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»Trag mich in die Löcher der Armen – Komm, sei mein Licht«
Der Ruf, Christus in die Slums zu folgen
Bemerkenswert ist, dass sie normal war.
Eine Mitschwester aus Dublin
»Auch ich bin ein Offizier«
Sie muss ein quicklebendiges Kind gewesen sein, überhaupt kein langweilig-durchgeistigter kleiner Engel. Ihr Bruder Lazar hat sie als blitzgescheit und redegewandt in Erinnerung: »immer selbstsicher, pfiffig, niemals wortkarg und ohne Menschenfurcht«.
Und ziemlich frech! Lazar: »Sie neckte mich immer, suchte Streit, schlug mich, um mich herauszufordern, warf mich zu Boden, obwohl sie viel kleiner und zwei Jahre jünger war als ich.«
Damals hieß die spätere Mutter Teresa noch Agnes Gonxha Bojaxhiu; ihr Vorname Gonxha kommt aus dem Persischen und bedeutet »Blütenknospe« In einem gutbürgerlichen albanischen Elternhaus kam sie am 27. August 1910 zur Welt, im damals türkisch beherrschten, dann serbischen, später jugoslawischen Skopje; heute ist es die Hauptstadt des unabhängigen Mazedonien. In Skopje begegneten sich zu dieser Zeit Kreuz und Halbmond, muslimische Minarette standen neben der Kirche vom Heiligen Erlöser. Fünf Jahrhunderte lang hatte die Stadt zum Osmanischen Reich gehört.
Mutter Teresa als junge Frau
Albanisch und katholisch – in Skopje gehörte die Familie Bojaxhiu gleich doppelt zur Minderheit; Teresas späteres unbeirrtes Festhalten an ihren Überzeugungen und ihre zähe Durchsetzungskraft haben hier ihre Wurzeln. Beruflich war der Vater durchaus erfolgreich: Er führte ein Architekturbüro, wurde Mitinhaber einer gutgehenden Baufirma, saß im Stadtrat. Als er starb, war Agnes erst neun Jahre alt. Die Mutter musste ihre beiden Mädchen und den Sohn Lazar allein großziehen; praktisch veranlagt, eröffnete sie ein Geschäft mit Stoffen und Stickereien.
Agnes’ Jugendfotos zeigen ein ausgesprochen hübsches Mädchen mit ein wenig träumerischen Augen. Sie besuchte die Höhere Schule – was nur ganz wenige albanische Mädchen in Skopje taten –, zeigte Begabung für Musik. Sie hatte eine auffallend reine Sopranstimme, sang im Gemeindechor und in einem katholischen Jugendchor, glänzte bei Konzerten als Solistin und in Duetten mit ihrer Schwester. Und wenn sie mit Freundinnen Ausflüge machte, hatte sie meist ein Akkordeon oder eine Mandoline dabei.
Ob Agnes tatsächlich schon mit zwölf Jahren »eine Berufung für die Armen« spürte, wie sie später in einem Interview behauptete? Jedenfalls interessierte sie sich brennend für die Arbeit der Missionare. Der albanische Katholizismus war ziemlich traditionsverhaftet, und natürlich begeisterte man sich auch im Hause Bojaxhiu für die Ausbreitung des Königreiches Christi über die ganze Erde – wie Rom damals Mission definierte.
Als Papst Pius XI. 1925 das »Christkönigsfest« einführte (als Signal gegen die Säkularisierung des öffentlichen Lebens, aber auch als Antwort auf den totalen Machtanspruch des heraufziehenden Faschismus), war Agnes gerade fünfzehn Jahre alt. Sie verschlang die Berichte jugoslawischer Jesuiten, die im bengalischen Ganges-Delta und im Himalaja tätig waren.
Drei Jahre später dann doch die Entscheidung für ein Leben in der Bengalenmission. Ihr großer Bruder Lazar war wie vor den Kopf geschlagen. »Wie kannst Du Nonne werden?« schrieb er ihr entsetzt. »Weißt Du, was Du tust, dass Du Dich für immer opfern, Dich lebendig begraben willst?«
»Ihre Antwort«, erinnert er sich später, »werde ich nie vergessen. Ich kam soeben aus der Militärakademie in Albanien und war vor kurzem zum Leutnant befördert worden. Ich war mächtig stolz und sehr glücklich. ›Du nimmst Dich so wichtig als Offizier im Dienst eines Königs von zwei Millionen Menschen‹, schrieb sie. ›Nun, auch ich bin Offizier, aber um dem König der Welt zu dienen. Wer von uns hat Recht?‹«
Das ist schon die ganze Mutter Teresa, wie man sie bald kennenlernen sollte: selbstbewusst und demütig zugleich, unbeirrt bis zur Sturheit – und entwaffnend in ihrer scheinbaren Naivität. Den Bruder hat sie schnell überzeugen können. Er räumt ein, ihr Entschluss sei im Grunde ganz logisch gewesen, inmitten einer Familie, in der Armen und Ausgestoßenen immer geholfen worden sei.
Lazar: »Ich erinnere mich, dass meine Mutter einmal von einer armen Frau aus Skopje hörte, die an einem Tumor litt. Sie hatte niemand, der sie pflegte. Ihre Familie wollte sie nicht mehr, verweigerte ihr jede Hilfe und hatte sie sogar hinausgeworfen, das alles wegen einer banalen Geschichte. Meine Mutter hat sie bei sich aufgenommen, sie ernährt und gepflegt, bis sie geheilt war. Sie sehen also, ›Teresa‹ entstand nicht von einem Tag zum andern, sie fiel nicht vom Himmel.«
Zwischen Schule und Slum
Die Trennung vom Elternhaus, in dem sie so glücklich gewesen war, fiel Agnes außerordentlich schwer. Am 29. November 1928 trat sie bei der Loreto-Kongregation ein, einem irischen Zweig des von Mary Ward gegründeten Frauenordens, besser bekannt unter dem Namen »Englische Fräulein«. Die Gründungsgeschichte der Kongregation, in die Agnes Bojaxhiu 1928 eintrat, gleicht einem Trauerspiel – das strenge römische Verbot, die aufmüpfige Mary Ward als Stifterin zu bezeichnen, war erst 1909 aufgehoben worden. 1978 konnte der Orden die angepassten Konstitutionen des Jesuitenordens offiziell übernehmen, und erst seit dem 30. Januar 2004 darf sich zumindest der römische, das heißt kontinentaleuropäische, Zweig des Ordens Congregatio Jesu (CJ) nennen.
Die Gründerin Mary Ward stammte aus uraltem Adel in der englischen Grafschaft Yorkshire und war ein ähnlich eigensinniger Querkopf wie ihre späte albanische Jüngerin. Anfang des 17. Jahrhunderts scharte sie ein paar tollkühne Freundinnen um sich und schuf eine bewegliche Einsatztruppe im Dienst der Jugend und der Seelsorge, ohne Klausur und Ordenstracht mitten in der »Welt« arbeitend. Sie richtete Tagesschulen für Mädchen aus den unteren sozialen Schichten ein und entwickelte eine zukunftsweisende Pädagogik: Eingehen auf den Einzelnen statt eines starren Schemas, Freude am Lernen statt Zwang und Prügel.
Als Loreto-Schwester am St.-Mary’s College
Mary Wards energische, zupackende, an irdischen Nöten orientierte Form von Religiosität erschien freilich ebenso verdächtig wie der unabhängige Arbeitsstil des neuen Ordens. Der päpstliche Nuntius Pallotta hielt derlei Aktivitäten ohne männliche Führung »bei diesem zum Irrtum neigenden Geschlecht« für überaus gefährlich; hohe englische Kleriker schrieben wütende Beschwerdebriefe nach Rom; und ein einflussreicher Jesuit meinte gönnerhaft: »Schön und gut – aber der Eifer verpufft, und schließlich sind es doch nur Weiber.«
Als Agnes im Dubliner Kloster Rathfarnham ankam, wo sie die ersten Monate blieb, fand sie eine vitale Gemeinschaft vor; von Rathfarnham aus waren in wenigen Jahrzehnten vierzig Schulen in den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien gegründet worden. Das Mutterhaus der Loreto Nuns in Dublin wirkt heute noch wie ein Schloss aus viktorianischer Zeit, ein Riesenbau, in dem man sich verirren kann, Ehrfurcht gebietend, nicht sehr wohnlich. Ihren Mitschwestern erschien die junge Albanerin ziemlich scheu und in sich gekehrt; kein Wunder, sie sprach ja noch kaum ein Wort Englisch. »Bemerkenswert ist, dass sie normal war«, gibt eine der Dubliner Nonnen zu Protokoll, und es klingt wie ein Kompliment.
Agnes hatte gar keine Zeit, sich einzugewöhnen; wenige Wochen, und man schickte sie nach Indien, in das Noviziat von Darjeeling, zweitausend Meter hoch im Himalaya gelegen. Die Briten hatten die Stadt als Sommerfrische gegründet, und als Agnes dort in die Geheimnisse des Ordenslebens eingeführt wurde, flohen der Gouverneur von Bengalen und die reiche Oberschicht von Kalkutta regelmäßig vor der feuchten Gluthitze nach Darjeeling. Sie ritten aus, dinierten im Club, tranken auf dem makellos grünen Rasen des Regierungspalastes Tee: nonchalanter Lebensgenuss nach englischer Art auf dem Dach der Welt. Von Darjeeling aus führt eine Karawanenstraße über schneebedeckte Gebirgspässe nach Tibet.
1931 legte Agnes Bojaxhiu ihre Ordensgelübde ab – noch zeitlich befristet, die ewigen Gelübde kamen erst 1937 hinzu – und nahm den Ordensnamen Teresa an. Aus respektvoller Sympathie gegenüber der »kleinen« heiligen Thérèse von Lisieux, mit der sie einiges gemeinsam hatte: den sturen Kopf, die Vorliebe für einfache Problemlösungen und – die stürmische Leidenschaft für Gott.
Damals schrieb sie sehr sentimentale Betrachtungen für eine Missionszeitschrift daheim in Serbien, erbauliche Schilderungen, wie sie den ungebildeten indischen Müttern beibringt, ihre Kinder mit der richtigen Medizin zu versorgen. »Ich sage ihnen, sie sollen mir die Kinder bringen, denen ihr Arzt nicht helfen kann; ich hätte eine wunderbare Medizin für sie. Sie versprechen es und tun, was ich sage. Ich bin glücklich, den Kindern die beste Medizin überhaupt geben zu können: die heilige Taufe, die ewige Seligkeit.«
abschied
Ich verlasse meine geliebte Heimat
Und mein geliebtes Land
Ich fahre ins heiße Bengalen
An ein weit entferntes Ufer...