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Weiße Nelken für Elise

Die Liebe meiner Großeltern zwischen Wehrmachtsbordell und KZ

AutorBeate Schaefer
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl212 Seiten
ISBN9783741211836
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Elise und Walter. Ein Liebespaar. Ein Elternpaar. Kein Ehepaar, und ohne bürgerliche Moral. Für die Nationalsozialisten waren die Prostituierte und ihr Zuhälter "Asoziale", "unwertes Leben", das es zu vernichten galt. Meine Großmutter Elise wurde zur Arbeit in einem Straßburger Wehrmachtsbordell gezwungen, mein Großvater Walter ins KZ-Dachau gebracht und 1942 in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet. Während der NS-Staat im Krieg zum größten Zuhälter wurde, brachte er meinen Großvater für dieselbe Betätigung um. Das Schweigen meiner Eltern war das große Schweigen der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Leute wie Walter, so die Überzeugung, seien völlig zu Recht im KZ gewesen, denn es waren ja "schlechte Menschen", deren Nachkommen sich für sie schämen mussten. Im Zuge meiner Recherchen wurde mir klar, dass diese von den Nazis verfolgten "Asozialen" zehntausende gewesen waren. Sie wurden nach dem Krieg von den "unwürdigen" zu den vergessenen Opfern. Die Originalversion von "Weiße Nelken für Elise" erschien 2013 im Verlag Herder, Freiburg. Für die vorliegende Taschenbuchausgabe wurde der Text von der Autorin überarbeitet und durch ein Nachwort des renommierten Publizisten Erik-Michael Bader ergänzt.

Beate Schaefer wurde 1961 in Frankfurt am Main geboren und studierte dort Germanistik und Kunstgeschichte. Nach dem Magisterexamen arbeitete sie im Bereich Public-Relations, ehe sie sich 1996 als Autorin selbstständig machte. Sie veröffentlichte mehrere Romane und Theaterstücke. "Weiße Nelken für Elise" ist ihr erstes Sachbuch. Beate Schaefer lebt in Kiel.

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Leseprobe

Familiengeheimnis


Ich war etwa zehn oder elf Jahre alt, als ich zum ersten Mal davon hörte. Die Erwachsenen – meine Eltern, meine Großtante Anna und ihr Mann sowie meine gastgebende Großmutter Elise und meine fast neunzigjährige Uroma Elisabetha – saßen im Wohnzimmer am für diese Gelegenheit ausgezogenen Esstisch und spielten nach einer üppigen Mahlzeit Kanasta. Dazu tranken sie Aquavit und rauchten, mein Vater Zigarre, die anderen, außer meiner Uroma, Zigaretten. Ich lag unterhalb der Rauchschwaden bäuchlings auf dem Teppich neben der riesigen mahagonifarbenen Schrankwand, in deren offenem Teil sich außer einem gusseisernen Schankgestell für eine Weinflasche, einem massiven gläsernen Esel, von dem ich damals noch nicht wissen konnte, dass er venezianischen Ursprungs war, und einer Reihe bunter, geschliffener Weingläser mit langen Stielen nur ein paar Bücher befanden, darunter zwei große, leinengebundene Bildbände über „Tiere der Urzeit“ und „Menschen der Vorzeit“. „Tiere der Urzeit“ mit den magischen Unterwasserlandschaften des Kambrischen Meeres, den Steinkohlenurwäldern und den Dinosauriern des Mesozoikums mochte ich lieber als das Buch über die Vormenschen. Ich war zwar gern bereit zu glauben, dass die Vorfahren jenes Araberhengstes, der zu Hause das Titelblatt meines Pferdekalenders zierte, hasengroße Sumpfbewohner gewesen waren. Was ich seit Neuestem ablehnte, war meine Abstammung vom Affen, seitdem mir der Chefgorilla im Frankfurter Zoo kürzlich direkt vor die Füße gekotzt hatte. Zwar trennte uns eine Panzerglasscheibe, aber ich war nach diesem Erlebnis keine Affenfreundin mehr, und wenn ich dann doch einmal im zweiten Bildband blätterte, grübelte ich darüber nach, weshalb es eigentlich heute noch Menschenaffen gab, während ich Eohippus, Mesohippus und Merychippus, die Vorfahren des Pferdes, nurmehr als Fossilien aus dem Frankfurter Senckenberg-Museum kannte. Die da oben am Tisch zu befragen, hätte nichts gebracht, denn mir war irgendwie klar, dass weder meine Omas noch die Großtante jemals einen Blick in diese Bücher getan hatten. Und meine Eltern fanden, dass ich sowieso viel zu viel nachdenken würde; sie hätten mich wahrscheinlich einfach rausgeschickt, „damit du mal an die frische Luft kommst“. Also rührte ich mich nicht und kehrte zurück zu Ramporhynchus und Brontosaurus, während oben am Tisch die Frauen bei den Witzen, die mein Großonkel erzählte, kreischend auflachten und Schnaps kippten, bis irgendeiner die letzten Karten auf den Tisch knallte und „Kanasta“ rief. Dann wurde das Blatt neu gemischt, und es ging wieder von vorne los. Von den Gesprächen, die geführt wurden, bekam ich nicht viel mit, sie interessierten mich auch nicht weiter. Bis an diesem Nachmittag die Worte fielen „mein Geschäft in Straßburg“. Ich wurde aufmerksam und löste den Blick von einem Meeressaurier, der dabei war, ein paar gepanzerte Fische zu jagen. Meine Großmutter hatte ein Geschäft in Straßburg gehabt? Ich wusste, dass Straßburg in Frankreich lag, wir waren im vergangenen Sommer dort gewesen, auf dem Weg nach Süden. Straßburg, Frankreich, Ausland, das fand ich spannend und ich lauschte aufmerksam, doch viel zu schnell wandte sich die Unterhaltung anderen Themen zu. Danach habe ich von diesem „Geschäft“ bei ähnlichen Gelegenheiten immer mal wieder gehört, doch eine gewisse Scheu, die mir von meinen Eltern meiner Großmutter gegenüber eingepflanzt worden war, hielt mich davon ab, Oma Elise einfach danach zu fragen.

Ein Mensch, für den ich mich in dieser Zeit mehr und mehr zu interessieren begann, war unbekannterweise mein Großvater Walter. Ich ließ nicht nach zu bohren, warum mein Papa nicht Samstag hieß wie sein Vater. Den Nachnamen Schäfer fand ich doof, ich hätte viel lieber Beate Samstag geheißen. Was mich auch verwirrte, war, dass Oma Elise weder Schäfer noch Samstag hieß, sondern Reger. Wer aber war Herr Reger gewesen, und wo war Walter Samstag? Man sagte mir nur, dass Walter meine Oma sitzengelassen hatte, als sie schwanger geworden war, und dass er schon lange tot sei.

Erst viel, viel später kapierte ich die Zusammenhänge: Meine Großmutter trug den Namen ihres Mannes Willi Reger, von dem sie aber geschieden war. Mein Vater trug ihren Mädchennamen, Schäfer, beziehungsweise den seines Großvaters, unter dessen Vormundschaft er aufgewachsen war. Aber als Kind waren mir diese Einzelheiten verborgen. Alles, was ich wusste, war also, dass Opa tot und dass Papa unehelich geboren war, und meine Großtante Anna, eine kleine, immer noch hübsche, blondierte Frau, die zeitlebens Stöckelschuhe mit zwölf Zentimetern Absatz trug und sie mich, solange meine Schuhgröße noch 36 betrug, manchmal anprobieren ließ, sagte einmal zu mir: „Dein Vater, das war unser kleines Bankertchen.“ Dabei strich sie mir über den Kopf und lachte ihr raues Zigarettenlachen.

Meine Eltern wollten, nachdem sie mich mit diesen Informationen versorgt hatten, nicht weiter darüber reden, ich aber war neugierig, wie alle Kinder, die spüren, dass es ein Familiengeheimnis gibt. Ganz abgesehen davon, dass ich in diesem Alter anfing, die Vorstellung zu genießen, vielleicht gar nicht die Tochter meiner Eltern zu sein. Ich wäre zu gern ein Adoptivkind gewesen und versuchte oft, meiner Mutter ein „Geständnis“ zu entlocken. Wenn ich nicht gerade davon träumte, eine Waise zu sein, fragte ich nach meinem Großvater. Wie hatte er ausgesehen? Warum hatte er Oma nicht geheiratet? Wieso war er so früh gestorben? Kinderfragen, die ohne Antwort blieben, obwohl wir ebenso regelmäßig, wie wir jeden Monat meine Großmutter und Urgroßmutter im Taunus besuchten, zu Walters uralter Mutter nach Mannheim fuhren. Doch niemand sprach in meiner Gegenwart jemals ausführlicher über ihn, ja, es kam kaum vor, dass einmal beiläufig sein Name fiel. Ein Foto von ihm konnte ich nirgendwo entdecken, weder in den alten Fotoalben bei Uroma noch in der kleinen „Ahnengalerie“ – gerahmten Schwarzweißfotos der Familienmitglieder dreier Generationen im Schlafzimmer meiner Eltern. Nervte ich zu sehr, hieß es: Der ist im Krieg umgekommen. Oder: Der ist an der Front erschossen worden. Als man mich wohl irgendwann für reif genug hielt, erfuhr ich schließlich: „Der Walter, das war ein schlechter Mensch. Der ist ins KZ Dachau gekommen und dort gestorben.“

Das muss für mich offenbar völlig plausibel geklungen haben, denn ich war mit dieser Information zufrieden und dachte danach jahrelang nicht mehr an meinen Großvater. Bis zu jenem Tag, vielleicht einem faulen Sonntag im Bett, vielleicht einem von ledrig duftenden Platanenblättern erfüllten Herbstnachmittag am Main, an dem ich mich, mittlerweile Anfang zwanzig, plötzlich an diese zwei Sätze erinnerte und mit einem Mal begriff, was sie eigentlich bedeuteten, wie menschenverachtend dieser Unsinn war, der mir da aufgetischt worden war. Denn kein Mensch war zu Recht im KZ gewesen. Ich schämte mich für meine Dummheit und begann zu dieser Zeit mit den ersten, zaghaften Recherchen.

Meine Scheu vor Elise war längst verflogen Im Gegensatz zu meinen Eltern mochte ich ihre Exaltiertheit, ihre schicken Kostüme in Weiß, Marineblau, in Hahnentrittmuster oder rosa-meliertem Bouclé, ihr intensives Parfüm, ihr zu lautes Lachen in Aufmerksamkeit heischenden Koloraturen, ihr dramatisch rollendes R, wenn sie erzählte – was sie gerne tat – immer mit großen Gesten und immer auf die Pointe bedacht. Als ich mit achtzehn von zu Hause auszog, suchte ich häufiger den Kontakt zu ihr. Sie war nach dem Tod meiner Urgroßmutter in eine kleine Hochhauswohnung im Nachbarkaff gezogen, und meine Eltern forderten mich auf, mich ein wenig um sie zu kümmern. Ich fand bald heraus, dass ich mich prima mit ihr gegen meine Eltern solidarisieren konnte. Sie hatte in allem andere Ansichten, als ich es von zu Hause gewohnt war, vor allem, was den Umgang mit Männern betraf. „Mir kommt keiner mehr ins Haus“, sagte sie oft. „Keinem wasch ich mehr die dreckigen Unterhosen.“ Aber sie erklärte mir, dass man als Frau immer eine Flasche Sekt im Kühlschrank haben müsse, und wenn der Postbote kam, bat sie ihn herein und trank morgens um elf mit ihm einen Schnaps. Faszinierend. Wenn meine Eltern sie kritisierten, nahm ich regelmäßig Partei für sie. Da ich ein Auto hatte, holte ich sie manchmal ab, fuhr mit ihr nach Frankfurt, ging mit ihr ins Café und stellte bald fest, wie viel sie mir über die Stadt erzählen konnte, in der ich immerhin geboren, wenn auch nicht aufgewachsen war, und in der ich jetzt studierte. Sie berichtete mir über ihre Kindheit in der Frankfurter Altstadt, vom Baden bei Mosler, von den Naziaufmärschen auf der Zeil, von ihrer Lehre als Friseuse, von ihrer kurzen Ehe mit dem Metzgergesellen Willi Reger, sie erwähnte auch ihr Geschäft in Straßburg, von wo sie während des Krieges regelmäßig Geld an ihre Eltern schickte, die ihr Kind aufzogen. Sie berichtete vom Leben in der Baracke bei Steinau, ausgebombt nach dem Krieg, von ihrer...

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