I
«Du spielst doch nicht etwa Orgel?»
Mein Weg zu Wagner
Richard Wagner wurde mir in die Wiege gelegt. Ich bin in einem bürgerlichen Elternhaus groß geworden, damals sagte man auch «gutbürgerlich», und das meinte nicht nur den Majoran zur Weihnachtsgans, sondern etwas Verlässliches, Grundsolides, auf das man im Leben bauen konnte, etwas Behütetes und Bewahrendes. Ich habe das genossen und sicher sehr gebraucht. Für die Erziehung in den frühen Sechzigerjahren bedeutete der «gutbürgerliche» Hintergrund: Das Kind wuchs mit Musik auf, mit Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner. Und, in meinem Fall, mit Richard Wagner. Die Musik war einfach da, von Anfang an, wie das Essen auf dem Tisch, wie der Schlachtensee im Sommer zum Schwimmen. Bachs Oratorien, Bruckners Symphonien, Sonaten von Mozart und Schubert, Lieder, Kammermusik, Opernarien, all das erreichte vom ersten Tag an mein Ohr, über die gut bestückte Plattensammlung zuhause, über Konzertübertragungen im Radio und vor allem über das Klavier: Meine Eltern spielten beide sehr gut. Und ich dankte es ihnen, indem ich früher singen konnte als sprechen. Meine Mutter notiert das einmal in ihrem Tagebuch, als sie zufällig hörte, wie ich die Gute-Nacht-Lieder, die sie mir gerade vorgesungen hatte, vor dem Einschlafen noch einmal nachsang – ohne Text natürlich. Da war ich ungefähr ein Jahr alt. «Scheint musikalisch zu sein», schreibt meine Mutter vorsichtig.
Die Musikalität liegt bei uns in der Familie. Mein Vater hatte das absolute Gehör (das er mir vererbte), und schon von seinem Vater, meinem Großvater, der als Konditormeister von Leipzig nach Berlin ging und sich dort sehr schnell sehr gut stand, gibt es viele Geschichten, die mit Musik zu tun haben. Im Ersten Weltkrieg wurde er als Kulissenschieber in die Hofoper Unter den Linden abkommandiert, damals war Richard Strauss dort Intendant, und während sich die anderen Bühnenarbeiter nach getaner Arbeit verdrückten, blieb mein Großvater in der Gasse stehen, um zuzuhören, und war ganz berauscht. «Die Meistersinger» zählten zu seinen Lieblingsopern – auch das hat sich über meinen Vater auf mich übertragen. Allerdings erst nach einer längeren Inkubationszeit. Anfangs, mit 12 oder 13 Jahren, fand ich den dritten Akt sterbenslangweilig: Dieses doofe Festwiesengedöns, das olle Meistergeschwätz!, so dachte ich. Mein Vater war entrüstet. Leider hat er meine ganz besondere Liebe zu Wagners einziger komischer Oper dann nicht mehr miterlebt, er starb, als ich 26 war. An diesem Abend habe ich in Düsseldorf Smetanas «Verkaufte Braut» dirigiert. Das Klavier, an dem mein Vater Klavierspielen gelernt hat, ein altes Blüthner mit einer bewegten Geschichte, besitze ich noch heute.
Meine Begabung wurde glücklicherweise früh entdeckt. Ich bekam Klavier- und Geigenunterricht, und wir gingen viel ins Konzert. Meine Eltern hatten bei den Berliner Philharmonikern ein Abonnement, und ich weiß noch, wie die Sitznachbarn mich mitleidig tätschelten: Der arme Junge, muss er wieder so geduldig sein! Ich glaube, ich war das einzige Kind weit und breit, und es hat niemand verstanden, wie ein Fünfjähriger mit roten Backen auf der Stuhlkante sitzen konnte, während vorne Beethoven gespielt wurde. Ich wollte das aber. Ich wollte nicht zuhause bei meinem ostpreußischen Kindermädchen bleiben, ich wollte Orchestermusik hören, das Schillern der Farben, diese Wogen und Wellen, in denen man sich zugleich verlieren und wiederfinden konnte. Den Dirigenten übrigens, wer immer es war, fand ich eine eher lachhafte Figur: Was soll das, habe ich mich gefragt, wieso ballt der die Fäuste, wieso führt der einen solchen Veitstanz auf? Erst bei Karajan bekam ich langsam das Gefühl, dass Dirigieren auch organisch aussehen kann, ja sogar richtig schön.
Ich habe in der Musik das Überbordende von Anfang an mehr geliebt als das Schmallippige und Sparsame. Für mich musste es die große Besetzung sein, der volle Klang – von den Fortissimi im «Heldenleben» von Richard Strauss kann ich bis heute nicht genug bekommen. So wie mich von Anfang an die langsamen Sätze fasziniert haben, nicht die schnellen, schnurrigen Sachen. Schnell ist leicht, dachte ich, das kann jeder. Aber langsam ist schwer, das musst du füllen mit deinen Ideen und Gedanken, mit Farben und Nuancen. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis ich von der Geige auf die Bratsche umstieg, des wärmeren, samtigeren, dunkleren Timbres wegen – und vom Klavier auf die Orgel kam. An Heiligabend sind wir meist in die Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche ins Hansaviertel gefahren, zur Orgelmesse, da hat Peter Schwarz den dritten Teil der «Clavierübung» von Johann Sebastian Bach gespielt, mit dem herrlichen Es-Dur-Präludium und der Tripelfuge, Vater, Sohn, Heiliger Geist. Wenn die Orgel so richtig dröhnte, war ich selig, dann war Weihnachten. Bach hatte für mich einen Reichtum, eine innere Monumentalität, die mich ungeheuer anzog.
Mit elf versuchte ich, mir heimlich das Orgelspielen beizubringen. Das heißt, der Küster schloss mir die Johanneskirche in Schlachtensee auf, und ich übte dort Choralvorspiele – was natürlich nicht funktionierte. Die verschiedenen Manuale, die Pedale, die Koordination von Händen und Füßen, all das klappte nicht. Was ich aber merkte, war, dass man die Finger völlig anders übersetzen musste als am Klavier. Und das hat mich letztlich verraten. Meine Klavierlehrerin, die Frau des Philharmoniker-Flötisten Fritz Demmler, wurde mit meiner Technik immer unzufriedener und rief eines Tages aus heiterem Himmel: «Du spielst doch nicht etwa Orgel?» In diesem Augenblick war meine Karriere als Organist beendet. Das Orgelspiel wurde mir verboten, man war da rigoros – und ich musste mir für meine ungebärdigen Klangphantasien ein neues Ventil suchen. Das fand ich schnell, in gewisser Weise lag es ja nahe: im Orchester. Und im Wunsch zu dirigieren. Und bei Richard Wagner. Ich weiß nicht mehr, was zuerst da war: der Gedanke an Wagner oder der ans Dirigieren. Das ist in meiner Erinnerung extrem stark miteinander verquickt. Beim Wagner-Orchester jedenfalls, so man überhaupt von dem Wagner-Orchester sprechen kann, denke ich bis heute an die Register einer Orgel.
In musikalischen Dingen musste mich niemand zu irgendetwas anhalten oder ermuntern, ganz im Gegenteil. Meine Großmutter lag mir oft in den Ohren, «nun komm doch endlich raus, es ist so schönes Wetter!» Das schöne Wetter aber interessierte mich nicht, ich wollte üben, und zwar bis sechs Uhr abends. Ich sollte die Arbeit einstellen, nur weil draußen die Sonne schien? Das kam mir völlig absurd vor. Meine Sonne, mein Vergnügen, meine Erfüllung war Bachs «Wohltemperiertes Klavier». Ich spürte, dass dies mein Weg war. Für mich hat es nie eine Alternative zur Musik gegeben und niemals auch nur den leisesten Wunsch danach.
Das Erlebnis Wagner hat diesen Autismus noch verstärkt. Einerseits war da die Musik, die ich hörte: die «Walküre», sehr früh, 1966 unter Karajan, oder meinen ersten «Lohengrin» an der Deutschen Oper, in der alten Wieland-Wagner-Inszenierung, die ich später lustigerweise selber repetiert habe – jedes Mal war ich wie erschlagen. Ortrud und Telramund im zweiten Akt, im Halbdunkel des Bühnenbilds, «Erhebe dich, Genossin meiner Schmach!», das hat mir tagelang die Sinne geraubt (ohne dass ich verstanden hätte, worum es ging). Andererseits war Wagner auch in Gesprächen zuhause immer präsent, und mir hat sich vor allem der Ton eingeprägt: Da schwang eine Bewunderung mit, eine Ehrfurcht – ganz anders als bei Haydn oder Verdi oder Debussy. Haydn und Verdi wurden durchaus geschätzt. Wagner aber musste etwas Besonderes sein, das spürte ich, und es machte mich neugierig. Außerdem umgab ihn natürlich die Aura des Nicht-Kindgerechten, was die Sache doppelt attraktiv machte. Lange Zeit hieß es, für den «Tristan» bist du zu jung, mit dem «Parsifal» warten wir noch. Das führte dazu, dass mich diese beiden Stücke, als sie mich dann ereilten, mit 13, 14 Jahren, bis ins Mark erschüttert haben. Als wäre ich in einem Vakuum groß geworden, einem wartenden Nichts, das die Musik Richard Wagners nun sukzessive füllte.
Dabei war ich nicht nur von der Atmosphäre, den Farben, der Instrumentierung hingerissen, sondern vor allem von der Idee, durch Musik überwältigt zu werden – und zu überwältigen. Dass ich der aktive Teil in diesem Spiel sein wollte, war mir schnell klar. Und also würde ich wohl Dirigent werden. Wie Karajan, dessen Schallplatten ich zuhause auflegte, wieder und immer wieder, die Partituren auf den Knien, vorzugsweise den «Ring», den er Ende der Sechzigerjahre in der Dahlemer Jesus-Christus-Kirche aufgenommen hat, mit dem fabelhaften Thomas Stewart als Wotan und Régine Crespin als Brünnhilde. «Nun komm doch endlich raus, es ist so schönes Wetter!», rief es von irgendwoher. Nein. Lasst mich in Ruhe. Was war das schöne Wetter gegen Siegfrieds Rheinfahrt in der «Götterdämmerung»!
Mit Wagner hat mich regelrecht der...