KAPITEL 2 – KOHLENHYDRATE: RAKETENTREIBSTOFF FÜR SOFAHOCKER
Noch immer wird die Botschaft verbreitet, dass Kohlenhydrate einen Großteil unser aller täglichen Ernährung ausmachen sollten. Sogar Diabetikern wird dieser Ratschlag erteilt, obwohl ihre Erkrankung ja gerade darin besteht, diesen Nährstoff nicht gut verwerten zu können. In Wirklichkeit gehören Kohlenhydrate nicht einmal zu den essenziellen Nährstoffen – man könnte sie also komplett weglassen und würde keinen gesundheitlichen Schaden nehmen. Die geringe Menge an Blutzucker, die für den Körper wirklich unverzichtbar ist, kann er nämlich selbst aus Proteinen herstellen.
Alle für den Körper als Energie verwertbaren Kohlenhydrate sind entweder Stärke- oder Zuckerverbindungen und werden bei der Verdauung in die Einzelbausteine zerlegt und gegebenenfalls in der Leber noch zu Glukose umgebaut, um dann von dort über die Blutbahn den Geweben als Traubenzucker bzw. Glukose zur Verfügung zu stehen. Die Glukose dient allen Zellen vor allem als schnell verfügbare Energiequelle, doch damit sie dort überhaupt hinein gelangen kann, wird Insulin als Türöffner benötigt. Aber wenn ständig mehr von dem »Supersprit« verfügbar ist, als Muskeln und Nervenzellen verbrauchen, wandeln sie die Glukose in Fett um. Je mehr sich davon in den Zellen anreichert, desto unempfindlicher werden sie für das Schlüsselsignal. Dieser Zustand, Insulinresistenz genannt, ist entscheidend für die Entgleisung des Stoffwechsels, der zur Leberverfettung, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führt.
Wichtiger als die energieliefernden Kohlenhydrate sind ihre nichtverdaulichen Verwandten, auch als »Ballaststoffe« bezeichnet. Sie sättigen ohne Kalorien, regen die Darmtätigkeit an, unterstützen die Darmgesundheit unter anderem durch die Förderung der nützlichen Darmbakterien und scheinen dadurch eine besondere Bedeutung für die Lebergesundheit zu haben.
Brot fürs Volk
Offenbar ist es ungeheuer schwierig, sich von einer lang gehegten Liebe zu trennen. Anders ist es nicht zu erklären, dass offizielle Richtlinien (zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Ernährung) auch angesichts unseres hochtechnisierten, bewegungsarmen Alltags vorgeben, man solle »reichlich« Kohlenhydrate essen. Sogar Diabetiker, also an einer gestörten Kohlenhydratverwertung leidende Menschen, bekommen diesen Rat zu hören – zur Freude der Pharmaindustrie. Kartoffeln und Getreideprodukte wie Brot, Müsli, Nudeln und Reis sollen danach mindestens die Hälfte der täglich aufgenommenen Kalorien ausmachen. Immerhin sind diese Nahrungsmittel in manchen Pyramiden inzwischen um eine Stufe degradiert worden (von der breiten Basis in die nächst schmalere Reihe), aber eine echte Distanzierung von alten Treueschwüren sieht anders aus.
Es geht nicht darum, kohlenhydratreiche Lebensmittel zu verteufeln – schließlich gibt es unzählige Gründe, sie zu lieben: die noch warme Scheibe Bauernbrot mit knuspriger Kruste und selbstgemachtem Apfelschmalz zum Beispiel oder die Tagliatelle mit erstklassiger Pesto genovese und einem granatrot funkelnden Wein dazu. Niemand hat etwas davon, wenn es nach Jahrzehnten der Anti-Fett-Kampagnen jetzt zu Kohlenhydratphobien kommt. Dennoch muss endlich das Bewusstsein dafür wachsen, dass diese Empfehlungen eigentlich nur für gesunde, aktive Menschen gelten und alle anderen in Lebensgefahr bringen können. Warum Kohlenhydrate mit Vorsicht zu genießen sind, wird spätestens Teil II dieses Buches überdeutlich machen. Lernen Sie zunächst ihre verschiedenen Vertreter näher kennen und machen Sie sich damit vertraut, wie diese im Stoffwechsel verwertet werden. Damit werden schon viele Ihrer Fragen beantwortet sein.
Von Kürbis und Kartoffelstäbchen
Alle für den Körper als Energie nutzbaren Kohlenhydrate bestehen aus einem der drei Einfachzucker (Monosaccharide) namens Glukose (Traubenzucker), Fruktose (Fruchtzucker) und Galaktose oder aus Kombinationen daraus. Der Zucker, den Sie in den Teig Ihres Geburtstagskuchens streuen, ist beispielsweise ein Disaccharid (Zweifachzucker) – das heißt, es haben sich immer jeweils ein Molekül3 Glukose und Fruktose miteinander verbunden. Auch Laktose (Milchzucker) ist ein Zweifachzucker, aber aus Glukose und Galaktose. Die Stärke aus Mehlen und aus Kartoffeln besteht dagegen nur aus Glukosemolekülen, die zu langen, mitunter auch verzweigten Ketten zusammengefügt sind und deshalb als Vielfachzucker (Polysaccharide) bezeichnet werden. Da der Körper nur Glukose verwerten kann, müssen andere Einfachzucker noch in der Leber umgebaut werden. Erst dann werden sie in den allgemeinen Kreislauf abgegeben und stehen den Geweben als »Blutzucker« zur Verfügung.
Je schneller Kohlenhydrate auf diese Weise verarbeitet werden können, desto schneller und höher steigt auch die Konzentration der Glukose im Blut, der sogenannte Blutzuckerspiegel. Dieser Zusammenhang wird mit dem glykämischen Index (GI) ausgedrückt, der die wenig hilfreiche Einteilung in »komplexe« langkettige und »einfache« kurzkettige Kohlenhydrate abgelöst hat. Doch um die Wirkung auf den Blutzuckerspiegel bewerten zu können, reicht auch der GI nicht aus, weil er nur die Qualität der Kohlenhydrate betrachtet, nicht aber die Quantität. Das heißt: Um eine Vergleichbarkeit herzustellen, bezieht er sich immer auf 50 Gramm verwertbare Kohlenhydrate des jeweiligen Lebensmittels, berücksichtigt aber nicht, wie viel man davon essen müsste, bis diese 50 Gramm im Magen gelandet sind. Was das bedeutet, lässt sich am besten an einem Beispiel aufzeigen.
Kürbis hat mit 75 einen recht hohen GI, aber 100 Gramm von dem Gemüse liefern gerade mal 5 Gramm verwertbare Kohlenhydrate. Man müsste also 1 Kilo Kürbis futtern, um die für die Vergleichbarkeit geforderten 50 Gramm Kohlenhydrate zu erreichen. Ganz anders sieht es bei Pommes frites aus, obwohl die ebenfalls einen GI von 75 aufweisen. Weil sie jedoch viel mehr verwertbare Kohlenhydrate enthalten (32 Gramm pro 100 Gramm) wird die 50-Gramm-Grenze schon mit der viel kleineren Portion von 156 Gramm erreicht.
Für den Alltag und für die Einschätzung gemischter Mahlzeiten benötigte man also einen Wert, der diese Gegebenheiten mit einbezieht, und hat die glykämische Last (GL) entwickelt. Dann zeigt sich nämlich der Unterschied zwischen Kürbis und Kartoffelstäbchen: Das Gemüse hat einen GL von gerade mal 7,5; während die Pommes auf satte 48 kommen (Details zur Berechnung im Kasten). Da fehlt dann nicht mehr viel bis zu der täglichen GL-Grenze von 110 bis 120, die Übergewichtige und körperlich wenig aktive Menschen nicht überschreiten sollten, um der Entwicklung von Übergewicht und Diabetes vorzubeugen.
Streng genommen hängt die tatsächliche Wirkung auf den Blutzuckerspiegel neben Qualität und Quantität der Kohlenhydrate auch von der Verarbeitung eines Lebensmittels ab und davon, welche Nähr- und Ballaststoffe eine gemischte Mahlzeit sonst noch liefert. Inzwischen weiß man aber, dass der GL-Wert die Blutzuckerwirkung bei gesunden Menschen so genau vorhersagt, dass man diese Einflüsse vernachlässigen kann. Deshalb ist der oft gehörte Rat, Vollkornprodukte zu bevorzugen, eher irreführend als hilfreich. Ja, es stimmt, dass ein Brot aus grobem Schrot nicht so schnell ins Blut geht und eine weniger hohe Blutzuckerkonzentration erzielt als ein Vollkornbrot aus fein gemahlenem Mehl oder gar ein Weißbrot – aber am Ende kommt es eben vor allem auf die Menge der Kohlenhydrate an, die man sich mit jeder Scheibe einverleibt.
GI und GL – glykämischer Index, glykämische Last
Der glykämische Index (abgekürzt GI oder veraltet Glyx) gibt an, wie schnell und stark ein kohlenhydrathaltiges Lebensmittel den Blutzuckerspiegel anhebt verglichen mit reiner Glukose (Traubenzucker), die den Wert 100 zugeordnet bekommen hat. Kohlenhydrate mit einem GI von über 70 fluten schnell ins Blut, während solche mit einem GI unter 55 eher langsam hinein tröpfeln. Achten Sie bei GI-Tabellen aber darauf, ob als Referenz tatsächlich Glukose verwendet wurde oder Weißbrot. Um die Zahlen vergleichen zu können, müssen die Weißbrotwerte angepasst werden; sie sind jeweils um etwa 30 Prozent niedriger als der entsprechende Glukosewert.
Um nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität der Kohlenhydrate zu berücksichtigen, wurde das GI-Konzept um die glykämische Last (GL) erweitert. Man berechnet sie, indem man den GI durch 100 teilt und das Ergebnis mit der Menge der verzehrten Kohlenhydrate multipliziert. Um den GL von 200 Gramm Kürbis zu bestimmen, müssten Sie also folgende Rechnung aufmachen: 200 Gramm Kürbis enthalten 2 x 5 Gramm verwertbare Kohlenhydrate mit einem GI von 75. Daraus ergibt sich:
75 : 100 = 0,75 und 0,75 x 2 x 5 = 7,5
Die GL dieser Kürbisportion beträgt also gerade mal 7,5 – bei einer...