Alexander Meschnig
Die Sendung der Nation
Vom Grabenkrieg zur NS-Bewegung
Stellungskrieg
Im September 1914 scheitert der deutsche Angriffsplan 50 Kilometer vor Paris an der Marne. Die vom feindlichen Widerstand überraschten Armeen ziehen sich nach furchtbaren Verlusten an das Flüsschen Aisne zurück. Von diesem Moment an beginnt, zunächst von den Generalstäben beider Seiten noch uneingestanden, der für die westliche Front des Ersten Weltkriegs so typische Verlauf, der die Bilder dieses Krieges bis heute bestimmt: von Kratern und Granattrichtern übersäte Landschaften, Erdfontänen, Gasschwaden, Grabensysteme, Stacheldraht und Schlamm. Aufseiten der Soldaten und der militärischen Führung: frontale Massenangriffe mit Tausenden von Toten, von Granatsplittern zerstörte Körper, endloses Warten in dreckigen Unterständen, vollkommene Ungewissheit der einzelnen Einheiten über den Gesamtverlauf der Schlachten.
Das über die Jahre immer besser ausgebaute Graben- und Verteidigungssystem ließ alle Offensiven an der Westfront mit blutigen Verlusten scheitern. Abermillionen von Granaten und Tausende von Geschützen, an die Front geschafft in der Hoffnung, den Gegner durch die Anhäufung von Material schier erdrücken zu können, sollten die verfahrene Lage ändern. Der englische Historiker Eric Hobsbawm beschreibt die aus dem Abnutzungskrieg entstehenden Verhältnisse in seinem Buch Das Zeitalter der Extreme in eindringlichen Worten:
»Millionen von Männern lagen sich hinter Sandsäcken verbarrikadiert in Schützengräben gegenüber, in denen sie wie Ratten und zusammen mit Ratten und Läusen hausen mussten. Von Zeit zu Zeit versuchten ihre Generäle aus diesen Gräben auszubrechen. Tage, ja sogar Wochen unaufhörlichen Artilleriefeuers sollten den Feind zermürben und unter die Erde treiben. Im geeigneten Augenblick kletterten dann Wellen von Soldaten aus den Schützengräben, die üblicherweise unter Stacheldraht und Netzen verborgen waren, ins Niemandsland hinaus, in ein Chaos aus verschlammten Granattrichtern, zersplitterten Baumstümpfen, Morast und liegen gelassenen Leichen, um schließlich in das gegnerische Maschinengewehrfeuer zu laufen und niedergemäht zu werden.«1
Die klassische Kriegskunst war mit der Aufbietung immer noch größerer Material- und Soldatenmassen an ihr Ende gelangt. Wilhelm Ritter von Schramm, Offizier und Militärhistoriker, hat in der von Ernst Jünger 1930 herausgegebenen Anthologie Krieg und Krieger die Veränderungen der Kriegführung aus der Sicht des einfachen Soldaten eindringlich beschrieben:
»Der Krieg war nicht mehr eine erhöhte, zusammengefaßte Form des männlichen Lebens, wie wir ihn alle geträumt, er war eine fürchterliche Maschine, eine Mechanik der blinden Zermalmung, die von einem Heer simpler Angestellter, auch von gewieften Mechanikern in Gang erhalten war […] Was Krieg hieß, wurde in Wirklichkeit nur der Leerlauf der Kriegsmechanik, das Toben der Artillerie vom schwersten Kaliber, der Tanks, Minen und Flieger gegen die wehrlose Infanterie.«2
1914 war man – nicht nur auf deutscher Seite – in der Hoffnung auf eine schnelle militärische Entscheidung in den Krieg gezogen. Niemand dachte daran, einen langen und zermürbenden Verschleißkrieg zu führen, eher sah man eine Wiederholung der Ereignisse von 1870/71 als wahrscheinlich an. Kein Verantwortlicher, ob Politiker oder Militär, wusste, was ein Länder umspannender Krieg im Industriezeitalter bedeutete; die wenigen kritischen Stimmen wurden gemeinhin ignoriert. Die führenden Offiziere waren, mit einzelnen Ausnahmen, noch ganz den alten Traditionen verhaftet und erst die zunehmend sichtbaren Realitäten des Krieges führten zu einem langsamen Umdenken, das aber zu spät kam, um noch Wirkungen zu zeitigen:
»Wie die Megaschlachten an der Somme und bei Verdun zeigten, war das militärische Denken auf beiden Seiten zu nationalen Aderlässen gigantischen Ausmaßes bereit, solange es sie als Völkerschlachten, das heißt als soldatisch militärische Veranstaltung, verstehen konnte. Einen Schritt weiterzugehen und die Schlacht als die wechselseitige ›Konsumtion‹ der von den beteiligten Volkswirtschaften produzierten Material- und Menschenströme zu sehen, fehlte sowohl dem militärischen wie dem politischen Denken der Weltkriegsmächte das Abstraktionsvermögen. Um im oben erwähnten Bild des ›Feuers‹ zu bleiben: Die Kunst der Strategie, die ja allein auf der Bewegung basiert, kam im industrialisierten Sperrfeuer des Weltkriegs zum Stillstand.«3
Als die verzweifelten Versuche, die Länge des Krieges zu begrenzen, die Freisetzung aller nationalen Energien notwendig machte, konnten sich diejenigen Stimmen vermehrt Gehör verschaffen, die schon längere Zeit vom totalen Staat, totaler Politik und totaler Kriegführung träumten.
»Eine solche Idee wurde nicht über Nacht geboren. Viele der Aktivitäten der pangermanischen Bewegung, des Flottenvereins, der Kolonialgesellschaften und anderer radikaler nationalistischer Organisationen der Vorkriegszeit waren von dem Ziel getragen, die deutsche Gesellschaft durch militärische Prinzipien und Tugenden zu revitalisieren. Und interessanterweise war ein gut Teil dieser populären Form des Militarismus nicht auf die Junker unter den Militärs zurückzuführen, sondern auf die Vertreter neuer Gesellschaftsschichten, auf Männer wie Ludendorff und Bauer sowie auf die Beamten- und Angestelltenelemente – die sogenannte neue Mittelklasse – in den neuen nationalistischen Vereinigungen. Der totale Krieg war kein Ideal aristokratischer Junker, sondern ein Ideal des neuen Deutschland.«4
Basierend auf seinen Kriegserlebnissen als Frontoffizier hat Ernst Jünger in einem 1930 erschienenen Aufsatz zur »Totalen Mobilmachung« das Prinzip einer solchen Bewegung beschrieben: jegliche individuelle Äußerung, das gesamte gesellschaftliche Leben, Krieg und Frieden, alles wird zum partiellen Ausdruck einer Totalität des Krieges und der Arbeit, die sich selbst als Krieg (Produktionsschlacht) versteht. Nichts soll mehr existieren, das nicht zugleich produktiv machen und Kräfte für die kommende große Auseinandersetzung bereitstellen kann. Die »technische Seite der totalen Mobilmachung«, so Jünger, »ist indessen nicht die entscheidende. Ihre Voraussetzung liegt vielmehr, wie die Voraussetzung jeder Technik, tiefer: wir wollen sie hier als die Bereitschaft zur Mobilmachung bezeichnen.«5 Was dem Krieg von 1914–1918 also auf deutscher Seite gefehlt hatte, war ein Glaube oder eine innere Bereitschaft für die totale Mobilisierung. Diese war in Deutschland nicht vorhanden und so musste der Krieg verloren werden. Adolf Hitler hatte zu dem Zeitpunkt, als Jünger diese Zeilen schrieb, bereits die Bewegung gegründet, die in der Tat die ganze Welt – und nicht nur Deutschland – mobilisieren sollte. Die frühesten Mitglieder der NSDAP, der SA und SS stammten, wie Hitler selbst, meist aus der »verlorenen Generation« des Materialkrieges und der Freikorps, unfähig sich nach Kriegsschluss in die zivile Ordnung zu integrieren.
Kriegserlebnis
Der Nationalsozialismus ist nicht notwendig aus dem Krieg der Jahre 1914–1918 als politische Bewegung hervorgegangen. Geschichte – und das zeigt der Nationalsozialismus deutlich – ist immer auch kontingent. Die kaiserliche Politik und Kriegführung, schließlich die Niederlage und der Versailler Vertrag – alle diese Elemente waren zwar entscheidend, sind aber für sich genommen nicht alleiniger Auslöser für den Aufstieg Hitlers und der NSDAP. Die Wurzeln des Nationalsozialismus sind wesentlich älter und reichen weit in das 19. Jahrhundert zurück. Imperialismus und Rassismus, sowie die gegen den Marxismus gerichtete Doktrin eines national-revolutionären Sozialismus der reinen Volksgemeinschaft sind Produkte des 19. Jahrhunderts.
Der wichtigste Bezugspunkt und die entscheidende Komponente für den Sieg des Nationalsozialismus über alle anderen politischen Kräfte Anfang der 1930er Jahre waren aber, trotz aller notwendigen Relativierungen, der Krieg und die mit ihm verbundene Niederlage.6 Die Enttäuschung über den verlorenen Krieg war die emotional stärkste und zeitlich nächste Empfindung eines großen Teils der deutschen Gesellschaft. Für den Nationalsozialismus war das Kriegserlebnis der zentrale Ausgangspunkt für die Gründung der Bewegung und die Politisierung seiner Führer. »Der Nationalsozialismus war«, so der Historiker Karl Dietrich Bracher in seinem Standardwerk Die Deutsche Diktatur, »wie Hitler ein Produkt des Ersten Weltkrieges.«7 Ähnlich der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch: »Für den Faschismus und den Nationalsozialismus war das Kriegserlebnis der alles bestimmende Schöpfungsakt.«8
Der Erste Weltkrieg und die Niederlage Deutschlands symbolisierten für die »Männer der Front« und für einen Teil der bürgerlichen Jugend, die die...