EINLEITUNG
An einem Morgen im November 1941 erwachte Stefan Zweig, einer der berühmtesten Schriftsteller seiner Zeit – ein wohlhabender Humanist, der mit Leuten wie Sigmund Freud, Albert Einstein, Thomas Mann, Hermann Hesse und Arturo Toscanini befreundet war, ein Kosmopolit aus Wien, der kurz vor seinem 60. Geburtstag stand, mit violetter Tinte schrieb und selten ohne seinen dunklen Anzug auf Reisen ging –, recht spät auf einem schmalen schwarzen Metallbett neben dem Metallbett seiner Frau Lotte, fingerte sein Gebiss aus einem Glas und streifte eine zerknitterte Hose und ein Hemd über. Maultiere trappelten unten über das Pflaster. In den Baumkronen kreischten Vögel, während ihm Insekten über die Haut krabbelten.
Er zündete sich die erste Zigarre des Tages an und trat aus der Tür des muffigen kleinen Bungalows, stieg die von Hortensien überwachsenen Stufen zur Straße hinab und ging hinüber ins Café Elegante. Dort, in der Gesellschaft dunkelhäutiger Maultiertreiber, trank er für wenig Geld einen herrlich schmeckenden Kaffee und übte im Gespräch mit dem teilnahmsvollen Besitzer sein Portugiesisch. Dann stieg er die Stufen wieder nach oben und setzte sich für ein paar Stunden auf die überdachte Veranda, um zu arbeiten. Sie diente ihm als eine Art Wohnzimmer, von dem aus er immer wieder, über die smaragdgrünen Palmwedel hinweg, auf das großartige Panorama der Gebirgskette der Serra do Mar blickte. Lotte, die siebenundzwanzig Jahre jünger war als er und früher einmal als seine Sekretärin gearbeitet hatte, korrigierte nebenan das Manuskript einer kurzen Erzählung über Schach – das königliche Spiel –, an der er gerade saß. Drinnen mühte sich das Hausmädchen mit dem qualmenden Holzofen.
Rua Gonçalves Dias in Petrópolis zu der Zeit, als die Zweigs dort wohnten
Nach einem recht primitiven Mittagessen – Hühnchen, Reis und Bohnen bildeten die Grundlage des Speiseplans – spielten Stefan und Lotte eine Partie Schach aus einem Buch mit Meisterpartien nach. Anschließend unternahmen sie einen langen Spaziergang abseits der Hauptstraßen von Petrópolis, der Stadt in den Hügeln oberhalb von Rio, wo sie ein wenig Ruhe gefunden hatten, auf einem alten Pfad, der in einen pittoresken Urwald voller wilder Blumen und kleiner Bäche führte. Dann zurück zum Bungalow, um weiterzuarbeiten. Korrespondenz. Exzerpte aus einem verstaubten Montaigne-Band, den er im Keller entdeckt hatte. («Damals wie heute die Welt zerrissen, ein Schlachtfeld, Krieg zum Summum der Bestialität gesteigert», schrieb er; «in solchen Zeiten münden die Probleme des Lebens für den Menschen nur in ein Problem: wie bleibe ich frei?») Dann Schlaf. So ging es dahin, Tag für Tag, Woche für Woche.
Doch an diesem Tag überkam Stefan Zweig die völlige Unwahrscheinlichkeit seiner Situation. In einem Brief an Lottes Familie machte er seinem Erstaunen Luft: «Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem sechzigsten Lebensjahr in einem kleinen brasilianischen Dorf sitzen würde, bedient von einer barfüßigen Schwarzen und Tausende von Kilometern entfernt von all dem, was vormals mein Leben war, von meinen Büchern, Konzerten, Freunden, Unterhaltungen.» Sein ganzer Besitz, den er in Österreich zurückgelassen hatte, seine Anteile am familieneigenen Textilbetrieb in der Tschechoslowakei, die Reste seiner Habseligkeiten, die er 1934 ins Exil nach England gerettet hatte, all das schien ihm verloren. Die beeindruckende Fülle an Autographen und Partituren, die er sein Leben lang mit Leidenschaft gesammelt hatte, war in alle Welt zerstreut. Gegenüber der Schwägerin in London wiederholte er seinen «dringlichen Wunsch, dass ihr alles an Kleidung, Unterwäsche, Leinen, Überziehern und was wir sonst noch dagelassen haben, verwendet (…) Ihr würdet mir damit einen Gefallen tun und ihr werdet sehen, dass ich mich mit dieser Vorstellung viel besser fühle. Ich bedauere dann weniger, was ich alles nicht mehr sehen werde.»
Das Erstaunliche aber war: Obwohl Stefan Zweig alles verloren hatte, was sein bisheriges Dasein ausgemacht hatte, beteuerte er: «Wir fühlen uns äußerst glücklich hier.» Die Landschaft sei wunderschön. Die Menschen seien allerliebst. Das Leben sei billig und intensiv. Er und Lotte sammelten die nötige Kraft, um den finsteren Zeiten zu trotzen – «ach, wir werden viel Kraft brauchen», schrieb er. Getrübt wurde ihr Glück nur durch den Gedanken an das unaussprechliche Leid, das ihrer früheren Heimat gerade widerfuhr. Die Nachrichten vom Alltag in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten waren noch deprimierender als die Berichte über die militärische Lage. Zweig war in Sorge, Millionen könnten verhungern, während Brasilien sich in Frieden und Wohlstand sonnte. Das Gefühl, man sei gegen den in Europa wütenden Anfall von Selbstzerstörung immun, hatte unter den Mächtigen des Landes einen neuen Nationalismus entfacht, und sie träumten davon, den Ausgang des Krieges in einflussreicher Rolle mitzugestalten. Doch die Freundlichkeit der Brasilianer blieb davon unberührt. «Ich wünschte, wir könnten Euch etwas Schokolade oder Kaffee oder Zucker schicken, die hier lachhaft billig sind», schrieb er, «aber wir hatten noch keine Gelegenheit dazu.»
Sich Zweig vorzustellen, wie er einsam und an den Rand gedrängt auf seiner üppig bewachsenen Veranda in Petrópolis sitzt, wo, wie er schrieb, Europa mit all seinen Problemen von den Gedanken der Einheimischen ebenso weit entfernt war, wie das die Auseinandersetzungen in China für Europäer wie ihn gewesen waren – diese Vorstellung ist so unwahrscheinlich wie beklemmend. Wie konnte es so weit kommen, dass einer der umschwärmtesten Schriftsteller seiner Zeit, der sich weniger seines literarischen Werkes rühmte als vielmehr stolz von sich behauptete, er fungiere als Mittler zwischen den intellektuellen und künstlerischen Berühmtheiten Europas, in der Rua Gonçalves Dias Nr. 34 das, wie er selbst es nannte, Leben eines Mönchs führte? Doch gerade diese Distanz – gegenüber seinem Verleger nannte er seinen brasilianischen Zufluchtsort einen «abgeschiedenen Winkel», in dem er das «zurückgezogenste Leben» führe – habe ihm auch die Freiheit verschafft, schrieb er, seine Erinnerungen Die Welt von Gestern abzuschließen und alles Material, das er vorher verfasst hatte, «von Grund auf durchzuarbeiten». Die Landschaft ringsherum in Petrópolis erschien ihm «wie aus dem Österreichischen ins Tropische übersetzt», wie er an Franz und Alma Werfel schrieb. Während Wien immer tiefer im Dunkel versank, strahlte die imaginäre Stadt als künstlerisches Utopia für Zweig immer heller. In dieser Hinsicht ähnelte er seinem alten Freund Joseph Roth, über den es einmal hieß: «Sein österreichischer Patriotismus wuchs im gleichen Maße, wie Österreich immer weiter schrumpfte, und erreichte seinen Höhepunkt, als sein Heimatland zu existieren aufhörte.»
Während unten auf der Straße Esel vollbeladen mit Bananen vorüberzogen und das Hausmädchen in der Küche nebenan fröhliche Lieder sang, ließ Zweig die lebendigsten Szenen seiner Vergangenheit noch einmal Revue passieren. Weil es von der ästhetischen Leidenschaft seiner Heimatstadt zeugte, war ihm kein Ereignis wichtiger als der Moment, da sich die Wiener Gesellschaft 1888 ein letztes Mal im alten Burgtheater versammelte, bevor dieses großartige Gebäude abgerissen wurde. Kaum war der Vorhang nach der letzten Vorstellung gefallen, «stürzte jeder auf die Bühne, um wenigstens einen Splitter von den Brettern, auf denen ihre geliebten Künstler gewirkt, als Reliquie nach Hause zu bringen, und in Dutzenden von Bürgerhäusern sah man noch nach Jahrzehnten diese unscheinbaren Holzsplitter in kostbarer Kassette bewahrt, wie in den Kirchen die Splitter des heiligen Kreuzes.» Das sei, so Zweig weiter, nichts anderes als «Fanatismus für die Kunst» gewesen, ein Fanatismus, an dem alle Gesellschaftsschichten in Wien teilgehabt hatten. Überdies habe diese verzehrende Leidenschaft die Künstler zu immer neuen Höhen schöpferischer Leistung getrieben, nicht aus Wertschätzung, sondern aus Überschätzung. «Immer erreicht Kunst dort ihren Gipfel, wo sie Lebensangelegenheit eines ganzen Volkes wird.» Und wenn er von der Seite aufblickte, füllten sich seine Augen mit dem Grün und Gold der Palmen, mit schroffen Bergen voller Grün, mit einem unendlich weiten Himmel. Wohin war alles in seinem Leben verschwunden?, wunderte er sich....