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Leben nehmen

Verführung zum Leben. Gedanken zur Suizidverhütung.

AutorHelmut F. Späte, Klaus-Rüdiger Otto
VerlagVerlag Ille & Riemer
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl182 Seiten
ISBN9783954201082
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der Mensch ist mit Vernunft begabt wahrscheinlich das einzige Tier, das seinen Tod vorwegnehmen, ihn planen, ja sogar herbeiführen kann.'Leben nehmen' - im allgemeinen Sprachverständnis wird dabei zunächst an 'Leben wegnehmen', an 'Leben beenden' gedacht - und das möglichst gewaltsam und vor der Zeit. Ich kann mein Leben 'wegwerfen', kann es beenden, kann es auslöschen. Mir kann auch das Leben genommen werden, etwa durch einen Unfall, von einem Totschläger oder vom Staat, sofern ich in einem Lande lebe, das die Todesstrafe als archaisches Mittel der Selbstbehauptung und der Machtdemonstration noch nötig hat. 'Leben nehmen' kann aber auch bedeuten, dem prallen, einmaligen Leben mit offenen Armen entgegen zu stürmen, es zu um umfassen und festzuhalten. Es entspräche der Natur des Menschen viel eher, sein Leben auszukosten mit seinen guten und seinen miesen Seiten und es damit - wie das heute allenfalls erwartet wird - es zu gestalten. Diese Zweideutigkeit von 'Leben nehmen' ist nun gleichsam Symbol aller Fragen und aller Antworten und aller Tragik, die sich um daS Suizidproblem ranken: Die Unentschiedenheit des Suizidenten zwischen den Polen des 'So-nicht-mehr-Weiterlebenkönnens' und der unbändigen Liebe zum Leben macht die ungeheure Spannung aus, in die jeder gestellt ist, der mit suizidalen Menschen zusammentrifft.

Prof. Dr. med. habil. Helmut F. Späte wurde 1936 in Gera geboren und studierte Medizin in Leningrad und Berlin. Nach der Facharztausbildung in Brandenburg-Görden und Habilitation war er bis 1984 Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses für Psychatrie und Neurologie in Bernburg. Bis 1993 dann Inhaber des Lehrstuhls für Psychatrie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und anschließend bis 2002 stellvertr. Ärztlicher Direktor des Kommunalen Psychiatrischen Krankenhauses Halle. Seitdem arbeitet er als freiberuflicher Gutachter.

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Leseprobe

I   Annäherung an das Thema: Suizidales Handeln und wir


An der jetzt nicht mehr sichtbaren Grenze zwischen Potsdam und Berlin befindet sich der „Selbstmörderfriedhof“ – einer der idyllischsten Friedhöfe Berlins. Friedhöfe haben für uns eine besondere Bedeutung:

Auf dem Stadtgottesacker in Halle an der Saale hat Klaus Otto während des Studiums Anatomie und Physiologie gebüffelt. Dort war man ungestört, nur selten verirrte sich jemand in das damals verfallene Denkmal Hallescher Stadtgeschichte.

In all den Jahren danach ist er an diesen stillen, denkwürdigen Ort zurückgekehrt, immer wenn er in seiner Heimatstadt umherschlenderte, eine kleine, fast rituelle Handlung.

In ähnlicher Bedrängnis, vor den drohenden Examen, ist Helmut Späte die langen, traurigen Birkenalleen des Piskarjowskoje Kladbischtsche im Norden Sankt Petersburgs (des damaligen Leningrad) entlang spaziert, in unmittelbarer Nähe des Studentenwohnheims im 20. Pavillon, am Ende der Straßenbahn Nr. 14.

Links und rechts säumten hölzerne oder gusseiserne Doppelkreuze der Ostkirche die sandigen Wege. Viele dieser Kreuze waren mit ovalen Fotografien der Verstorbenen versehen: Männer mit Bärten, verhärmte Frauengesichter oder blühende Mädchenantlitze mit großen, fragenden Augen.

Auf Reisen suchen wir auch heute immer noch die Friedhöfe auf, weil wir die Überzeugung haben, dass Friedhöfe das Spiegelbild dafür abgeben, wie die Menschen im Leben miteinander umgegangen sind.

Auf dem „Marxer“ in Wien gibt es prächtige Gräber für Beamte, aber kein Grab für Mozart, nur ein Denkmal, hundert Jahre nach seinem Tod errichtet.

In Basel ist eine Abteilung für Kindergräber eingerichtet, mit Gräbern, die wie gedeckte Geburtstagstische geschmückt sind.

In Lissabon heißt ein Friedhof „Platz der Freuden“, jeder jüdische Friedhof ist ein religiöser Ort.

Balzac nennt „Pére-Lachaise“ das mikroskopische Paris.

Genauso stellt sich der alte Anstaltsfriedhof in Gütersloh als Symbol der sozialen Verhältnisse zu Lebzeiten der Verstorbenen im Krankenhaus dar. Er ist ein selten eindrucksvolles Denkmal von Hierarchie auf Ewigkeit.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden im Grunewald an einer Stelle, an der häufig Wasserleichen in der Havel angetrieben wurden, heimlich Selbstmörder bestattet, weil sie nicht in geweihter Erde begraben werden durften. 1879 wurden diese unerlaubten Beerdigungen legalisiert. In Zuständigkeit der Forstverwaltung wurden die Menschen, die sich im Grunewald oder in der Havel suizidiert hatten, auf dem „Friedhof der Namenlosen“ bestattet.

Erst 1928 wurde diese Begräbnisstätte eingezäunt und als Friedhof gestaltet. Die genaue Lage wurde lange Zeit geheim gehalten. Er liegt versteckt mitten im Wald, ohne befestigte, hinführende Straße. Obwohl ich schon mehrfach dort war, verlaufe ich mich immer wieder. Manchmal tauchte beim Suchen im Wald unvermittelt der Förster auf, der dann den Weg kannte.

Die meisten Gräber sind anonym, größere Feldsteine nur mit Vornamen oder Initialen und einfache, schmucklose Holzkreuze kennzeichnen die Grabstellen. Ab und zu sind Ausdrücke wie „verunglückt“ oder „Opfer der Kälte“ als umschreibende Bezeichnung des Suizids zu finden, ein Friedhof, auf den nur selten Besucher kommen. Bestattungen finden dort schon lange nicht mehr statt. Ein besonderer Ort zur besonderen Besinnung und ein Denkmal für die Suizidenten.

Ein Ort auch, um darüber nachzudenken, weshalb wir uns nicht umbringen. Was hält den überwiegenden Teil der Bevölkerung davon ab, Suizid zu begehen, auch wenn die objektiven Lebensumstände so sind, dass das Leben ihnen nur noch wenig Hoffnung oder Liebenswertes zu bieten hat? Jeder kann ein subjektiv existentielles Problem so wahrnehmen, dass die Antwort nur der Tod sein kann.

Gibt es einen uns innewohnenden, unbewussten Überlebenstrieb? Findet sich auch in schweren Beeinträchtigungen der Lebensmöglichkeiten immer ein nicht aufgebrauchter Rest an sozial akzeptierten Lebenszielen? Stehen immer mehr gesunde Anteile der Persönlichkeit zur Verfügung als gestörte oder kranke?

Gibt es eine natürliche moralische Hemmung davor, sich selbst zu töten? Sind Grenzsituationen möglicherweise Auslöser, um persönliche Reserven zu finden, die uns dem Leben zuwenden?

Schützt sich das Leben als fortwährender Kommunikationsprozess durch Kommunikation selbst vor dem Suizid? Bestehen in uns Hoffnungsstrukturen, etwa als topographischer anatomischer Ort in unserem Gehirn? Haben die meisten Menschen genügend „Glückshormone“?

Bietet auch das bedrängte Leben, der schwer belastete Alltag, doch noch immer Möglichkeiten, Kränkungen, Ärger und Aggressionen in Leistung zu wandeln? Haben wir eine natürliche Furcht vor dem Tod, die uns im Leben hält?

Eine lange Liste von Fragen, die angesichts der landläufigen Ohnmacht gegenüber suizidalem Verhalten in immer neuen Varianten gestellt werden. Fragen, die aber auch daraufhin deuten, dass suizidale Aktivitäten den engen, nur persönlichen Rahmen sprengen und tief im sozialen Gefüge des Menschen verankert sind.

Wir hatten bereits den größeren Teil der Kapitel niedergeschrieben und auch die großartigen Gedanken von Jean Baudrillard in uns aufgenommen, ihre Bedeutung für das Entstehen suizidalen Verhaltens zu ahnen begonnen, als ein früherer Patient in die Sprechstunde kam.

Im Verlauf der „Wende“ hatte ich ihn aus den Augen verloren. Nun stand er vor mir, gebeugt und alt geworden, und mit verzagter Geste und trauriger Miene bat er darum, ihn anzuhören.

Er berichtete über seinen Sohn, nennen wir ihn Benjamin. Der damals 24jährige Junge lebte bei seinem Vater. Als er 10 Jahre alt war, hatte sich die Mutter einem anderen Partner zugewandt und lebte fortan mit den beiden Kindern in Dresden. Als Benjamin 12 Jahre alt war, teilte die Mutter dem Vater telefonisch mit, dass sie den Sohn nicht länger behalten könne. Er zerstöre ihre neue Ehe – und außerdem brauche ein Kind in diesem Alter seinen Vater.

In dieser, die Gefühlswelt des Jungen aufwühlenden Zeit blieb die um sechs Jahre ältere Schwester der einzige ausgleichende und beständige Ruhepunkt, die einzige Bezugsperson, bei der der Junge Geborgenheit fand. Bei ihr holte er sich Rat, bei ihr weinte er sich aus. Sie gab ihm Halt und Zuversicht. In der Schule rebellierte er, vertrat offen seine Meinung, auch im Staatsbürgerkundeunterricht.

Dennoch schaffte er den Abschluss mit guten Noten, wurde aber für das Medizinstudium zunächst abgelehnt, weil er das Abitur nur mit 2,0 bestanden hatte und weil er kein Arbeiterkind war. Nach dem Wehrdienst in der Volksarmee wurde er für zwei Jahre Hilfspfleger auf einer Lungenstation und erhielt verspätet, aber dennoch, einen Studienplatz für Medizin. Zunehmend störte ihn die Enge der Welt. Und das reale Leben während der Armeezeit und im pflegerischen Alltag stellte sich anders dar, als ihm aus der Sicht des Faches Marxismus-Leninismus im Studium gelehrt wurde. In einer lose organisierten Gruppe, den „Erdrülpsen“, die von einem Pfarrer betreut worden war, tauschte er sich mit jungen Leuten aus, denen die miefige Welt, in die sie eingemauert waren, zu eng gewesen ist und die nicht mit der Sehnsucht nach einem freien, ungebundenen und grenzenlosen Leben in Einklang zu bringen war.

Der alte Mann suchte nach Begründungen für das non konforme Betragen seines Sohnes und mitunter lag ein Abglanz von Stolz in seinem Blick. Mit gedämpfter Stimme berichtete er weiter:

„Eines Tages war der Junge verschwunden, er kam nicht nach Hause, nicht heute; nicht am nächsten und nicht am übernächsten Tag. Er war verschollen. Niemand wusste, wo er hätte sein können. Es war die Zeit, in der in Prag die Botschaft der BRD belagert wurde und in der in Ungarn nach Wegen gesucht wurde, um aus dem Käfig auszubrechen. Eine Ahnung stieg in mir auf, dass es damit zusammenhängen könnte, zumal mich auch die scheelen Blicke und die schadenfrohen Bemerkungen der Kollegen trafen. Ich suchte weiter.

Zwei Wochen nach dem spurlosen Verschwinden des Jungen rief der für Staatsvergehen zuständige Staatsanwalt an und fragte mich, ob denn Benjamin mein Sohn sei. Und: „Der sitzt bei uns ein. Wenn sie mir zusichern, dass er nie wieder versuchen wird, die Republik zu verlassen, dann verfüge ich seine Entlassung.“ Dieses Anliegen habe ich abgelehnt, erhielt aber eine Besuchserlaubnis für die Untersuchungshaftanstalt.

Bei dem Versuch, auf dem Flughafen Leipzig eine Maschine nach Prag zu besteigen, waren er und sein Kumpel erwartet und verhaftet worden. Der dritte Kamerad war kurzfristig von der Mitreise abgesprungen, und dieser wurde zunächst von den beiden verdächtigt, sie verraten zu haben. Diese Meinung wurde dadurch verstärkt, dass ein Onkel von dessen Freundin Offizier bei der Staatssicherheit gewesen sei.

Nach drei Monaten, einen Tag nach dem Fall der Mauer kam er nach Hause. Er war abgemagert und wirkte distanziert und eigentümlich entrückt. Er teilte nur knapp mit, dass er nach Hamburg gehen und sein Leben „selbstständig in Freiheit“ gestalten werde.

Viel später erfuhr ich, dass Benjamin seinerzeit noch glaubte, dass ich in irgendeiner Weise dazu beigetragen hätte, dass er am Flughafen verhaftet worden war. Die Schwester Benjamins hatte bereits seit längerem einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gestellt...

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