2 DIE ANKUNFT
Alle Biologen, die als Feldforscher mit Tieren zu tun haben, haben auch mit dem Tod zu tun – das bringt die Arbeit mit sich. Oder in meinem Fall die Liebe und das Interesse, die mich auf diesen Kontinent geführt haben. Schon lange bevor ich entführt wurde und die Schrecken durchmachen musste, die mit zehn Morden endeten, kannte ich den Unterschied zwischen Sterben, Töten und Mord. Anders als in den meisten Teilen der westlichen Welt wird man in Afrika ständig mit diesen Ereignissen konfrontiert.
Es mag zunächst überraschen, aber der Großteil meiner Safariteilnehmer will Löwen und Geparde nicht nur beobachten, sondern auch Zeuge sein, wie diese Tiere töten. Sie wollen die Jagd einer Raubkatze miterleben, beobachten, wie sie sich anpirscht, das Beutetier reißt und es schließlich tötet. Wenn man während einer Tour einer anderen Safarigruppe begegnet oder zurück in der Heimat mit Afrikareisenden zusammentrifft, die ein solches Ereignis beobachtet (besser noch: fotografiert) haben, kann man sich sicher sein, dass man die blutige Geschichte in allen Einzelheiten zu hören bekommt.
Weder ich noch meine Gäste sind blutdürstige Menschen. Und trotzdem wollen wir ein Raubtier in vollem Lauf erleben, die Bewegung seiner Augen, Ohren, Beine und Kiefer sehen und uns davon in Erstaunen versetzen lassen, wenn es das tut, wozu es geschaffen worden ist. Ein solches Schauspiel lässt sich nur beobachten, wenn die Tiere tun, was sie tun müssen, um am Leben zu bleiben, und töten. Meinen Safarigästen mag es manchmal schwer fallen, bei solchen Jagdschauspielen zuzusehen, sei es bei den Krokodilen im Grumeti, bei den Löwen am Ngorongoro oder bei den Geparden am Ndutu-See, aber durch das Töten von Gnus und Büffeln und Zebras erhalten sich andere Tiere am Leben. Immer rufen diese Szenen letztlich ein Gefühl der Achtung hervor, sogar des Respekts: Die Raubzüge sind Teil jener Welt, und ihr Zweck – das schlichte Überleben – ist rein und unschuldig. Löwen und Krokodile führen nicht Buch über ihre Siege und feiern sie nicht. Die Morde in Uganda hingegen hinterlassen wie all jene verabscheuungswürdigen Terrorakte, die zur Durchsetzung persönlicher und politischer Ziele und Vorteile verübt werden, ein ganz anderes Gefühl.
Auch der menschliche Tod ist in Afrika allgegenwärtig. Fast jede Woche sehe ich hier irgendwo einen Toten. Manche sterben am Malariafieber einen einsamen, langsamen und schmerzvollen Tod. Andere nehmen ein anachronistisches und blutiges Ende, wie der arme Straßendieb, den man beim Diebstahl einer billigen Halskette erwischt und an Ort und Stelle zu Tode prügelt. Solche Fälle von Lynchjustiz sind in meiner Wahlheimat Kenia im letzten Jahr mehr als dreihundertfünfzig Mal vorgekommen, und das sind nur diejenigen, die offiziell bekannt wurden.
Ich habe das Jagen und Töten schon oft miterlebt und will es auf jeder Safari wieder erleben. Seit meiner Kindheit beschäftigt es mich. Doch nun habe ich auch echte Morde gesehen, die sinnlosen Exekutionen von Menschen durch ihre Artgenossen. Die Erinnerung daran lässt mich noch heute nicht ruhig schlafen. Zwar habe ich nach wie vor keine Probleme damit, in der Serengeti, in der Massai Mara oder in Samburu auf der bloßen Erde zu schlafen, aber noch immer kann ich nicht in die Wälder von Uganda zurückkehren. Die Morde, die dort geschahen, sind zu sehr Teil meines Lebens. Den Unterschied macht eben die Art des Sterbens aus.
Vor einigen Jahren habe ich angefangen, meine vielen Notizen und die Zehntausende von Fotos zu ordnen und das Exposé für ein Buch über das Leben und die Erlebnisse eines fliegenden Safarileiters in Afrika zu schreiben. Ich wollte von meinen Erfahrungen auf Safaris erzählen, von der einzigartigen Wirkung, die Afrika auf die mit mir reisenden Menschen hat, und ich wollte von der Bedrohung berichten, unter der die großen Tiere, vor allem die Raubtiere, heute und in Zukunft leben.
Und dann, am 1. März 1999, änderte sich alles schlagartig.
Die Gräueltaten, die an jenem Tag geschahen, erregten weltweites Aufsehen, und noch immer sind die Folgen zu spüren. Der Tourismus und nicht nur der in Uganda, sondern in ganz Ostafrika, erlitt einen tiefen Einbruch. Wann und ob er sich jemals wieder ganz erholt, weiß kein Mensch. Die Familien und Freunde der so brutal Ermordeten und ich selbst müssen für immer mit ihren Verlusten leben. Wir Überlebende blicken mit Angst, Trauer und Wut zurück, einer niemals nachlassenden, schrecklichen Furcht und, zumindest in meinem Fall, mit einer gewissen Schuld: Warum sie? Warum nicht ich? Was wäre, wenn …?
Ein paar Wochen, nachdem sich das tragische Geschehen ereignet hatte, kehrte ich allein in den kenianischen Busch zurück. Als ich zum Schlafen in mein Zelt gekrochen war, überkam mich erneut das Grauen und zwang mich zurück ins Freie. Ich legte mich neben das Lagerfeuer, fand aber auch jetzt keinen Schlaf. Sechs Wochen lang machte ich praktisch kein Auge zu, und noch heute, fast zwei Jahre später, kann ich nicht mehr als drei Stunden am Stück schlafen.
Ich kam vor mehr als zwanzig Jahren nach Afrika; es war nicht zuletzt die Abenteuerlust, die mich hierher geführt hatte, und Abenteuer habe ich in einem Leben voller gefährlicher Situationen auf dem Boden wie in der Luft auch genug gefunden. Ich habe mir eine gewisse Gelassenheit angeeignet, die mich so gut wie nie verlässt. Aber wenn heute jemand eine Tasse neben mich stellt, ohne dass ich ihn vorher bemerkt habe, durchfährt mich ein furchtbarer Schreck, und mein Herzschlag setzt für einen Moment aus. Ich kann diesen Tag und diese Nacht in Uganda nicht vergessen, nicht einmal für ein paar Stunden. Jede Nacht suchen mich die Gesichter meiner ermordeten Freunde heim.
Neun Monate nach dem Tag, an dem sich die Tragödie ereignet hatte, saß ich auf dem Gipfel des Kilimandscharo. Vor langer Zeit hatten meine Freunde und ich beschlossen, das neue Jahrtausend auf dem Gipfel des höchsten Berges von Afrika einzuläuten und uns dabei bei diesem Kontinent und seinen Menschen, die wir so sehr liebten, zu bedanken. Ich hatte nicht geglaubt, dass ich ohne sie hinaufgehen würde, aber schließlich fand ich die Kraft dazu – auch aus Liebe zu ihnen. Wenn ich nicht mit meinen Freunden hier hochklettern konnte, dann eben allein, in Schweigen.
Ich verließ Nairobi am 28. Dezember und fuhr auf meinem Motorrad zur Basisstation am Fuß des Berges nahe der Stadt Marangu. Die erste Nacht kampierte ich im dichten und feuchten Wald, die folgende im Moor oberhalb der Baumgrenze, und am dritten Abend war ich knapp unterhalb des eisigen Kraters angelangt, wo ich schließlich die Neujahrsnacht verbrachte. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang am 1. Januar 2000 kroch ich aus meinem vereisten Zelt und war wie immer ergriffen von der tiefen und unendlichen Schwärze der afrikanischen Nacht. Mein Thermometer zeigte zehn Grad unter null an. Als ich auf die Sichel des Mondes blickte, die tief über dem westlichen Himmel hing, fiel eine hell leuchtende Sternschnuppe durch die Nacht. Damit allein hatte sich die Reise schon gelohnt, und glauben überdies nicht die Buschmänner, dass eine Sternschnuppe die Seele eines Verstorbenen ist, die sich in eine andere, bessere Welt begibt?
Es war bitterkalt, und ich brauchte mehr als eine Stunde, um mein kleines Zelt abzubauen, und noch einmal fünfundvierzig Minuten, um durch den Schnee auf den Gipfel zu stapfen. Kurz bevor die Strahlen der Sonne, die zum ersten Mal über dem neuen Jahrtausend aufging, den Himmel im Osten erhellten, war ich oben angelangt. Eine Wolkenbank verhüllte die Küste des Indischen Ozeans, so wie fast jeden Morgen zu dieser Jahreszeit. Ich suchte mir einen Platz, von dem aus ich nach Osten blicken konnte, aber kaum saß ich auf dem vereisten Felsen, begann ich schon zu frieren, und meine Beine fühlten sich an wie Holzklötze. Bald blitzten die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont. Die Gletscher und Felsen des mehr als fünftausend Meter hohen Mount Kenya im Norden glühten sanft im neuen Licht, und in sechshundert Kilometer Entfernung hatten sich hoch über dem Viktoriasee rosafarbene Gewitterwolken zusammengeballt. Ansonsten war der tief unter mir liegende Kontinent noch immer in Dunkelheit gehüllt. Neun Monate lang hatte ich meine Gefühle im Zaum gehalten, aber jetzt war es mit meiner Beherrschung vorbei, und ich ließ meinen Tränen freien Lauf.
Und nun dieses Buch, das letztlich so ganz anders ist als das Buch, das ich ursprünglich im Sinn hatte. Allerdings entspricht ihm auch vieles: Geschichten von den wunderbaren Menschen, dem außerordentlichen Land und von der freien Wildbahn im östlichen Afrika und den Safaris selbst. Aber manches ist eben doch anders.
Ich wuchs in einem Naturschutzgebiet an den östlichen Ufern des Mississippi in Illinois auf, aber ich kann mich an keine Zeit erinnern, zu der ich nicht von Afrika fasziniert gewesen wäre. Mein jüngerer Bruder Colin und ich stellten uns bei unseren Spielen vor, dass ein ganz bestimmter großer Felsen unser unzerstörbarer Landrover war, mit dem wir über die Pisten der riesigen Serengeti holperten. Derjenige von uns beiden, der an diesem Tag der Wildwächter war, sprang aus dem Auto, rang den anderen, der das Gnu spielte, zu Boden und gab dem widerspenstigen Tier dann eine Injektion gegen irgendeine furchtbare Krankheit.
Ich tauchte ab in Büchern wie dem Klassiker von Laurens van der Post, Die verlorene Welt der Kalahari, einem Bericht über die Suche nach dem ältesten Eingeborenenstamm Afrikas, den legendären Buschmännern oder San. Mit der Einbildungskraft eines Zehnjährigen sog ich sämtliche...