Unterweisungen von Atisha an den
König Lha Lama Jangchub Ö
Der indische Meister Atisha wurde im 11. Jahrhundert nach Tibet eingeladen. Er kam zunächst über Nepal nach Ngari, Westtibet, wo er drei Jahre lang weilte. Später gelang es seinem Schüler Dromtönpa und anderen tibetischen Meistern, ihn mit großen Mühen und geschickten Methoden nach Zentraltibet zu bringen. Eigentlich hätte Atisha nach seinem dreijährigen Aufenthalt in Westtibet nach Indien zurückkehren müssen. Der tibetische Übersetzer Norsang Lotsawa, der Atisha nach Tibet geholt hatte, hatte versprochen, Atisha nach drei Jahren wieder zurückzubringen. Zuerst hatte er Atisha gedrängt, nach Tibet zu kommen. Kurz vor Ablauf der dreijährigen Frist drängte er ihn jedoch aufgrund seines Versprechens, doch wieder nach Indien zurückzugehen. Sie befanden sich also schon wieder auf dem Weg nach Indien, als ihn der tibetische König Lha Lama Jangchub Ö inständig bat: „Bitte gib uns noch eine Unterweisung.“ Atisha antwortete: „Ich habe euch schon viele gegeben.“ Doch der König beharrte auf seiner Bitte, und daraufhin verfasste Atisha diesen Text, den ich nun durchgehen möchte.
Zunächst möchte ich berichten, wie ich diesen Text erhalten habe.
Im Alter von 14 Jahren kam ich von meiner Heimat in Osttibet nach Zentraltibet, um an der Klosteruniversität Drepung, der größten Klosteruniversität der Welt, zu studieren. Drepung beherbergte damals offiziell 7.700 Mönche, aber in Wirklichkeit studierten dort um die 9.000 Mönche. Nach dem Unterricht mussten wir Studenten die behandelten Texte auf dem Disputationsplatz diskutieren. Das Zuhören allein genügte nicht, wir mussten „face to face“ darüber debattieren. Ohne Debatte war das Studium nicht sorgfältig genug. Wir mussten uns immer wieder mit den studierten Texten und Erklärungen auseinandersetzen, uns selbst weiterführende Gedanken machen und den Kopf darüber zerbrechen: „Was spricht dafür? Was spricht dagegen?“ Das mussten wir immer wieder miteinander diskutieren. Theoretisch bestand freie Wahl, mit wem wir diskutierten, und die Diskussionspartner wurden auch immer wieder gewechselt. Von meinem Charakter her gesehen, war ich aber sehr scheu. Außerdem war ich gerade frisch aus Osttibet gekommen, wo ich bis zum 14. Lebensjahr sehr isoliert, ohne Spielkameraden und nur von erwachsenen Begleitern umgeben, gelebt hatte. In Drepung angekommen, musste ich dann gleich ins kalte Wasser springen. Umgeben von Tausenden von Mönchen und vielen anderen Rinpoches war es für mich nicht so einfach, meine Scheu zu überwinden und mir die nötige Offenheit zu verschaffen. Das hat mich sehr viel Überwindung gekostet. Aufgrund meiner Scheu war es mir nicht möglich, auf jeden Mitstudenten zuzugehen und mit ihm zu debattieren. Glücklicherweise fand ich schließlich jemanden, mit dem ich diskutieren konnte. Viele andere zeigten mir (als Rinpoche) gegenüber sehr große Ehrfurcht und Respekt. Das machte es für mich nur noch schwieriger. Wenn wir ganz geradeheraus, auf Augenhöhe kommuniziert hätten, wäre es mir leichter gefallen. Wenn mein Gegenüber mir aber mit zu viel Ehrfurcht und Respekt begegnete, dann zog ich mich noch mehr zurück, und es fand keine Begegnung statt. Es gab aber einen jungen Mönch, der war ziemlich ungeniert, und das hat mir sehr geholfen. Jedes Mal, wenn ich zum Disputationsplatz ging, suchte ich sofort nach ihm, und wenn ich ihn fand, hielt ich ihn fest. Dann haben wir zusammen diskutiert, und wir sind sehr gut vorangekommen. Er hat gleich gemerkt, dass ich innerlich Probleme hatte, abgelenkt war und nicht so intensiv studierte. Deshalb hat er mir diesen kurzen Text von Atisha einmal kommentarlos geschenkt.
Zuhause habe ich ihn immer wieder gelesen, und ich muss wirklich sagen, dass mir dabei die Tränen geflossen sind. Es ging mir an die Substanz und in die Tiefe hinein. Damals habe ich richtig verstanden, was Buddhismus ist. Dieses Geschenk war also das Geschenk meines Lebens. Es ist ein ganz kleiner Text, der mir kommentarlos einfach so gegeben wurde, aber er hat mir sehr genutzt. Ich konnte auch fast alles verstehen, was Atisha darin gesagt hat. Damals ist mein Interesse am Dharma richtig erwacht. Dadurch bin ich auch wacher und interessierter geworden, um neben dem philosophischen Studium auch Lamrim und den gesamten Buddhismus zu studieren. Das war ein großartiges Erlebnis. Jedes Mal, wenn ich diesen Text lese oder in die Hand bekomme, erinnere ich mich an den Mönch, an seine Güte und an seine große Unterstützung.
Nun möchte ich mit der Erläuterung des Textes beginnen. Atisha hat Folgendes zum König Lha Lama Jangchub Ö gesagt:
Du hast ein hohes Wissen, deine Gedanken sind sehr klar, deshalb bin ich eigentlich nicht in der Lage, Freunden wie dir und vielen anderen auch noch einen Rat zu geben, weil ich selbst nicht dazu fähig bin. Meine Gedanken sind so niedrig, dass ich nicht in der Lage bin, euch einen großartigen Rat zu geben. Aber weil du es bist, ein von Herzen geschätzter, vortrefflicher Freund, weil du mich inständig gebeten hast, nochmals etwas zu sagen, deshalb will ich, eine Person mit begrenztem Geist, versuchen, meine Gedanken zu formulieren und einen Rat zu geben, um dich ein bisschen zu unterstützen. Freunde, solange man Buddhaschaft nicht erlangt hat, benötigt man einen Lehrer. Deshalb nehmt einen vortrefflichen Lehrer an. Solange man die Wahrhaftigkeit des absoluten Zustands nicht verstanden oder nicht erkannt hat, benötigt man „Hören“, d.h. Studium, deshalb hört euch die Unterweisungen von eurem Lama an.
Viele von uns, einschließlich der Tibeter, fallen bezüglich des Dharma-Studiums in eines der beiden Extreme: Ein Extrem ist, dass wir zu jedem Lehrer rennen, der über Dharma spricht oder Einweihungen gibt, und Dharma konsumieren, ohne etwas für uns zu behalten oder tiefer zu verinnerlichen. Das ist eindeutig falsch. Ebenfalls eindeutig falsch ist es, wenn man Genügsamkeit über das Dharma-Hören übt, indem man sich mit dem begnügt, was man bereits gehört hat. Man kultiviert also eine innere Haltung, dass man bereits genug Dharma gehört hat: „Ich bin seit so und so vielen Jahren bei diesem und jenem Lehrer mit großartigem Namen; von diesem habe ich das bekommen, von jenem habe ich das bekommen und vom nächsten habe ich das bekommen. Jetzt habe ich genug und gehe zu keinen wichtigen Unterweisungen mehr.“ Man geht also nicht mehr zu Unterweisungen von guten Lehrern wie S. H. Dalai Lama oder S. H. Sakya Trizin oder anderen guten Lehrern, sondern behauptet, dass man bereits genug Wissen erlangt hat. Das ist falsch.
Solange man Buddhaschaft nicht erreicht hat, benötigt man einen Lehrer. Deshalb nehmt einen guten Lehrer, einen vortrefflichen Lehrer an.
Was bedeutet es, ein „vortrefflicher Lehrer“, „guter Lehrer“ zu sein? Wie merke ich das? S. H. der Dalai Lama hat öfters ein schrittweises Vorgehen empfohlen. Zunächst besucht man Seminare oder Vorträge bei einem Dharma-Redner und betrachtet diesen als Dharma-Freund, ohne eine Lehrer-Schüler-Beziehung aufzubauen. Man hört einfach nur mal zu. Durch dieses Hören und auch durch die Information von anderen Menschen kann man zu der Überzeugung kommen, dass dieser Lehrer ein guter Lehrer sei. Wenn man überzeugt ist, dass dieser Lehrer ein guter Lehrer ist, dann soll und kann man eine Lehrer-Schüler-Beziehung aufbauen.
Ein guter Lehrer oder eine gute Lehrerin sollte folgende Eigenschaften besitzen:
1. Er soll ein guter Mensch sein, das ist wichtig.
2. Er soll mehr Wissen haben als man selbst, denn wenn ich einen Lehrer annehme, dann will ich von ihm Überlieferungen erhalten oder zumindest will ich etwas von ihm lernen. Deshalb muss er oder sie mehr Wissen haben als ich. Wenn ich mehr Wissen habe als der Lehrer, dann bin ich nicht auf seine Hilfe angewiesen. In der traditionellen Erklärung sagt man, der Lehrer muss selbst viel „gehört“, also Dharma studiert haben.
3. Der Lehrer soll nicht gierig sein. Er soll kein Interesse an weltlichen Dingen und finanziellem Profit haben. Das ist ein wichtiger Punkt.
Aus der Sicht des Sutra, Tantra, Vinaya, Bodhisattvayana gibt es verschiedene Aufzählungen der Qualitäten eines Lehrers. Es hängt davon ab, was ich jetzt gerade lernen möchte. Wenn ich die 900 Regeln der Mönchsdisziplin bzw. Vinaya lernen möchte, dann muss der Lehrer eine andere Qualität haben als ein Lehrer für Tantra oder Sutra. Wie schon gesagt, ist es besonders wichtig, ein guter Mensch zu sein. Das bedeutet, dass man andere Menschen wichtiger erachtet als sich selbst. Darüber hinaus soll die Person mehr Wissen haben und keine weltlichen oder finanziellen Interessen.
Solange man den absoluten Zustand nicht erkannt hat, benötigt man das Hören (Studieren). Daher hört euch Unterweisungen von den Lehrern an.
Hier geht es um die Leerheit. Wir müssen die Leerheit, den absoluten Zustand aller Phänomene (sowohl der Personen als auch aller anderen Phänomene) richtig erkannt haben. Dabei sind...