Von kleinen und
großen Abschieden
Wir freuten uns auf zuhause. Unser Familienurlaub auf Sardinien war besonders schön gewesen. Wir hatten wunderbare Landschaften erlebt, zauberhafte Strände besucht und mediterranes Essen genossen. Am Tag der Abreise durchquerten wir die Insel von Süden nach Norden, um die Fähre in Olbia zu nehmen. Ein letztes Mal mittendrin in der atemberaubenden Schönheit der Insel, die wir auf hunderten Fotos festgehalten hatten. In Olbia war noch reichlich Zeit bis zur Abfahrt der Fähre. Es war früher Abend, die Stadt war in ein mildes Licht gehüllt, und alles schien voll heiterer Betriebsamkeit. Wir entschlossen uns zu einem kleinen Spaziergang durch die Altstadt, um ein letztes Mal das Flair Italiens zu genießen, bevor es nach Hause ging in den deutschen Herbst. Als wir wenig später zum Auto zurückkehrten, war die Seitenscheibe eingeschlagen. Nur allmählich realisierte ich, was geschehen war. Diebe hatten die wertvolle Fotoausrüstung, eine Videokamera und einige Elektrogeräte aus unserem Auto gestohlen.
Erst nach und nach merkte ich, was alles abhandengekommen war, und ärgerte mich. Gleichzeitig bemühte ich mich, alles sofort kleinzureden. »Nicht so schlimm«, murmelte ich, »so was kommt halt vor. Ist ja zum Glück keinem was passiert.« Auch wenn ich diesen Verlust gerne sofort von mir abgeschüttelt hätte, gelang es mir nicht. Wir warteten auf die Fähre und klebten notdürftig das Fenster zu. Immer wieder blickte ich im Wageninneren dorthin, wo vorher meine Fotoausrüstung und Videokamera gelegen hatten. Ich spürte sie noch förmlich in meinen Händen, sah all die Bilder und Filme vor mir, die ich in den Wochen davor mit ihr aufgenommen hatte. Meine Augen suchten die Stelle ab, ich wollte es einfach nicht wahrhaben, obwohl ich natürlich wusste, dass die Filme und Fotos unwiederbringlich verloren waren.
Die Nacht auf der Fähre war schrecklich. Dauernd wachte ich von unangenehmen Gedanken gequält auf. »Nur zwanzig Minuten hatten wir das Auto allein gelassen! Wieso bin ich nicht beim Wagen geblieben? Wie konnte ich nur? Das weiß man doch! Das macht man nicht mit einem vollgepackten Auto in Italien!«
Eigentlich war es wirklich keine Tragödie. Die Urlaubsfotos und Videoaufnahmen von der Familie und ein materieller Schaden von rund 4000 Euro. Es hatte keinerlei existentielle Bedeutung für mich, und trotzdem dauerte es etwa zwei Tage, bis sich in mir wieder Ruhe eingestellt hatte. Vorher haderte ich mit mir, war wütend und schaffte es nicht, meine Gedanken von dem abzuwenden, was geschehen war. Es nervte mich, denn im Angesicht der schweren Schicksalsschläge unserer Klienten war mein Verlust geradezu lächerlich.
Diese Geschichte zeigt, dass sogar unbedeutende Abschiede uns kurzfristig aus der Bahn werfen können und unsere Realität verändern. Oft versuchen wir, uns zunächst gegen die Endgültigkeit des Abschieds zu wehren, und wollen die veränderte Realität lange Zeit nicht wahrhaben. Selbst bei rein materiellen Verlusten dauert es eine gewisse Zeit, bis wir in der Lage sind, diese Veränderungen zu akzeptieren. An den kleinen Abschieden üben wir für die größeren. Die wirklich großen Abschiede in unserem Leben sind sehr viel schwerer zu meistern: das Ende einer engen Beziehung, das Zerplatzen eines Lebenstraums, die Erfahrung schwerer Krankheit oder der Verlust eines geliebten Menschen. Die Erfahrung solcher Verluste kann so niederschmetternd sein, dass der getroffene Mensch für lange Zeit niedersinkt und jede Perspektive verliert: Er weiß dann nicht, wie das Leben weitergehen könnte. Das Dasein scheint zu stagnieren, alles wirkt sinnlos und vergebens. Ein Spalt der Leere tut sich auf zwischen dem Verlorenen, dessen unerreichbares Bild uns noch immer ganz erfüllt, und einer Zukunft, die matt und leblos vor uns zu liegen scheint. Gibt es dabei eine gute Art, Abschied zu nehmen? Wenn wir als Kind Abschied nehmen mussten, konnte es passieren, dass wir hemmungslos weinten. Tränennass und von Schluchzern geschüttelt gaben wir uns ganz der Traurigkeit und dem Schmerz hin. Wir schafften es kaum zu sprechen, und unsere Worte wurden von heulenden Klagelauten zerrissen. Wenn man uns ließ, weinten wir so lange, wie wir eben brauchten. Manchmal auch bis zur Erschöpfung. Und wenn das Weinen langsam versiegte und nur noch Seufzern Platz machte, fuhren wir uns mit der Zunge über Lippen und Mundwinkel. Wir kosteten den salzigen Geschmack der Tränen, verharrten noch eine Zeit nachdenklich, und dann machten wir uns wieder auf den Weg, die Welt auf ein Neues zu erkunden. Das Salz der Tränen war der Wendepunkt, und Minuten später waren wir wieder ganz in unser Spiel versunken, als hätte es all den Kummer nie gegeben.
Kinder schaffen es besser, sich dem Abschied hinzugeben und ihn schließlich auch zuzulassen. Wir Erwachsenen tun uns oft schwerer, versuchen den Schmerz zu vermeiden oder bleiben gefangen in der grauenhaften Erfahrung des Verlustes. Was befähigt Menschen, mit Abschied umzugehen? Ist es möglich, daran zu wachsen? Wie kann Abschied in den verschiedenen Stadien unseres Lebens gelingen? Wie wirkt das Salz der Tränen?
Schmerz als
elementare Erfahrung
Sogar kleine Abschiede schmerzen uns. Aber gleichzeitig sind sie notwendige Wendepunkte unseres Lebens und erlauben uns eine Weiterentwicklung und Wachstum.
Größere Abschiede werfen uns monate- oder jahrelang aus der Bahn. Es tut weh, sich von vertrauten Menschen, Tieren, Dingen, Orten oder Überzeugungen trennen zu müssen. Wir haben oft relativ klare Vorstellungen von unserer Zukunft.
Wenn dann unvorhergesehene Ereignisse eintreten, die unsere Vorstellungen völlig zunichtemachen, reagieren wir mit Verleugnung, Schock, Verzweiflung, Angst, Ärger oder Resignation. Je nach Person dominieren unterschiedliche Reaktionen, und viele Gefühle stellen sich erst nach und nach ein. Die verschiedenen Erlebensweisen können sowohl nacheinander als auch parallel ablaufen, und wenn man meint, eine Gefühlsreaktion hätte ihren Abschluss gefunden, dann kann sie – verursacht durch beliebige Auslöser – wieder aufs Neue ablaufen. Wie lange es dauert, bis ein Abschied bewältigt ist, hängt sehr von der betroffenen Person und der Art des Abschieds ab.
Kleine Abschiede brauchen vielleicht nur Tage oder Wochen, große manchmal Jahre. In manchen Fällen gelingt es nie wieder, Boden unter den Füßen zu finden.
Einige Abschiede sind mit überwältigendem Schmerz verbunden. Die Wucht kann so groß sein, dass wir jeden Halt verlieren und ins Nirgendwo zu stürzen scheinen. Der Schmerz baut sich auf aus der Spannung zwischen dem geliebten Verlorenen und seiner Abwesenheit im Jetzt. Je wichtiger uns das Verlorene im eigenen Leben schien und je mehr wir es als zentralen Teil unseres eigenen Lebens sahen, desto quälender ist nun unser Schmerz. Je größer die Liebe, desto größer der Schmerz. Andererseits erleben wir, dass gerade durch das Durchleben dieses tiefen Schmerzes auch Neues entstehen kann. Es ist ja gerade der Schmerz, der uns zwingt innezuhalten, uns ganz dem Verlust zuzuwenden, um allmählich begreifen zu können, was uns widerfahren ist: Das gestrige Leben ist Vergangenheit, wir müssen den vertrauten Raum des früheren Lebens verlassen und uns auf den Weg ins Unbekannte und Fremde begeben. Abschied bedeutet daher auch eine Pendelbewegung zwischen der schmerzlichen Rückschau auf das Vergangene und dem nach vorne gewandten Blick auf die Möglichkeiten der Zukunft. Beides hat dabei seine Berechtigung. Sowohl die sehnsuchtsvolle Würdigung des Vergangenen als auch das mutige Vorwärtsgehen ins Zukünftige.
Wir alle haben Angst vor dem Tod, dennoch sind sich viele Menschen ihrer Furcht nicht bewusst. Als Jugendlicher ist einem der Tod manchmal sogar egal, übermütig wird er in unsinnigen Mutproben herausgefordert, als sei man im Grunde unverletzbar: »Soll er doch kommen, der Tod, dann habe ich wenigstens gerade das Leben voll ausgekostet.« Aber auch viele Erwachsene empfinden den Tod nicht als reale Gefahr: Er kann einem nichts anhaben, wird einen nicht erwischen. Nicht einen selbst. Der eigene Tod scheint unendlich fern.
Andererseits sind wir täglich vom Tod umgeben: Allabendlich laufen im Fernsehen Serien und Spielfilme, in denen dutzende Menschen durch Mord, Totschlag oder Unfall ums Leben kommen. In detailgenauen Ausschnitten und großformatigen Bildern wird der Tod in Szene gesetzt, gerne auch als Schockeffekt mit abgerissenen Gliedmaßen oder verwesenden Leichen. Diese Konfrontation scheint vielen einen anregenden Schauer des Gruselns zu vermitteln. Besonders praktisch ist, dass wir den Fernseher jederzeit ausmachen können und damit den Tod »auf Kommando« aus unserem Leben verbannen bzw. »abbestellen« können. Seit jeher wurde der Tod in Geschichten und Phantasiewelten eingebunden. Früher vor allem in Märchen, heutzutage überwiegend in Film und Fernsehen. In der Realität unseres Alltags scheint er dagegen gar nicht mehr zu existieren. Wir haben in Wirklichkeit so viel Angst vor der Begegnung mit ihm, dass wir ihn sorgsam aus unserem Leben heraushalten. Wir sind mehr und mehr in Gefahr, Auseinandersetzung und Umgang mit dem realen Tod zu vergessen.
Wenn in Filmen jemand stirbt, kann man den begleitenden Dialog der Angehörigen und Freunde beinahe voraussagen: »Er hätte gewollt, dass wir weitermachen … Er hätte gewollt, dass wir dennoch feiern … das Leben geht weiter …«
Als ginge es darum, den Verlust möglichst schnell abzuhaken. Der Schmerz hat wenig Raum in unserer modernen Zeitrechnung, und wir laufen Gefahr,...