Die Schlachten, die im Herbst 1066 bei Stamford Bridge und Hastings geschlagen wurden, waren keine gewöhnlichen Scharmützel in einer kriegerischen Zeit. Es waren vielmehr Entscheidungsschlachten, in denen Herrscher mit vielen tausend Mann miteinander auf Leben und Tod um den englischen Thron kämpften. Nach dem Tod König Eduards im Januar 1066 griff Earl Harold nach der Krone und verteidigte sie bis zum letzten Atemzug. Zielgerichtet zogen König Harald von Norwegen und Herzog Wilhelm von der Normandie an der Spitze ihrer vielköpfigen Heerscharen nach England, um jeweils für sich König Harold herauszufordern und dabei ihr Leben zu riskieren. Was aber machte diese Krone so erstrebenswert? Was bedeutete es vor dem Schicksalsjahr 1066, englischer König zu sein? In diesem ersten Kapitel soll in groben Zügen das angelsächsische Königreich zwischen etwa 1000 und 1066 skizziert werden.
Zunächst richtet sich der Blick auf die Lage Englands in Nordwesteuropa. Im Mittelpunkt stehen die Verbindungen des englischen Königreichs nach Skandinavien und in die Normandie, um Haralds und Wilhelms Invasionen besser einordnen und verstehen zu können. In einem zweiten Schritt werden die Verhältnisse im englischen Königreich selbst, die Position des Königs, seine königliche Würde und die Ressourcen seiner Herrschaft vorgestellt. In diesem Zusammenhang geht es nicht zuletzt darum, weitere wichtige Akteure der politisch-sozialen Ordnung Englands kennen zu lernen – Bischöfe, Earls, die Thegns und die Ceorls (diese beiden Begriffe werden weiter unten erläutert). Schließlich wird im Hinblick auf die Schlachten von Stamford Bridge und Hastings etwas ausführlicher auf den gesellschaftlichen Stellenwert des Kämpfens und die militärische Organisation des englischen Königreichs eingegangen. Bestanden überhaupt realistische Aussichten, die englische Krone im Kampf zu erringen?
England im Gefüge Nordwesteuropas um das Jahr 1000
Um das Jahr 1000 erschienen einem zentraleuropäischen Betrachter die Britischen Inseln eher entfernt an der nordwestlichen Peripherie gelegen. Aus der Perspektive eines Nordseeschiffers aber besaßen sie eine sehr viel zentralere Lage. Sie bildeten eine Schnittstelle zwischen dem westlichen Kontinent und Skandinavien und damit auch zwischen der christlichen Welt, zu der sie selbst zählten, und einer noch weitgehend nicht-christlich geprägten Region. Die Intensität der Verbindungen sowohl auf den Kontinent als auch nach Skandinavien variierte freilich im Lauf der Jahrhunderte.[1] Die geographische Lage führte nicht zwangsläufig zu einem gleichbleibend hohen Grad des Austauschs. Es hing von den Interessen der Akteure ab, wie und in welchem Ausmaß Verflechtungen hergestellt wurden.
Die Verbindungen nach Skandinavien wurden ganz maßgeblich durch die Wikinger geschaffen und gestaltet. Seit dem Ende des 8. Jahrhunderts unternahmen skandinavische Seefahrer Raubzüge auf den Britischen Inseln. Das erste Mal, so die Angelsächsische Chronik A, dass die Dänen das Land der Engländer heimgesucht hätten, war im Jahr 789, als die Besatzung dreier Schiffe nach ihrer Ankunft einen königlichen Vogt tötete.[2] Vier Jahre später kam es zu dem berühmten Überfall auf das Kloster Lindisfarne an der nordwestenglischen Küste, als «ein Raubzug heidnischer Männer in schrecklicher Weise die Kirche Gottes auf Lindisfarne durch Plünderei und Gemetzel verwüstete».[3] Dieser Angriff steht geradezu paradigmatisch für den Beginn wikingischer Raubfahrten in ganz Nordwesteuropa. Auf ihren schnellen, wendigen und auch auf Flüssen einsetzbaren Schiffen schlugen die Wikinger blitzschnell zu und verbreiteten Angst und Schrecken. Die Britischen Inseln waren fortan wiederholtes Ziel ihrer Unternehmungen.[4]
Die wikingischen Angriffe des 9. Jahrhunderts rückten die Britischen Inseln nicht nur dauerhaft in den Wahrnehmungshorizont der Skandinavier, sie veränderten auch spürbar ihre politische Landschaft. Denn nicht wenige Invasoren kamen, um zu bleiben. Die Folge waren bedeutende skandinavische Siedlungs- und Herrschaftsbildungen. In Irland wurde Dublin das Zentrum nordischer Könige, und in England sorgte die Invasion der sogenannten großen dänischen Armee für eine langfristige Neuordnung der Herrschaftsverhältnisse. Mitte der 860er Jahre setzte eine große dänische Flotte nach England über. Über ein Jahrzehnt, bis 878, streiften die Dänen kriegführend über die Insel und eroberten weite Teile Ost- und Mittelenglands. Auch das im Süden gelegene Königreich Wessex bedrängten sie hart, doch unterlagen sie in der Schlacht von Edington (Wiltshire) 878 dem westsächsischen König Alfred. Daraufhin einigten sie sich auf eine Abgrenzung ihrer jeweiligen Herrschafts- bzw. Einflussbereiche. Die Grenze verlief in etwa in einer Diagonale von London im Osten nach Chester im Westen. Südlich davon herrschte Alfred, nördlich davon sollten die Dänen das Sagen haben. Später sprach man von den Regionen dichter dänischer Besiedlung von dem Gebiet des Danelags, also der Gegend, in dem dänisches Recht galt.[5] Die höchste Siedlungsdichte herrschte in Ostmittelengland in der Gegend von York. Von dort bestimmten skandinavische Könige zwischen 866 und 954 die Geschicke der Region. Ganz zu Recht sprechen Historiker in diesem Kontext eher von einer anglo-skandinavischen als einer angelsächsischen Gesellschaft.[6]
Karte 2 Großbritannien um 1000
Die dänischen Angriffe auf Wessex setzten Prozesse in Gang, die für die zukünftige Formierung des englischen Königreichs von erheblicher Bedeutung waren. So organisierte als Reaktion auf die dänische Bedrohung König Alfred das Militärwesen neu und schuf eine schlagkräftige Armee zu Land und zu Wasser, die in England ihresgleichen suchte.[7] Darüber hinaus wurde der Anspruch formuliert, den Widerstand gegen die Dänen auch jenseits des eigenen Herrschaftsgebiets anzuführen. Alfred betrachtete sich nicht nur als Anführer der Menschen in Wessex, sondern aller durch die Dänen bedrohten oder bereits beherrschten Angelsachsen. Nicht zuletzt in diesem Kontext wurde in Alfreds Umgebung die Existenz einer über Wessex hinausgreifenden, die anderen Regionen ebenfalls umfassenden englischen Identität propagiert. Die Vorstellung einer solchen kollektiven Identität geht wohl bis in das frühe 8. Jahrhundert zurück, gewann aber damals eine ganz neue, Kraft und Wirkung entfaltende Dynamik. Für seine Anhänger war Alfred nicht mehr nur König der West-Sachsen (Wessex), sondern aller Angelsachsen.[8] Wenn also in den folgenden Jahrzehnten von Wessex die Initiative für eine größere Reichsbildung ausging und wenn dort – aus der Rückschau betrachtet – die Bildung des englischen Königreichs ihren Anfang nahm, dann gehörte die große dänische Invasion der 860er/870er Jahre zu den Faktoren, die diese Entwicklung mitverursachten.
Die Formierung des englischen Königreichs war gleichwohl kein geradliniger oder gar vorbestimmter Prozess. Die im 10. Jahrhundert erfolgende schrittweise Ausdehnung der Autorität der Könige von Wessex nach Norden hin, über Mercien und Ostanglien schließlich bis Northumbrien, folgte keinem Automatismus. Andere Entwicklungsverläufe wären ebenfalls möglich gewesen. Doch gegen Ende des 10. Jahrhunderts nahm das Königreich schärfere Konturen an. Es wurde zunehmend als zu bewahrende politische Einheit betrachtet,[9] auch wenn wir noch sehen werden, dass Teilungen bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts hinein denkbar blieben. In dieser Phase englischer Reichsbildung in den letzten Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts kam es erneut zu heftigen Attacken der Wikinger. Nachdem auf der Nordsee einige Jahrzehnte vergleichsweise ruhige Verhältnisse geherrscht hatten, verstärkten sich seit etwa 980 wieder die Angriffe skandinavischer Flottenverbände auf England. Sie mündeten in den Eroberungen des Königreichs zunächst durch den dänischen König Sven Gabelbart...