1. Der Schauplatz: Land und Meer
Das Kernland des griechischen Siedlungsgebiets umfasste die Südspitze der Balkanhalbinsel. Im Norden war es durch eine Linie begrenzt, die ungefähr von der Südgrenze des heutigen Albanien im Westen bis an den Olympos, den höchsten Berg Griechenlands (2918 Meter), im Osten reicht. Die Oberfläche dieses Landes ist durch Ketten von Kalksteingebirgen geprägt, die von Nordwesten nach Südosten verlaufen und deren Höhe allmählich abnimmt, bis die Gipfel nur noch als Inseln aus dem ägäischen Meer herausragen. Die antike und heutige Verteilung von Festland, Meer und Inseln ist erst nach dem Ende der letzten Eiszeit entstanden. Vor ungefähr dreißigtausend Jahren lag der Meeresspiegel 120 Meter tiefer als heute, das Klima war kälter und trockener, die großen Küstenebenen waren Grasland, und es gab nur einen geringen Baumbestand. Dann folgten bis etwa 6000 v. Chr. eine langsame Erwärmung des Klimas und als Folge ein Anstieg des Meeresspiegels, der die Küstenebenen unter Wasser setzte und in der Ägäis die zahlreichen Inseln entstehen ließ. Auf dem verbleibenden Festland entstanden ausgedehnte Wälder aus Laub- und Nadelbäumen. In neolithischer Zeit kam es durch Menschenhand zu einer erheblichen Lichtung des Waldbestandes. In den letzten dreitausend Jahren hat sich im Großen und Ganzen wenig an der Verteilung von Land und Meer, am Klima und an der natürlichen Vegetation geändert. Durch den Anstieg des Meeresspiegels ist eine vielgestaltige Küstenlinie entstanden mit der Folge, dass das Festland und das Meer mit seinen zahlreichen Inseln eng miteinander verzahnt sind. Das Relief des Landes ist durch schroffe Gebirgszüge mit Hochtälern bestimmt, die nur an Küsten und in Flusstälern Raum für Ebenen lassen.
Griechenland als Ganzes liegt in der mediterranen Klimazone, aber das differenzierte Bodenrelief bedingt erhebliche lokale Unterschiede des Klimas, die von der subtropischen über die gemäßigte bis zur nordisch-alpinen Klimazone reichen. Der Wechsel von heißen, trockenen Sommern und feuchten Winterhalbjahren (Oktober bis März), der für das mediterrane Klima typisch ist, fällt in Griechenland je nach Bodenrelief und Himmelsrichtung unterschiedlich aus: Generell ist der Westen feuchter, der Süden und Osten heißer und trockener. Die Küsten südlich von Thessalien waren (und sind) baumlos. Das übrige Land war im Unterschied zu heute im Altertum dichter mit Nadelbaumwäldern bewachsen, in tieferen Lagen mit der Aleppo-Kiefer, die Harz und Brennholz lieferte, aber nicht zu Bauholz taugte. Besser geeignet für diesen Zweck war die in Griechenland in höheren Lagen vorkommende Schwarzkiefer (pinus nigra). Die griechische Tanne (abies cephalonica), die in Attika, Boiotien und im nördlichen Griechenland in Höhen zwischen 600 und 2000 Meter wächst, wurde wegen ihres leichteren Gewichts und ihrer Stärke für den Bau von Schiffen sowie für die Anfertigung von Rudern genutzt. Aber als Schiffsbauholz bevorzugt wurde die in Makedonien vorkommende Silbertanne (abies alba).
Das Bodenrelief und die Verschränkung von Festland, Meer und Inseln hatten erhebliche Auswirkungen auf menschliche Besiedlung und Verkehr. Mehr oder weniger hohe Gebirge umschlossen zahlreiche Siedlungskammern und trennten sie voneinander, so dass der menschlichen Kommunikation große, unter Umständen unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt waren. Unter diesen Voraussetzungen machten die Nähe vieler Siedlungskammern zum Meer und die zahlreichen Inseln das Schiff und die Seefahrt zum bevorzugten Mittel des Transports und der Kommunikation. Die Folgen liegen auf der Hand: Die Natur des Landes begünstigte die Entstehung zahlreicher politischer Einheiten, von Stammesorganisationen und Stadtstaaten, sogenannter Poleis – das griechische Wort polis bedeutet Burg, Stadt, Bürgerschaft beziehungsweise Stadtstaat. Die Landesnatur verwies die Bewohner auf das Meer, um miteinander zu verkehren und angesichts der begrenzten Ressourcen des gebirgigen Landes ihren Unterhalt durch Handel und Piraterie zu sichern – oder neues Land in Übersee zur Ansiedlung zu gewinnen. Die Griechen sind zu allen Zeiten ein Volk von Bauern und Seefahrern gewesen. Das Meer war ein notwendiges Lebenselement, aber es zu befahren war gefährlich, und angesichts dieser Gefährlichkeit war es meist der materiellen Not beziehungsweise der Notwendigkeit geschuldet, dass man sich dem unsicheren Element des Meeres um des Zweckes willen anvertraute, mit Gewinn wieder in den sicheren Hafen der Heimat einzulaufen. Niemand hat dies um 700 v. Chr. klarer und prägnanter zum Ausdruck gebracht als der Dichter und Sänger Hesiod in dem Gedicht Werke und Tage, mit dem er seinem Bruder, der ihn um einen Teil seines Erbes gebracht hatte, den Weg zu gerechtem Erwerb durch Arbeit weisen wollte:
«Hast du dem Handel jedoch die törichte Seele verschrieben,
Dass du Mangel vermeidest und unerfreulichen Hunger,
Will ich dir weisen die Bahnen des lautaufrauschenden Meeres,
Hab ich auch wenig Erfahrung in Seefahrt oder mit Schiffen,
Denn noch niemals befuhr ich im Seeschiff die Weiten des Meeres.»
(Hes. erg. 646–650. Übersetzung nach Th. von Scheffer)
Hesiods eigene Erfahrung beschränkte sich auf die Überquerung des schmalen Sundes zwischen dem boiotischen Aulis und der Stadt Chalkis auf Euboia, wo er erfolgreich an einem Sängerwettbewerb teilgenommen und einen Preis gewonnen hatte. Der Hauptteil des Mahngedichtes an den Bruder ist der bäuerlichen Arbeit gewidmet, doch für den Fall, dass dieser es vorziehen würde, sein Glück auf dem Meer zu suchen, gab er ihm den Rat, den Gewinn möglichst schnell in die Sicherheit eines bäuerlichen Hofes zu investieren. Dies hatte der Vater getan, der von Kyme an der kleinasiatischen Küste aus «segelte in dem Schiff, nach edlen Gütern zu spähen» (Hes. erg. 634), je nach Gelegenheit als Händler oder Seeräuber, bis er sich im boiotischen Askra als Bauer niederließ:
«Einstmals kam er hierher auf weit sich dehnender Meerfahrt;
Das aiolische Kyme verließ er im schwärzlichen Seeschiff,
Nicht aus reicher Habe noch Wohlstand und Segen entwich er,
Nein, aus bitterer Armut, wie Zeus sie den Menschen gegeben,
Nahe dem Helikon ließ er sich nieder im ärmlichen Askra,
Übel im Winter, beschwerlich im Sommer und niemals erfreulich.»
(Hes. erg. 635–640. Übersetzung nach Th. von Scheffer)
Aber die Verlockungen des Meeres brachten auch den Typus des Abenteurers hervor, wie ihn Homer in der Odyssee geschildert hat. Als Odysseus nach langer, gefährlicher Irrfahrt auf Ithaka, seiner Heimat, landete und verbergen wollte, wer er war, erzählte er Eumaios, dem alten Schweinehirten des väterlichen Gutes, der ihn nicht wiedererkannt hatte, auf die Frage nach seiner Herkunft eine Seemannsgeschichte, die, obwohl erfunden, für den Zuhörer den Stempel der Glaubwürdigkeit trug. Es handelt sich um die Erlebnisse eines den Kampf liebenden, auf Krieg und Seeraub ausgehenden Abenteurers:
«Also war ich im Kampf und liebte weder den Feldbau
Noch das Leben im Haus, das treffliche Kinder heranzieht;
Sondern das Ruderschiff war meine Freude beständig,
Und der Kampf, und die Speere mit blinkendem Schaft und die Pfeile
…
Eh’ der Achaier Söhne hinauf nach Troia gesegelt,
Führt’ ich neunmal Männer in schnell geruderten Schiffen
Gegen entlegenes Volk und gewann gar reichliche Beute.»
(Hom. Od. XIV, 222–225 und 228–231. Übersetzung nach J. H. Voß)
Nach der Teilnahme am Troianischen Krieg wurde, so seine Geschichte, das unstete Leben wieder aufgenommen. Ziel des Plünderungszugs war diesmal Ägypten. Aber im Nildelta trafen die Abenteurer auf organisierten Widerstand, und nach eigenem Bericht konnte sich der Erzähler nur retten, indem er schutzflehend dem siegreichen Pharao zu Füßen fiel. Dann lebte er sieben Jahre in Ägypten, bis das Erscheinen eines phoinikischen Seefahrers seinem Leben eine neue Wendung gab: ...