Zur Einführung
Dieses Buch hier schreibe ich auf der Insel Iona. Oder richtiger: Ich stelle mir lebhaft vor, dass ich hier beim Schreiben auf Iona bin. Der Legende nach war diese kleine Insel in den Hebriden im 6. Jahrhundert die Geburtsstätte des Christentums für Schottland. Sie war der Ort eines Neuanfangs für eine ganze neue Nation und darüber hinaus auch noch für viele Menschen im weiteren Umkreis. Seit damals ist sie bis heute eine Pilgerstätte, zu der alljährlich aus allen vier Himmelsrichtungen der Welt Zehntausende von Menschen kommen, die nach einer geistlichen Neugeburt suchen. Sie sind voller Sehnsucht, hier Heilung für sich selbst und ihre Familien zu finden. Sie kommen, um nach Wegweisern in eine bessere Zukunft zu suchen: für sich selbst, ihre Heimatländer und die eine große Heimat, zu der wir alle gehören, nämlich die Erde.
So ist Iona ein recht passender Ort, über einen Neuanfang, ja eine Neugeburt zu schreiben. Diese Insel ist schon Zeugin der geistlichen Geburtswehen vieler Menschen vor uns geworden, und wenn wir zu ihr kommen, wird sie auch wieder zur Zeugin der unsrigen werden. Mit dem vorliegenden Buch „Dem Glauben Weite geben. Das Herz der Spiritualität neu finden“ lade ich alle meine Leserinnen und Leser dazu ein, sich gemeinsam mit mir lebhaft vorzustellen, wie eine Neugeburt für jeden von uns persönlich und auch für uns alle gemeinsam aussehen könnte. Genauer gesagt lade ich diejenigen von uns, die der Gemeinschaft der Christen angehören – sei es im Rahmen der klar umschriebenen Regeln und Glaubensvorstellungen einer bestimmten offiziellen Gemeinschaft oder eher als kirchliche Randsiedler, die althergebrachte Traditionen und Glaubensüberzeugungen infrage stellen –, dazu ein, dass wir alle miteinander eine Christenheit ins Auge fassen, die eine Neugeburt erlebt, dadurch wieder ein großer Segen für die Welt sein könnte und es fertig brächte, dass sich alle Menschen auf dieser Erde wieder wohlfühlen.
Die christliche Mystikerin Juliana von Norwich sagte im 14. Jahrhundert ganz einfach, aber recht radikal, wir seien nicht nur von Gott gemacht, sondern aus Gott gemacht.1 Das heißt, wir sind nicht bloß von Gott außerhalb seiner selbst geschaffen, sondern direkt aus dem Schoß des Göttlichen heraus geboren. Aus diesem Grund sprach Juliana von Gott nicht nur als Vater, sondern auch recht gern als Mutter. Sie ging nämlich davon aus, dass wir aus der Substanz dessen hervorgekommen seien, der die Quelle aller Dinge ist. Wenn man sagt, dass wir nicht einfach nur von Gott gemacht sind, sondern aus Gott, so bedeutet das unter anderem: Gottes Weisheit ist tief in uns angelegt, tiefer als der Unverstand, mit dem wir vieles tun. Oder anders gesagt: Gottes Kreativität steckt tief in uns; sie greift tiefer als alle Sterilität in unserem Leben oder in unseren Beziehungen, tiefer als alle Endpunkte in unseren Familien oder unserer Welt. In uns ist also – als reines Gottesgeschenk – die Fähigkeit angelegt, vieles hervorzubringen, was es noch nie gegeben, ja sogar, was sich noch nie jemand vorgestellt hat. Vor allem, aber so sagt Juliana, ist im Kern unseres Wesens die sehnsüchtige Liebe nach Gott angelegt.2 Wir und alle Dinge sind ja aus dem Einen hervorgekommen, und folglich regen sich tief in uns die heiligen, natürlichen Sehnsüchte nach dem Einswerden und Einssein. Sogar wenn wir womöglich in einem tragischen Exil fern dieser Sehnsüchte leben oder schon eine ganze Lebenszeit ohne das Wissen darum verbracht haben, wie wir sie wirklich erfüllen können, sind sie trotzdem im Herzen unseres Wesens immer noch da und warten darauf, neu geboren zu werden.
Jesus spricht im Johannesevangelium von der Notwendigkeit, „von Neuem geboren zu werden“ (Joh 3,7). Dieser Ausdruck, der üblicherweise mit „wiedergeboren“ übersetzt wird, wurde vom religiösen Fundamentalismus vereinnahmt. Man wollte mit dieser Formulierung den Eindruck erwecken, wir müssten zu etwas ganz anderem werden, als wir sind. Sie wurde derart oft dazu verwendet, eine Abkehr von dem zu predigen, was das Tiefste in uns ist, und unsere menschliche Natur zu verleugnen, dass verständlicherweise in christlichen Kreisen viele sie inzwischen vermeiden. Aber wir müssen sie wieder für uns beanspruchen. Sie gehört zum engsten Kern der Lehren Jesu und weist auf die Notwendigkeit hin, dass das Tiefste in uns wieder zum Vorschein kommen muss. Mit ihrer Dringlichkeit spricht sie davon, dass das, was im Herzen aller Dinge angelegt – und aus Gott gemacht ist –, freigesetzt werden muss, um auf radikal neue Weisen zutage zu treten. Genau darum geht es beim „Neugebären Gottes“. Es weist auf ein radikales Neuauftauchen. Das Göttliche in uns allen soll aus der Tiefe unseres Inneren heraus ganz radikal – aus der Wurzel heraus – neu aufbrechen. Das müssen wir nicht selbst zustande bringen. Dazu sind wir überhaupt nicht in der Lage. Aber wir können es ans Licht kommen und in unserem Leben neu zur Welt kommen lassen. Wir können uns als Hebammen an neuen heiligen Geburten dieser Welt betätigen.
Einer der großen Propheten der heutigen menschlichen Seelen war Carl Gustav Jung (1875−1961), der Begründer der analytischen Psychologie. Er hatte bereits als Junge (er wuchs in der Schweiz auf ) prophetische Intuitionen. Als er einmal auf dem Heimweg von der Schule am Basler Münster mit seinem strahlenden neuen Turm vorbeikam, stieg ihm aus dem Unbewussten ein Bild auf, das ihn so erschreckte, dass er es zu verdrängen versuchte. Aber es kam ihm immer wieder. Erst Jahre später ließ er es schließlich zu, das zu benennen, was er da gesehen hatte: „Vor meinen Augen stand das schöne Münster, darüber der blaue Himmel, Gott sitzt auf goldenem Thron, hoch über der Welt, und unter dem Thron fällt ein ungeheures Exkrement auf das neue bunte Kirchendach, zerschmettert es und bricht die Kirchenwände auseinander.“3
Wir leben mitten in dem herunterfallenden „großen Exkrement“. Tatsächlich hat es bereits in die Turmspitze eingeschlagen; die Mauern der westlichen Christenheit brechen auseinander. In vielen Teilen der westlichen Christenheit muss man diesen Einsturz geradezu als seismisches Erdbeben bezeichnen. In weiteren fünfundzwanzig Jahren wird es einen Großteil des abendländischen Christentums, wie wir es gekannt haben, nicht mehr geben. Wir brauchen uns dazu bloß an einem gewöhnlichen Sonntag in den meisten unserer Kirchen der großen Konfessionen umzusehen. Wer wird in einem weiteren Vierteljahrhundert noch darin sein?
Auf diesen Zusammenbruch gibt es im Wesentlichen drei Antworten oder Reaktionen: Erstens kann man leugnen, dass die Lage so ist. Zweitens kann man fieberhaft versuchen, die Grundlagen des Alten wieder auszugraben. Und drittens – dazu möchte ich einladen – kann man danach fragen, was denn da versucht, geboren zu werden, und von uns verlangt, unsere Sichtweise radikal neu auszurichten. Was ist denn dieses Neue, das bei uns von tief innen heraus und auch aus der innersten Tiefe der kollektiven Seele des Christentums aufzutauchen versucht? Vor einigen Jahren hatte ich in den USA bei einem geistlichen Vortrag diese traumartige Schau C. G. Jungs von dem herabfallenden „großen Exkrement“ geschildert und anschließend hatte sich eine Frau an mich gewandt, die mir erklärte, sie sei Hebamme. Sie könne aus ihrer 25-jährigen Tätigkeit als Hebamme bestätigen, dass fast immer vor der Geburt das Exkrement komme. Das führt zur Frage: Was müssen wir loslassen, um einer neuen Geburt den Weg zu bereiten?
Hier in Iona befinde ich mich am Sonntagvormittag in der Klosterkirche. Es sind Menschen aus vielen Ländern anwesend. Ich vermute, die meisten von ihnen sind als Pilger gekommen, das heißt, als solche, die nach neuen Anfängen suchen, oder Inselbewohner, meistens Bauern und Handwerker. Wir sind hier, um gemeinsam um neue Anfänge zu beten. Aber wenn ich mich umsehe, merke ich auch, dass der Großteil von ihnen weißhaarig ist. Uns alle mögen bestimmte Sehnsüchte an diesen Ort gebracht haben, aber dennoch zeigt auch diese Versammlung das Ende einer Ära an. Die Liturgie wird von fähigen und eindrucksvollen Frauen gestaltet – aber wo sind die Männer? Auch als es so weit ist, dass Brot und Wein für die Kommunion zum Altar vorgetragen werden, sind daran nur Frauen beteiligt. Das ist die genaue Umkehrung des tragischen Ungleichgewichts zur Zeit der Vorherrschaft der Männer, von dem die christlichen Kirchen so viele Jahrhunderte hindurch belastet waren. In der Vergangenheit hätte mich diese ungleiche Verteilung gestört. Hätte man denn nicht ein oder zwei Männer finden können, die auch dabei mitgemacht hätten? Aber dieses Mal beginnt sich etwas anderes in meinem Herzen zu regen. Statt eine Kommunionsprozession vor Augen zu haben, empfinde ich das jetzt mit einem Mal als Begräbnisprozession. Mir ist, als würden nicht mehr Brot und Wein zur sakramentalen Feier nach vorn getragen, sondern vor den Augen meiner Seele steht da jetzt das Bild, dass derzeit die Kirche als Leib Christi zu Grabe getragen wird. Diese Vision ist schön und zugleich schmerzlich. Mir kommen beim Zusehen die Tränen. Was für eine ergreifende Schönheit! Die Frauen sind vor dem Tod nicht geflohen. Sie geleiten diesen Leib gläubig und mit Sorgfalt und Ehrfurcht – und mit so großer Trauer … Das ist der Tod. Diese Form wird nicht weiterbestehen. An diesem Punkt stehen wir. Wir sind aufgefordert, angesichts des Todes der Christenheit, wie wir sie gekannt haben, nicht zu fliehen. Nicht nur die Frauen sind aufgefordert, stark zu bleiben. Es ist genau diese weibliche Tiefe der Treue in uns allen, die sich als echt erweisen soll. Wir brauchen durchaus nicht die große...