Was Ihre eigene Geburtsgeschichte mit der Geburt Ihres Babys zu tun hat
Die Gebärkultur in einer Familie hat großen Einfluss darauf, wie die Geburt des eigenen Kindes verlaufen wird. Denn alles, was eine Frau zum Thema Geburt in ihrem Leben erfahren hat, hinterlässt eine Spur. Auch die eigene Geburt wird nicht vergessen und bleibt für immer präsent – wenn auch nicht bewusst. Wer selbst leicht und unkompliziert geboren wurde, hat gute Chancen, auf ebensolche Weise ein Baby auf die Welt zu bringen. Aber der Umkehrschluss ist in diesem Fall eben leider auch oftmals wahr: Wer selbst eine komplizierte Geburt mit Zange, Saugglocke oder Kaiserschnitt erlebt hat, hat in seinem Körper kein positives Referenzmuster gespeichert, wenn es um das Thema Geburt geht. Im schlimmsten Fall ist der Geburtsvorgang noch immer mit einem Trauma belegt, das getriggert wird, sobald die ursprüngliche Traumasituation – oder etwas, das manchmal nur entfernt daran erinnert – wieder aktuell wird. Im Alltag macht sich ein Geburtstrauma meist nicht bemerkbar. Eine Frau wird also in der Regel gar nicht wissen, dass ihr Körper Erfahrungen gespeichert hat, die sie bei der Geburt überrollen können. Doch die Geburt ist der Moment, in dem alles, was in diesem Zusammenhang erlebt wurde, eine Rolle spielt.
Unsere Gesellschaft ist sich generell nicht im Klaren darüber, welche tief greifenden Frühprägungen eine Geburt nach sich zieht. Solche behindernden Körpererinnerungen werden dann zur Unzeit akut. Es wäre viel gewonnen, würde bei der ersten Vorstellung bei der Hebamme oder beim Geburtshelfer die Geschichte der eigenen Geburt thematisiert. Dann ist noch Zeit, sich eventuell bestehende Negativprägungen bewusst zu machen und Strategien zu entwickeln, um damit umzugehen oder sie aufzulösen. Deshalb ist es auch so sinnvoll, bei der Anmeldung in der Geburtsklinik mit einer Hebamme zu sprechen. Hier fällt es erfahrungsgemäß leichter, über Tabubesetztes zu reden als mit einem Gynäkologen.
Auch bei einer Geburt vor 20, 30 oder 40 Jahren waren Geburtseinleitung, Zange und Saugglocke an der Tagesordnung. Und ebenso wurden Kaiserschnittgeburten damals auch schon nicht mehr nur im Notfall durchgeführt. Aber auch, wenn wir noch weiter zurückgehen, sehen wir, dass Mütter und Babys unter den Bedingungen rund um die Geburt zu leiden hatten. Babys wurden zum Beispiel weggelegt und trotz stundenlangem Schreien nicht hochgenommen. Auch dies hat Spuren bei den Kindern hinterlassen, die sie an ihre Nachkommen weitergegeben haben – und zwar auf Genebene beziehungsweise in der Genexpression (siehe nächstes Unterkapitel). Wir haben es mit Generationen von Frauen zu tun, die mit einem Geburtstrauma behaftet sind, ohne es zu wissen. Damit soll nun kein Schreckensszenario aufgebaut werden, denn ganz offensichtlich ist die »Gebärkompetenz« ja so stark, dass Frauen noch immer gebären »können«. Die Resilienzfähigkeit – die Fähigkeit, auch unter schwierigen Umständen das Beste aus einer Situation zu machen – scheint beim Geburtsgeschehen wichtig zu sein.
Wenn wir Geburten allerdings von unnötigen Komplikationen befreien wollen, ist es höchste Zeit, die »Altlasten« anzuschauen und aufzulösen. Wir dürfen jedoch auf keinen Fall dem Irrtum verfallen, zu meinen, dass mit einer belasteten eigenen Vorerfahrung eine gute Geburt unmöglich sei. Geburt ist viel zu komplex, um sich auf eine solche Formel reduzieren zu lassen. Und auch umgekehrt garantiert eine eigene problemlose Geburt keineswegs zwangsläufig eine ebensolche bei den eigenen Kindern. Dies zu folgern, wäre fahrlässig und viel zu kurz gegriffen.
Was das Körpergedächtnis alles speichert
Lange Zeit nahm die Wissenschaft an, dass sich Vererbung nur im DNA-Code abspielen könne und daher auch strikt auf körperliche Attribute beschränkt sei. Inzwischen wissen wir, dass es durchaus auch andere Möglichkeiten gibt, Erfahrungen von Generation zu Generation weiterzugeben. Erforscht werden diese Möglichkeiten in dem noch relativ jungen Feld der Epigenetik (die Vorsilbe epi bedeutet im Griechischen über, außer oder höher – es ist also eine außerhalb der DNA bestehende Genetik). Der deutsche Biologe und Wissenschaftsautor Peter Spork nutzt zur Erklärung dieses Verhältnisses Begriffe aus der Welt der Datenverarbeitung. Während die DNA laut Spork vergleichbar ist mit der Hardware, ist die Epigenetik so etwas wie die Software, die unserem Körper sagt, welche Gene genutzt und welche ungenutzt oder abgeschaltet werden. »Man könnte auch sagen, das Epigenom definiert die Bestimmung einer Zelle. Es sagt dem Genom, was es aus seinem Potenzial machen soll. Es entscheidet, welches Gen zu welcher Zeit aktiv ist und welches nicht. (…) Die Werkzeuge des Epigenoms sind sogenannte epigenetische Schalter. Sie lagern sich gezielt an bestimmte Stellen des Erbguts an und entscheiden, welche Gene eine Zelle überhaupt benutzen kann und welche nicht.«4
Diese Epigenetik-Schalter reagieren auf Umweltfaktoren wie Nahrung, Bindungsqualität, Hormone, Erlebnisse im Mutterleib, Stress, Traumata, Nikotin, Alkohol, Drogen und vieles mehr. Weil das so ist, hat der eigene Lebensstil eine sehr viel größere Bedeutung, als wir bisher geglaubt haben. Auch deshalb, weil diese Schaltungen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Der Lebensstil, die Erlebnisse und die Umweltbedingungen unserer Großeltern wirken sich noch auf uns heute aus, ebenso wie unser Lebensstil das Leben unserer Enkel mit beeinflussen wird. Der Einfluss der Außenwelt auf die Genaktivität ist also sehr weitreichend, was unsere körperliche und psychische Gesundheit angeht.
Spork macht darauf aufmerksam, dass man noch vor Kurzem, in Unkenntnis der Ergebnisse der epigenetischen Forschung, davon ausging, dass Umwelteinflüsse wie Liebesentzug, Kultur oder die Nahrung nur akut in das Verhalten, die Psyche oder das Hormonsystem eingreifen könnten. Man nahm damals noch an, dass die Dauer eines Umwelteinflusses vom aktuellen Vorhandensein abhängig sei. Würde also das Signal verändert, würde auch die Wirkung verschwinden. Dies lässt sich allerdings heute so nicht aufrechterhalten, so Spork. Ihm zufolge haben Zellen ein Gedächtnis, das die Reaktionen auf die Umwelt speichert und das Epigenom beeinflusst.
Offenbar ist es so, dass die ganz frühen Erfahrungen im Mutterleib, bei der Geburt und in den ersten drei Lebensjahren besonders starken Einfluss darauf haben, wer und wie wir später sein werden. Viele dieser »Schaltungen« wirken sich allerdings erst viele Jahre später aus, weshalb diese Verbindungen bislang nicht erkannt worden sind. Sie finden ihren Niederschlag auch in Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Herzschwäche und Fettleibigkeit.
Wir können also sehr viel für die Gesundheit unserer Nachkommen tun, wenn wir heute gesund leben. Und es kommt noch besser: Diese Verschaltungen sind nicht starr, sondern elastisch. Sie können verändert werden – von uns selbst. Wir können unsere genetischen Programmierungen überschreiben oder auch löschen, indem wir unseren Lebensstil verändern.
Auf diesem Gebiet wird derzeit sehr stark geforscht und die Ergebnisse sind beachtlich. So ist es laut einer israelischen Forschergruppe als erwiesen anzusehen, dass auch Traumata vererbt werden können. Grundlage dieser Erkenntnis ist eine Untersuchung über die Stressanfälligkeit von Kindern, deren Eltern den Holocaust erlebt haben. Die Kinder selbst hatten keine traumatischen Ereignisse erlebt, ihre Stressanfälligkeit war bemerkenswerterweise jedoch ebenfalls erhöht. Die Forscher kamen aufgrund einer speziellen epigenetischen Veränderung eines Gens, das für die Stressregulation verantwortlich ist, zu dem Ergebnis: Nachkommen von Holocaustopfern haben an demselben Gen eine Veränderung, die bewirkt, dass sie empfindlicher auf Stressfaktoren reagieren. Die Forscher folgerten: »Zusammenfassend sprechen unsere Daten dafür, dass die physiologische Stressantwort der Nachkommen stark traumatisierter Menschen generationsübergreifend epigenetisch geprägt wird. Das kann zum erhöhten psychopathologischen Erkrankungsrisiko der folgenden Generation beitragen«.5
Noch ist nicht abschließend geklärt, wie genau die Vererbung traumatischer Ereignisse stattfindet. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang, ob der Stresshormonspiegel im Blut der Schwangeren die Stress-Achse des Fötus anders prägt als bei anderen Kindern. Möglicherweise verändert das Trauma aber auch die Epigenome der elterlichen Keimzellen, sodass die Anweisung zur vorsorglichen Anpassung an eine extrem belastende Umwelt direkt per Ei oder Spermium vererbt wird. Auf diese Weise könnten Traumata von Generation zu Generation weitervererbt werden. In Tierversuchen sind beide Varianten möglich. Wie diese Vererbung von Traumata beim Menschen nun genau abläuft, muss noch geklärt werden. Auf die Geburt bezogen bedeutet sie jedenfalls nichts anderes, als dass eine Mutter, die selbst unter traumatischen Bedingungen zur Welt gekommen ist, diese Erfahrung gespeichert hat und sie an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben kann. Mit anderen Worten: Die Geburtserfahrungen (positive wie negative) unserer Ahnenreihe wirken in uns als Programm. Dies zu erkennen und zu verändern ist eine Aufgabe, der sich die Geburtshilfe stellen muss. Daneben ist aber auch jede werdende Mutter aufgerufen, ihr genetisches Erbe zu erforschen und gegebenenfalls zu verändern. Dass dies möglich ist, zeigen die vielen Fälle, in denen geburtstraumatisierte Frauen natürlich entbunden haben.
Lieben, was IST – die Heilung eigener Wunden
Sich den eigenen Wunden aus der frühesten...