Der Hoden ist nun wirklich kein Attraktivitätsbolzen, oder würden Sie ihn beim Familienduell, gefragt nach den schönsten Organen des Körpers, an erster Stelle nennen?
Außerdem wird er häufig behandelt wie ein Aussätziger, weil er außerhalb des Körpers herumhängen und frieren muss. Dabei ist ihm nicht nur kalt, manchmal bekommt er aufgrund seiner weitestgehend ungeschützten Lage sogar Tritte oder spitze Gegenstände ab.
Und wofür die ganze Quälerei? Für den Nachwuchs. Damit die Spermienproduktion ungestört ablaufen kann, braucht der Hoden eine gewisse Kühlung, wie bei einem Motor. Falls es aber doch mal viel zu kalt wird – das kennt sicher jeder männliche Leser –, zieht sich der Hoden in den mollig warmen Körper zurück, um bei höheren Temperaturen wieder in voller Pracht und gut erholt hervorzutreten. Neben der Spermienproduktion und somit der Fruchtbarkeit eines Mannes ist der Hoden auch für die Produktion von Testosteron zuständig, also die Männlichkeit. Wie das genau zusammenhängt und was bei Spermien- und Testosteronproduktion so alles schieflaufen kann, erfahren Sie im nächsten Kapitel über Sperma und Hormone. Auf den folgenden Seiten geht es um die schlimmsten Feinde, die dem Hoden gefährlich werden können, vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter, und darum, wie wir Urologen ihm in brenzligen Lagen helfen können, sei es gegen den harmlosen Kavaliersschmerz, gegen eine gefährliche Hodenverdrehung oder beim Endgegner Hodentumor. Ja, auch der kann besiegt werden. Das ist oft gar nicht mal so schwer.
Wenn von Hoden, Nüssen, Eiern, Gehänge, Sack, Klöten, Kronjuwelen oder (Platz für Ihr Lieblingswort) die Rede ist, meinen wir meistens das komplette Gehänge. Anatomisch gesehen ist der Hoden das paarweise vorhandene Organ im Inneren. Die beiden Hoden sind von mehreren Hüllen und dem Hodensack (Skrotum) umgeben. Um die Sorge eines jungen Mannes aus der Sprechstunde aufzunehmen und sie Ihnen zu nehmen: Ja, die etwas schrumpelige Faltung der Haut in diesem Gebiet ist normal. Und wer genau drauf achtet, bemerkt, dass die extreme Faltenbildung lediglich bei Kälte zu beobachten ist, weil sich der Hoden dann etwas zurückzieht und so Haut übrig bleibt. Im Inneren seiner Behausung ist der Hoden von mehreren schützenden Schichten umgeben und um ihn schmiegt sich der Nebenhoden. In diesem reifen die im Hoden produzierten Spermien für ihre spätere wichtige Aufgabe. Ein bisschen ist also der Hoden die Kinderstube und der Nebenhoden die Schule. Später geht es dann über den Samenleiter raus in die Freiheit. Von oben werden Hoden und Nebenhoden mit Blutgefäßen und Nerven versorgt, die im Folgenden noch eine Hauptrolle spielen.
Vom Anus über Hodensack und Penis bis zum Vorhautbändchen zieht sich eine Art Naht, die oft etwas dunkler gefärbt ist als die umliegende Haut. Sie stammt aus der Entwicklung der männlichen Geschlechtsorgane und ist vergleichbar mit den kleinen scharfen Nähten an Plastikteilen, die entstehen, wenn zwei Einzelteile zusammengefügt werden. Entgegen der Meinung eines Patienten, der vor längerer Zeit urologischen Rat in der Notfallambulanz suchte, ist diese Naht weder krankhaft noch Zeichen für eine Penisvergiftung. Die ist mir während meiner bisherigen beruflichen Laufbahn übrigens noch nicht begegnet und ich bezweifle ihre Existenz. Vergiftet werden Sie vermutlich auch nicht, wenn Sie einen Hoden essen, einen tierischen versteht sich. Während des Studiums bewunderte ich noch vor meiner Entscheidung für das urologische Fachgebiet immer die Schafshoden in der Fleischtheke meines türkischen Supermarkts. Sie zu kaufen, habe ich mich nie getraut, weil man sie dann ja auch hätte verzehren müssen. Vielleicht traue ich mich nächsten September ja in das beschauliche Dörfchen Ozrem nach Serbien. Dort findet jedes Jahr die »World Testicle Cooking Championship« statt, und richtig, dort kann man Hoden in allen Variationen genießen. Schlimmer als in Kinderurin gegarte Hühnereier aus China wird es sicher nicht sein. Diese Delikatesse kenne ich zum Glück nur aus Reportagen, die auf einem als Nachrichtensender getarnten Fernsehprogramm laufen.
Widmen wir uns wieder den menschlichen Hoden, die in Ozrem hoffentlich nicht serviert werden.
Wanderhoden
Bis zur siebten Schwangerschaftswoche ist der heranwachsende Embryo noch ungeschlechtlich. Zwar besitzt er im Normalfall entweder zwei X-Chromosomen oder je ein X- und ein Y-Chromosom, doch der kleine Körper fängt erst dann an zu lesen, welche Informationen darauf hinterlegt sind. Und auf dem Y-Chromosom steht eben, neben allerlei anderem männlichen Kram: Mach mir Hoden. Das ist jetzt sehr vereinfacht dargestellt, aber der Embryo ist ja auch noch sehr klein und tut brav, was man ihm sagt. Die Hoden werden zunächst auf Höhe der Nieren »produziert« und wandern dann immer weiter nach unten. Neben der passiven Wanderung durch das Körperwachstum bewirken auch Hormone, also Botenstoffe, ein Absteigen des Hodens.
Im siebten Schwangerschaftsmonat ist der Hoden dann normalerweise an seinem Bestimmungsort, dem Skrotum, angekommen. Meistens jedenfalls.
Manchmal kommt es vor, dass sich die Hoden bei Neugeborenen noch nicht an ihrem eigentlichen Zielort eingefunden haben. Dann wartet man im ersten halben Jahr erst einmal ab, es gibt ja schließlich auch mal schlechte Wandersleute. Ist er dann immer noch nicht da, wo er hingehört, sollte man schleunigst etwas unternehmen, am besten in Form einer Vermisstenanzeige beim Kinderarzt.
Früher hatte man dann zwei Möglichkeiten. Zum einen konnte man bis zum zwölften Lebensmonat eine Hormontherapie durchführen, oder man entschied sich, spätestens nach erfolgloser Hormontherapie, für eine operative Lösung des Problems. Heutzutage bevorzugt man meist direkt den operativen Weg. Hierfür muss der Hoden aber zunächst einmal gefunden werden. Oft versteckt er sich in der Leistengegend und lässt sich dort ertasten oder mit dem Ultraschallgerät aufspüren. Findet man ihn auch hier nicht, schaut man mithilfe einer Bauchspiegelung, auch Laparoskopie genannt, bis hoch zu den Nieren – wir erinnern uns, dorthin, wo die Reise begann. Hat man ihn gefunden, ist die Verlegung des Wanderers in seine Heimat zumeist im Rahmen einer kleinen Operation möglich.
Und warum betreibt man diesen großen Aufwand überhaupt? Freuen wir uns doch für den kleinen Racker, im Körper ist es schön warm und es lebt sich viel geschützter als draußen im kalten Skrotum. Um perfekte Leistung in Form von guten Spermien zu bringen, braucht der Hoden ja kühlere Temperaturen. Übrigens kann nach ausgiebigen Saunabesuchen oder heißen Bädern die Spermienproduktion aus demselben Grund in Mitleidenschaft gezogen werden und die Fruchtbarkeit des Mannes für eine bestimmte Zeit eingeschränkt sein, was bei einem Kinderwunsch von Bedeutung sein kann.
Noch viel schlimmer ist aber, dass ein erhöhtes Hodenkrebsrisiko besteht, sogar noch nach erfolgreich durchgeführter Rückverlegungs-Operation. Deshalb sollten Jugendliche, die diese Operation im Kindesalter über sich ergehen lassen mussten, ihre Hoden ab der Pubertät regelmäßig abtasten. Abtasten lassen ist dabei eine völlig gleichwertige Alternative.
Neben dem eben beschriebenen Wanderhoden gibt es noch den Pendelhoden, dieser verzieht sich ab und an in die Leiste, pendelt dann aber immer wieder in sein Nest zurück. Dieser Zustand bedarf keiner Therapie, sollte aber beobachtet werden. Genau: Abtasten.
Hodenverdrehung
Nun könnte man natürlich annehmen, der Hoden sei in sicheren Gefilden angelangt, sobald er es bis in seine natürliche Behausung geschafft hat, egal ob nun von allein oder mit ärztlicher Hilfe. Aber der Hoden hat, diesmal metaphorisch gesprochen, noch eine ziemlich lange Reise vor sich, auf der immer noch einiges passieren kann.
Besonders während des ersten Lebensjahres und später zwischen dem zwölften und dem 18. Lebensjahr kann es zu einem absoluten Hoden-Notfall kommen: der Hodenverdrehung, vom Mediziner klug Hodentorsion genannt. Da der Hoden während seiner großen Wanderung die Gefäße für seine Blutversorgung mitgebracht hat, hängt er wie ein Tiefseetaucher an einem langen Kabel, das ihn mit lebenswichtigen Stoffen versorgt. Es kann nun passieren, dass sich dieses Kabel, in dem Arterien, Venen und Nerven verlaufen, verdreht. Besonders tückisch hierbei ist, dass das auch ohne Einwirkung von außen auftreten kann, zum Beispiel mitten in der Nacht. Hat sich dieses Kabel also verdreht, wird dem Hoden – wie dem Tiefseetaucher – die Sauerstoffzufuhr abgedreht.
Wie bei der unangenehmen Dauererektion macht sich der Körper dann durch starken Schmerz sowie eine Rötung und Schwellung des betroffenen Hodens bemerkbar. Manchmal ist der Hoden durch die Verdrehung etwas hochgezogen und kann quer liegen. Das ist genauso ungesund, wie es klingt, da der Hoden ohne Sauerstoff nicht überleben kann. Eine sofortige Vorstellung im nächsten Krankenhaus ist in diesem Fall also absolut angeraten. Googeln Sie am besten vorher, ob das ausgewählte Krankenhaus über eine urologische Abteilung verfügt, um keine wichtige Zeit zu verlieren. Im Hospital angekommen, ist nach Erstellung der richtigen Diagnose eine sofortige Operation notwendig, um den Hoden aus seiner bedrohlichen Situation zu befreien. Passiert dies nicht, kann er innerhalb von sechs Stunden absterben und muss dann amputiert werden. Ist die Operation aber gut verlaufen und der Hoden wieder ausreichend durchblutet, wird er mit kleinen Fäden festgenäht, damit so eine Torsion nie wieder vorkommen kann. Da man festgestellt hat, dass in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeit einer Verdrehung des zweiten Hodens...