für Touristen ist in diesem Naturreservat überall streng reguliert. Nur wenige Meter von meinem geheimen Zeltplatz kann ich die ersten See-Elefanten studieren, massige, fettleibige Riesen, die sich in den wenigen Sonnenstrahlen aalen. Die Bullen werden bis zu sechseinhalb Meter lang und dreieinhalb Tonnen schwer und entwickeln mit den Jahren eine ausgeprägte lange Nase, die wie ein Rüssel bis über das Maul hängt. Die Kühe werden nur bis dreieinhalb Meter lang und wiegen maximal 900 Kilogramm, der charakteristische Rüssel fehlt ihnen ganz. Starke Bullen sammeln zur Paarungszeit bis zu 20 Kühe um sich, die heftig gegen die rivalisierenden Männchen verteidigt werden. Mein Kajak habe ich bereits weit aus der Gefahrenzone eines in Paarungsstimmung befindlichen Bullen gezogen. Komme ich aus Versehen zu nahe, wird mir durch lautes Grunzen »mitgeteilt«, dass sie meine Anwesenheit missbilligen.
Ich akzeptiere die Vorherrschaft der Natur und möchte dieses an sich wundervolle Gebiet schnell und unbemerkt wieder verlassen, bevor meine unangemeldete Anwesenheit zum Problem wird. Nachts kommt mir die Idee, ich könnte – anstatt außen um die Insel zu paddeln – die beiden Buchten queren und eine sieben Kilometer lange Portage versuchen, sprich, mein Kajak über Land transportieren. Die mannigfaltige Tierwelt findet sich überwiegend an der äußeren Küste der Insel, in den Buchten dürfte ich beim Campen kaum eine Kreatur stören. Die Windrichtung bleibt morgen Nordost, und mein erzwungener westlicher Landeplatz verkürzt den Weg durch die Buchten. Ich beschließe, gleich morgen weiterzufahren, da der übernächste Tag wettermäßig eher nach einem Ruhetag aussieht, auch wenn mein Körper jetzt nach Erholung schreit.
Der Trip in Richtung Golfo San José, der nördlichen Bucht der Peninsula Valdés, entpuppt sich als pure Erholung vom Stress der Querung. Der Wind und die Tide schieben mich lässig längs der Küste. Ich paddle kaum, mein schmerzender Körper entspannt sich. Ich genieße den Anblick Tausender kleiner Pinguine und Seehunde aller Art und Größe. Deren Köpfe poppen überall für Sekunden aus dem Wasser wie Schießbudenfiguren. Am Strand kann ich die verschiedenen Harems gut ausmachen, mit etwa 20 Metern Abstand höre ich die Kühe mit ihren Jungen grunzen, heulen und jammern, unterbrochen vom herrischen Bellen und Schnauben des leicht zu bestimmenden, überproportional großen Patriarchen. Ein 20 Kilometer langer zerklüfteter Kliffstreifen lässt mein Seekajakerherz höherschlagen, ich steuere dicht um jede sich bietende Ecke, genieße die Nähe der Felsen und sauge den charakteristischen Duft der mit Seetang und Muscheln bedeckten steilen Küste tief ein. Mit allen Sinnen fühle ich mich intensiv mit dem Meer verbunden. Solche Momente sind meine Belohnung für all die Strapazen, die ich in Kauf nehmen muss!
Es ist Oktober, Hochsaison für Whale-Watching-Expeditionen. Gleich fünf größere Schiffe befinden sich in der südlichen Bucht, voll bepackt mit jeweils rund fünfzig mit Kameras bewaffneten Touristen. Ich will schnell an ihnen vorüberpaddeln. Wer weiß, ob ein überaktiver Naturparkwächter mich nicht doch noch stoppen möchte? Von einem der Boote höre ich tatsächlich mehrfach meinen Namen rufen. Vielleicht sollte ich ihnen auch »den Wal machen«, denke ich lachend. Aus meiner elektrischen Bilgepumpe spritzt ein mindestens genauso schöner hoher Strahl wie aus den Atemlöchern der Wale beim Ausatmen, vorausgesetzt, meine Sitzluke ist geflutet. Aber lieber paddle ich zügig davon, beachte die Schiffe nicht mehr und freue mich auf meine »eigenen« Wale, die weiter draußen so oft um mich herumspringen, dass ich fast schon an deren Auftauchen gewöhnt bin. Ich zähle fünfzig...