BLICK AUS DER PROVINZ FÜR DIE WELTSTADTPRESSE
PAUL FLORA, DIE ZEIT UND DIE DEUTSCHE POLITIK IM INTERNATIONALEN RAHMEN (1957–1971)
Philipp Gassert
Der Tiroler Paul Flora begleitete die ZEIT in einer Phase dramatischer Umbrüche, in der sich das Hamburger Wochenblatt vom nationalkonservativen Stimmungsmacher scharf antikommunistischer und teilweise antiwestlicher Stoßrichtung zum liberalen Leitmedium und „deutschen Weltblatt“ mauserte. Die ZEIT verstand sich seit ihrer Umgründung 1957 als „Organ für die Modernisierung der Bundesrepublik“, mit „spürbarem Drang“, so die Charakterisierung des Zeithistorikers Axel Schildt (* 1951), sich von „deutscher Provinzialität loszusagen“.1 Stolz führte die ZEIT seit Anfang der 1960er Jahre das Attribut des „deutschen Weltblatts“ in der Titelleiste. Diese Entprovinzialisierung zeigte sich auch in der Globalisierung der ebenfalls auf der Titelseite prangenden Erscheinungsorte. Seit 1958 wurde sie nicht nur am Platz ihrer Redaktion in Hamburg, sondern auch in Johannesburg und bald danach ostentativ in Toronto und Buenos Aires publiziert. Vor dem Hintergrund der völkerrechtlich ungeklärten Lage der geteilten Nation war die westdeutsche Politik stark darauf angewiesen, international Vertrauen zu erwerben.2 Über drei Jahrzehnte war die ZEIT eines der wichtigsten Organe dieser bundesrepublikanischen Vertrauenspolitik und der Selbstverständigung über Deutschlands Ort in der Welt.3
Daher dürfte es nur Nichteingeweihte verwundern, dass die ZEIT Ende der 1950er Jahre ausgerechnet Flora als „leitenden“ Karikaturisten verpflichtete. Denn Flora kokettierte nur zu gern mit dem Attribut des knorrigen Provinzlers.4 Doch Abstand verleiht bekanntlich Perspektive. Aus der Höhe seines alpinen Refugiums erfasste er treffsicher, „was in den Niederungen der Bundesrepublik und der größeren Welt vorgeht“, wie es Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002) zuspitzte, die langjährige Politikchefin und spätere Herausgeberin der ZEIT.5 Dönhoff verpflichtete Flora wohl als Teil jener Strategie der Entprovinzialisierung, die in den „langen sechziger Jahren“ (etwa 1957 bis 1973) zu dem Markenzeichen ihres Blattes wurde; eine Linie, die sie persönlich, gemeinsam mit Chefredakteur Josef Müller-Marein (1907–1981), verkörperte und in der Redaktion durchgekämpft hatte. Seit Anfang der 1960er Jahre lasen das liberal-konservative bzw. später sich als sozialliberal verstehende westdeutsche Bürgertum und wesentliche Teile der außenpolitischen Elite der BRD und ihr nahe stehende Kreise die ZEIT. Diese setzte auf außenpolitische Themen und positionierte sich dabei erfolgreich gegen das konservative Leitmedium der Bonner Republik, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ). Das äußere Erscheinungsbild trug dazu bei. Die ZEIT wirkte nicht zuletzt aufgrund von Floras gezeichneter Satire weniger zugeknöpft als die alte Tante FAZ, die grafischen Elementen lange so gut wie keinen Raum gab.
Floras Karikaturen 1957–1971 kreisen einerseits um die Bonner Palastintrigen in der Phase des langen Abschieds des westdeutschen Gründungskanzlers, Konrad Adenauer (1876–1967), von der Macht. Der Kampf um das Bonner Kanzleramt wurde im April 1959 mit einem Paukenschlag eröffnet, als Adenauer sich in einer Anwandlung von politischer Unfehlbarkeit für das weitgehend zeremonielle Amt des deutschen Bundespräsidenten ins Gespräch brachte.6 Dieses wollte er umdefinieren, um seine politische Halbwertszeit zu verlängern. Von diesem Moment an traten die Diadochenkämpfe seiner präsumtiven Nachfolger an die Öffentlichkeit. Sie sollten die BRD fast ein Jahrzehnt lang in Atem halten.7 Unter Adenauers Erben hatte es Flora neben Ludwig Erhard (1897–1977), der Adenauer 1963 für drei knappe und glücklose Jahre als Kanzler nachfolgte8, der barocke bayerische Politiker und Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (1915–1988) angetan.9 Dieser ließ sich aufgrund seiner markanten Persönlichkeit und Verstrickung in zahlreiche Skandale bestens karikieren. Die erbitterten Nachfolgekämpfe innerhalb des konservativ-christdemokratischen Spektrums endeten erst mit der Wahl Willy Brandts (1913–1992), des ersten Sozialdemokraten, zum Kanzler im Jahr 1969. Mit Brandt trat der deutsche Michel aus dem langen Schatten Adenauers, von Flora treffsicher eingefangen (Abb. 1). Indes bot Brandt für Flora anscheinend weniger Angriffsflächen. Überhaupt erlahmte das Interesse des Innsbrucker Zeichners an den Intrigen des westdeutschen politischen Personals schon mit dem Sturz Erhards 1966, auf den die erste Große Koalition folgte.
Abb. 1 Paul Flora, Der Schritt aus dem Schatten, erschienen in der ZEIT, 10.10.1969
Das zweite Großthema in Floras Karikaturen in der ZEIT sind Weltpolitik und internationale Beziehungen in der mittleren Phase des Kalten Krieges, in der nach dem Sputnik-Schock (1957), als die Sowjets zur Überraschung des Westens den ersten künstlichen Satelliten auf eine Erdumlaufbahn katapultierten, dem Berliner Mauerbau (1961) und der Kuba-Krise (1962) die beiden Supermächte von der scharfen Konfrontation zu einem halbwegs geregelten Modus Vivendi übergingen. Mit dem atomaren Teststoppvertrag zwischen USA, UdSSR und Großbritannien (1963) setzte eine Phase der relativen Entspannung in Europa ein.10 Zwar ging der „Kalte Krieg“ ideologisch weiter, doch die militärische Konkurrenz der beiden „Großen“ verlagerte sich überwiegend an die asiatische und afrikanische Peripherie.11 Entspannung (Détente) bedeutete, dass Ost und West den Status quo in Europa de facto akzeptierten. Die Teilung des Kontinents wurde einzementiert, an der Berliner Mauer im wahrsten Sinne des Wortes mit Beton und Stacheldraht (Abb. 2). Es machte westdeutschen Politikern schwer zu schaffen, dass die deutsche Frage ihre „Offenheit“ nun verlor. Das westdeutsche Publikum gestand sich lange nicht ein, dass die Wiedervereinigung bis auf weiteres aufgeschoben war. So wie einst die Urchristen die Wiederkehr Christi herbeisehnten, so erhofften viele Deutsche noch in den 1960er Jahren eine baldige Wiedervereinigung zu ihrer Lebenszeit. Erst mit der (Brandt’schen) Ostpolitik ab 1969 sollte die BRD eine neue Strategie des Umgangs mit der deutschen Spaltung finden.12
Abb. 2 Paul Flora, Wer bewacht wen?, erschienen in der ZEIT, 1.9.1961
Zugleich war in den 1960er Jahren die Hackordnung innerhalb des westlichen Lagers unklar. Das hatte entscheidend mit der überragenden Persönlichkeit des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle (1890–1970) zu tun. Dieser gehört neben Adenauer eindeutig zu den Lieblingsobjekten Floras. Mit seiner großen Nase und dem Generalskäppi ließ er sich hervorragend einfangen.13 Frankreich unter de Gaulle hatte den schwierigen Abschied vom Imperium zu bewältigen, darin Deutschland nicht unähnlich – das im Zweiten Weltkrieg seinen „traditionellen“ Einflussbereich in Osteuropa verloren hatte. Nach der militärischen Katastrophe der französischen Armee in der Schlacht von Dien Bien Phu in Vietnam 1954 hielt vor allem der Algerienkrieg 1954–1962 die Franzosen über Jahre in Atem.14 De Gaulle akzeptierte den Verlust dieser wichtigsten französischen Kolonie, deren nördliche Departments seit dem 19. Jahrhundert zum französischen Mutterland zählten, gegen erheblichen Widerstand in Frankreich und unter den weißen Algerienfranzosen.15 Als Kompensation versuchte er eine französische Hegemonialstellung im westlichen Europa gegen USA und UdSSR zu erreichen, um so für sein Land, mit altmodischen Mitteln, wie Flora richtig erkannte, „Grandeur“ wiederzugewinnen (Kat. 5, S. 209).16 Erhebliche Friktionen mit den USA, der BRD und den übrigen Gründungsmitgliedern der EU (damals EWG) waren die Folge.17 In der BRD trat eine Fraktion um Adenauer für einen engen Schulterschluss mit Frankreich ein, auch um ein Gegengewicht gegen die USA unter Kennedy (1917–1963) und Johnson (1908–1973) zu schaffen, deren dürre Lippenbekenntnisse zur deutschen Einheit immer weniger glaubwürdig klangen. Von de Gaulle erwarteten die deutschen Gaullisten mehr – eine große Illusion. Atlantisch orientierte Kreise, zu denen die führenden Köpfe der ZEIT gehörten, glaubten nicht an einen „Deal“ mit Frankreich und hielten dagegen, unterstützt von Paul Flora.18
DER MEDIENHISTORISCHE KONTEXT: ZEITKRITIK UND LIBERALISIERUNG
Die ZEIT stand in den frühen 1950er Jahren politisch relativ weit rechts. Doch in einem 1955 auch gerichtlich ausgefochten Streit konnte sich die liberale (anfänglich liberal-konservative) Fraktion um Dönhoff, den Gründungsmitherausgeber und CDU-Abgeordneten Gerd Bucerius (1906–1995) und den künftigen Chefredakteur Müller-Marein auf ganzer Linie durchsetzen.19 Seither war die ZEIT Bestandteil der (links-)liberalen Hamburger Trias mit „Stern“ und...