2 Faszienketten
Unser Körper ist von einem ganzen Netzwerk von Spannungslinien durchzogen, die für die Koordination und für geschmeidige Bewegungen eine besondere Rolle spielen. Wo genau liegen diese Faszienketten und wie können wir sie aktivieren?
Ein wichtiger Gedanke im Yoga ist die Verbundenheit: nach außen – als Individuum, das in die Gemeinschaft eingebettet ist – genauso wie nach innen, in unseren Körper. All unsere Körperteile stehen in einem sinnlichen Zusammenspiel, manche sind sehr spezialisiert, wie etwa die Organe, andere wiederum wirken übergreifend, gehen über sich hinaus und verweisen auf den großen Zusammenhang. Faszienketten sind „myofasziale“ Leitbahnen. Dabei steht „myo“ für das Muskelgewebe und „Faszie“ für das umgebende und durchziehende Netzwerk. Beides ist untrennbar miteinander verknüpft – also eine Einheit.
Denn so wie Yin und Yang ineinander verwoben sind, sind innerhalb unseres Körpers Muskeln und Faszien miteinander verbunden. Faszien sind das gestaltgebende Gewebe. Sie sorgen dafür, dass Gelenke stabil bleiben und funktionieren. Faszien, unser Bindegewebe, sind das „Organ“, das Bewegung auf den Körper überträgt und uns zu einem strukturellen Ganzen macht. Egal ob Druck, Elastizität, Fixierung, Kompensation, Spannung oder Stabilität – alles wird über diese Ketten weitergeleitet. Durch das Zusammenwirken von Faszien und aktiven Muskeln mit unserem Skelett erhält unser Körper ein Spannungssystem, das Netzwerk, das grundlegend ist für unsere aufrechte Haltung. Dieses Netzwerk lässt sich am besten mit einem Begriff beschreiben, den der amerikanische Architekt und Philosoph Buckminster Fuller geprägt hat: „Tensegrity“. Mit „Tensegrity“ werden Strukturen beschrieben, die ihre Integrität primär durch ein Gleichgewicht des die Struktur durchziehenden Geflechts an Spannungslinien aufrechterhalten, statt statischen Kompressionskräften entgegenzustehen.
Die Funktion einer Tensegrity-Struktur beruht in erster Linie auf der Stärke und der Flexibilität der verbindenden Kabel, nicht auf der Stärke der starren Strukturen. Sind die verbindenden Kabel zu schwach, zu starr, nicht angepasst oder von unzureichender Länge, raubt das der Struktur einen Großteil ihrer Stabilität. Die Prinzipien der Tensegrity beschreiben sehr genau das Verhältnis zwischen den Faszien, den Muskeln und dem Skelett.
Faszienforscher gehen davon aus, dass auch der menschliche Körper nach dem „Prinzip Tensegrity“ gebaut ist: Lange Muskel-Faszien-Ketten bilden zusammen mit den Knochen ein Spannungsnetzwerk. Dieses System reagiert bei Bewegungen sehr fein, es ist dynamisch: Wenn wir einen Muskel an einer Stelle aktivieren, gibt es über die langen Faszienketten, an die er angeschlossen ist, eine Reaktion an anderen Körperstellen. Muskeln arbeiten also nicht isoliert, sondern immer verbunden im körperweiten faszialen Netz.
Diese Ansicht geht über die klassische Anatomie mit ihrer Betrachtung von einzeln lokalisierbaren Muskeln hinaus. Sie identifiziert größere funktionale Faszieneinheiten im Körper. Faszienketten sind durchaus bedeutsam, wenn es etwa um alltägliche Veränderungen am Bewegungsapparat geht.
2.1 Sitz und Aktivierung der Faszienketten
Wenn Sie den Fuß bewegen, setzt sich diese Bewegung fort bis hoch in die Schultern. Faszien ziehen sich nämlich wie ein riesiges Netzwerk durch den Körper.
Innerhalb dieses Netzwerks von verschiedenen Spannungselementen lassen sich einige größere, lange Muskel-Faszien-Linien identifizieren. Diese myofaszialen Zugbahnen spielen für Koordination und geschmeidige Bewegungen eine besondere Rolle.
Deshalb ist es wichtig, dass Sie diese Faszienketten kennen, um sie bewusst berücksichtigen und aktivieren zu können. Nur so können Sie die Koordination und das reibungslose Funktionieren in der gesamten Kette trainieren. Besonders im Yoga erleben wir dieses harmonische ganzheitliche Training, egal ob wir Yin- oder Yang-orientiert üben.
Die Faszienketten sind durchaus auch bedeutsam, wenn es um alltägliche Veränderungen des Bewegungsapparates geht. Ein Beispiel ist die einseitige Belastung, die bei der typischen Schreibtischhaltung auftreten kann. Es geht also darum, die bestehenden isolierten Betrachtungsmuster von einzelnen Muskeln und Knochen aufzulösen, um die größeren Muster und deren strukturelle Beziehungen zu erkennen.
Unser Fasziensystem verzweigt sich im gesamten Körper. Die Ketten, die am häufigsten gestört oder verletzt sind, beschreiben wir im Folgenden. Eines sollten wir niemals vergessen: Faszienketten sind sehr empfindlich und reagieren schnell auf neue Situationen. In allen Yogastilen kommen wir in den Genuss davon, egal ob in stehenden oder sitzenden, in dynamischen oder ruhigen Asanas. Wir zeigen Ihnen zudem, wie Sie aus den klassischen Ausrichtungen das PLUS Faszientraining erleben, um die Faszienketten effektiver zu stimulieren und die optimale Geschmeidigkeit zu erlangen.
2.2 Die Oberflächliche Rückenlinie
Die Oberflächliche Rückenlinie (ORL) verbindet und schützt wie ein Panzer die gesamte rückwärtige Oberfläche des Körpers. Sie beginnt an der Unterseite der Zehenknöchel, verläuft weiter über die gesamte Fußsohle (Plantarfaszie), Achillessehne, Wadenmuskulatur, Rückseite der Beine (ischiokrurale Muskulatur), Kreuzbein, entlang der Rückenstrecker, rechts und links der Wirbelsäule nach oben über den Schädel und die Stirn bis zu den Augenbrauen.
Die allgemeine Bewegungsfunktion der ORL besteht darin, die Wirbelsäule zu strecken (Extension) und sogar in eine Überstreckung zu bringen (Hyperextension).
Wir teilen die Oberflächliche Rückenlinie in zwei Abschnitte ein:
Je nach Kniestellung erzielen Sie unterschiedliche Wirkungen: Bei gestrecktem Knie wird die gesamte Kette beansprucht, bei einem gebeugten Knie nur ein Teil. Außer der Kniestellung ist auch die Haltung von Fuß und Kopf von Bedeutung, wenn man mit der ORL arbeitet.
2.2.1 Die Oberflächliche Rückenlinie in Asanas
In der Raupe wird die Oberflächliche Rückenlinie angesprochen.
Die ORL wird im Yoga in erster Linie in Vorbeugen angesprochen – in stehenden oder sitzenden Flexionen. Je nachdem, ob Sie die Asana mit gebeugten oder gestreckten Beinen ausüben, dehnen Sie die gesamte anatomische Zuglinie oder nur den Bereich oberhalb der Knie bzw. von der Achillessehne bis zum Scheitelpunkt.
In der ▶ Vorbeuge (Uttanasana) und der ▶ Raupe (Paschimottanasana) können Sie je nach Kopfhaltung ab der Ferse die gesamte Leitbahn bis zum Scheitelpunkt dehnen. In der ▶ Stellung des Kindes (Balasana) erreichen Sie wegen der gebeugten Knie nur den oberen Anteil der ORL. Im ▶ Boot (Navasana) erreichen Sie außerdem den Core und die Tiefe.
2.3 Die Oberflächliche Frontallinie
Die Oberflächliche Frontallinie (OFL) verbindet in zwei Teilen die gesamte vordere Körperoberfläche. Sie beginnt an der Oberseite der Zehenknöchel, geht weiter über die Streckmuskeln der Zehen, das Schienbein, die Kniescheibe, die Oberschenkelvorderseiten bis zum Becken. Der zweite Abschnitt beginnt am Schambein, geht über die geraden Bauchmuskeln, Brustbein, vordere Halsmuskulatur, im Bogen über die Schädelrückseite und auf halber Höhe zurück.
Zwar ist die OFL zweigeteilt, doch im aufrechten Stand agiert sie wie eine einheitliche Zuglinie von unten nach oben. Ihre Aufgabe ist die Stabilisierung des Oberkörpers in der Haltung, außerdem macht sie Bewegungen und Beugungen, Heben und Senken des Oberkörpers...