1 Reizdarm – was es ist und was es nicht ist
Wenn im Folgenden von Reizdarm die Rede ist, dann soll damit das »echte Reizdarmsyndrom« gemeint sein – im Gegensatz zum Pseudoreizdarm
Synonyme für Reizdarm:
Epidemiologen (Spezialisten für statistische Erhebungen in der Medizin) behaupten, dass 15 bis 25 Prozent der Menschen in Industrienationen Reizdarmbeschwerden aufweisen. Frauen sind dabei häufiger betroffen als Männer. Die unterschiedlichen Häufigkeiten hängen davon ab, wie stark die Beschwerden sind. Bei dieser Angabe sind auch die leichten bis mäßigen Beschwerden eingeschlossen. Nicht jeder hat dabei einen so starken Leidensdruck, dass er damit zum Arzt geht. Wirklich starke Beschwerden, die den Patienten damit in die Arztpraxis treiben, haben meiner Schätzung nach jedoch bestimmt 5 Prozent, vielleicht sogar 10 Prozent aller Erwachsenen.
In den Umfragen werden dabei stets die Reizdarmbeschwerden abgefragt. Die Diagnose »Reizdarm« darf daraus jedoch noch nicht gefolgert werden. Sie ist eigentlich eine Ausschlussdiagnose, d. h., man müsste diagnostisch alle anderen infrage kommenden Krankheiten ausgeschlossen haben – was allerdings so gut wie nie geschieht.
1.1 Schwierig zu klassifizieren: Reizdarmsymptome
Definitionsgemäß (sogenannte Rom-III-Kriterien) sprechen wir von einem Reizdarm, wenn Schmerzen oder Unwohlsein im Bauch an mindestens drei Tagen pro Monat innerhalb von drei Monaten plus zwei der unten aufgeführten zusätzlichen Beschwerden bestehen. Natürlich stehen Schmerzen und Blähungen bei Beschwerden des Reizdarmsyndroms ganz weit vorn. Das Problem ist, dass alle in der Übersicht angegebenen Symptome bei einer Schwäche der Bauchspeicheldrüse genauso wie bei einer Milchzuckerunverträglichkeit oder aber bei einer Nahrungsmittelallergie auftreten können. Anhand der Beschwerden allein sind diese Krankheiten kaum voneinander und schon gar nicht vom Reizdarm unterscheidbar – genau das macht es ja so schwierig, die richtige Diagnose zu stellen.
Zusätzliche Beschwerden bei Reizdarm:
Ein Reizdarm liegt aber nur dann vor, wenn organische Ursachen ausgeschlossen sind. Und genau das geschieht in den wenigsten Fällen. In diesem Buch erfahren Sie, was alles Reizdarmbeschwerden verursachen kann, aber eben kein Reizdarm ist. Ein paar Besonderheiten helfen uns aber weiter: Bei einer Bauchspeicheldrüsenschwäche kommt es fast immer zu einem Durchfall, wenn etwa fettreiche Speisen verzehrt werden. Ebenso bei einer Milchzuckerunverträglichkeit nach Milchverzehr. Und auch Allergiker reagieren bei dem Genuss »ihrer« Lebensmittel meist mit Gasbildung und Durchfall.
1.1.1 Wechsel der Beschwerden
Gerade der Wechsel zwischen Durchfall und Verstopfung ist typisch, wenn auch leider nicht beweisend für den Reizdarm. Weitere Indizien, die den Verdacht auf den Bösewicht Reizdarm lenken:
kein Gewichtsverlust in den letzten Monaten/Jahren
deutliche und inadäquat erscheinende Krebsangst
keine nächtlichen Beschwerden
Beschwerden werden schlimmer bei Stress oder Konflikten
Beschwerdeverbesserung an Wochenenden oder im Urlaub
weitere funktionelle Störungen
Viele Reizdarmpatienten beschäftigen sich fast nur noch mit ihrem Darm und was ihm gut tut oder eben nicht, was kein Wunder ist, denn die Beschwerden sind zum Teil sehr unangenehm. Daher dreht sich irgendwann alles ums Essen und die dadurch vielleicht ausgelösten Beschwerden. Oft haben die Patienten auch Angst, dass es Krebs sein könnte (obwohl doch die drei Darmspiegelungen in den letzten fünf Jahren nichts dergleichen ergeben haben).
Reizdarm führt nur selten zu einer Gewichtsreduktion – und wenn, dann nur weil der Patient sich kaum noch traut, irgendetwas zu essen. Wenn Sie aber beispielsweise 6 kg im letzten halben Jahr abgenommen haben, ohne dass Sie Ihre Nahrungszufuhr eingeschränkt haben, muss unbedingt nachgeschaut werden, ob eine organische Erkrankung dahintersteckt. Dann muss der Stuhl auf den Fettgehalt untersucht werden, dann kann auch einmal eine Darmspiegelung angezeigt sein, um einen Tumor auszuschließen. Und es können gegebenenfalls auch andere bildgebende Verfahren nötig sein, um organische Erkrankungen auszuschließen, z. B. CT, MRT.
Reizdarmpatienten haben einen Pferdemagen
Wussten Sie das? Einem Menschen bescheinigt man einen Pferdemagen, wenn er praktisch alles verträgt. Dabei ist der Verdauungstrakt der vierbeinigen Reittiere recht sensibel – eben wie beim Reizdarm. Menschen mit einem angeblichen Pferdemagen müsste man hingegen eigentlich einen Geierdarm attestieren. Diese Aasfresser verdauen wirklich nahezu alles und müssen auch mit bakteriell verseuchter Nahrung gut fertigwerden.
1.1.2 Der Reizdarm lässt Sie nachts in Ruhe
Wenn Sie z. B. eine Fettverdauungsstörung haben und abends fettreich essen, dann ist Ihre Nacht gelaufen. Die Gasproduktion in Ihrem Darm wird Sie kaum zur Ruhe kommen lassen. Der Reizdarm lässt Sie hingegen nachts meist gut schlafen, jedenfalls was das Gas angeht. Was macht Ihr Darm, wenn Sie mal nachts um drei Uhr aufwachen? Wie fühlt sich der Bauch an, wenn Sie morgens aufstehen und noch nicht gefrühstückt haben? Der Reizdarm lässt sie nachts und früh morgens meist in Ruhe, wird aber in der Regel im Tagesverlauf immer gereizter.
Stress mag er schon gleich gar nicht. Ein schwieriges Kundengespräch, Druck vom Chef oder ein Streit mit dem Partner steigert Ihre Beschwerden? Am Wochenende, im Urlaub oder durch Entspannungsübungen wird es deutlich besser? Das könnte auf einen Reizdarm hindeuten. Auch wenn weitere funktionelle Störungen vorliegen, steigert dies die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen des Reizdarms. Ich drücke mich hier bewusst so vorsichtig aus.
Kein Symptom allein beweist den Reizdarm. Und leider können wir auch nicht sagen, dass der Reizdarm gesichert ist, wenn Sie z. B. vier der aufgeführten Symptome aufweisen. Aber je besser Sie sich in der Liste wiederfinden, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass doch ein »richtiger« Reizdarm vorliegt.
1.2 Ursachen für einen Reizdarm
Ebenso können andere funktionelle Störungen darauf hinweisen, dass eben auch im Darm eine funktionelle Störung vorliegt. Von einer funktionellen Störung sprechen wir, wenn keine organische Ursache den Beschwerden zugrunde liegt. Ein Beispiel hierfür ist: Wenn Sie Harndrang und Brennen beim Wasserlassen haben, denken wir natürlich an einen Harnwegsinfekt. Lassen sich aber auch bei wiederholten Untersuchungen keine Bakterien im Urin nachweisen, wird die Diagnose »Reizblase« gestellt. Vergleichbar ist dies mit der Situation, wenn jemand Herzbeschwerden hat, die an eine Verengung der Herzkranzgefäße denken lassen, die kardiologischen Untersuchungen wie Belastungs-EKG oder sogar Herzkatheter aber keinen pathologischen Befund ergeben. Dann muss ernsthaft an funktionelle Herzbeschwerden gedacht werden.
In der Regel leiden Patienten mit funktionellen Beschwerden genauso unter ihrer Erkrankung wie Patienten mit organischen Krankheiten, und sie bilden sie sich auch nicht ein oder simulieren sogar (Ausnahmen bestätigen die Regel).
Symptome außerhalb des Darms, die oft gleichzeitig auftreten:
Schlafstörungen
Erschöpfung
Kopfschmerzen
Rückenschmerzen
Angststörungen
Depressionen
Reizblase
Reizmagen
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