Einführung
Erst seit dem Jahr 1981 wurde der Name Etty (Esther) Hillesum weithin bekannt, als Auszüge ihres Tagebuchs in der niederländischen Originalsprache unter dem Titel Het verstoorde leven [Das beeinträchtigte Leben] erschienen.1 Diese Auswahl wurde dann in verschiedenen Sprachen in 14 Ländern veröffentlicht, darunter eine deutsche Übersetzung im Jahre 2003.2
Es handelte sich um eine unerwartete Auferstehung nach 40 Jahren des Begrabenseins. Als Etty Hillesum am 5. Juni 1943 endgültig in das Lager Westerbork aufbrechen musste, wo die Nazis die Juden der Niederlande vor ihrer Deportation nach Auschwitz sammelten, vertraute sie die elf Hefte ihres Tagebuchs über ihren geistlichen Weg seit dem 8. März 1941 einer holländischen Freundin, Maria Tuinzing, an. Sie bat sie, das Tagebuch einem ihrer Bekannten, dem Schriftsteller Klaas Smelik, zu übergeben; dies geschah nach Beendigung des Krieges. Anfang der Fünfzigerjahre versuchte Smelik vergebens, verschiedene Verleger für dieses Manuskript zu interessieren; es war in einer nur schwer lesbaren Handschrift verfasst. Erst Ende 1972 konnte Smeliks Sohn, Klaas A. D., den Verleger Jan G. Gaarlandt in Haarlem gewinnen. Weitere acht Jahre vergingen, bis dieser daranging, das Manuskript entziffern und abtippen zu lassen und er eine Auswahl der Texte erstellte, die schließlich im September 1981 veröffentlicht wurde. Am 1. Oktober des Jahres wurde der Band im Concertgebouw von Amsterdam einem Auditorium vorgestellt, das sich aus Freunden und Bekannten Ettys zusammensetzte.
Für die Teilnehmer war es ein bewegendes Zusammentreffen nach vielen Jahren, und tief berührt lauschten sie der Schriftstellerin Marga Minco, die Auszüge aus dem Tagebuch vorlas. Es eröffnete für sie ganz neue Einblicke in die Persönlichkeit dieser freien und leidenschaftlichen jungen Frau, der sie oft begegnet waren, die sie begleitet und geliebt hatten, bevor sie im Schrecken und der Anonymität jenes genau geplanten Völkermordes zum Verschwinden gebracht wurde. Wenige unter ihnen ahnten, welch großes Echo diese dem Vergessen entrissenen Texte hervorrufen sollten. Doch seither haben sich Essayisten, Theologen, Psychologen und Philosophen mit den Schriften dieser jungen, 27-jährigen Frau befasst, und sie haben Parallelen zu so verschiedenen Autoren wie Kafka, Meister Eckart, Ruusbroec, Kierkegaard und Bonhoeffer herausgestellt, ganz von denen zu schweigen, auf die sich Etty selbst ausdrücklich bezieht: Augustinus, Thomas von Kempen, Dostojewski, Rilke und Jung.
Der Initiative des Verlegers Jan Gaarlandt ist es zu verdanken, dass im Jahr 1989 ein Sammelband mit 24 solcher Studien erscheinen konnte.3 Einer der Autoren, Abel Herzberg, schreibt: »Ich zögere nicht zu sagen, dass wir uns nach meiner Meinung vor einem Höhepunkt niederländischer Literatur befinden.«4 Zwar erlaubt mir meine begrenzte Kenntnis dieser Literatur nicht, diese Einschätzung aus eigenem Wissen zu bestätigen. Ich kann jedoch bezeugen: Nachdem ich die Schriften von Etty Hillesum, die im Auftrag der Etty-Hillesum-Stiftung in einem Band von 800 Seiten hervorragend ediert worden sind,5 vollständig gelesen und mich lange mit ihnen befasst habe, habe ich den Eindruck, in ihr nicht nur einer Verfasserin von authentischer und oft ergreifender Originalität zu begegnen, sondern auch der Zeugin für eine Entdeckung, die umso erstaunlicher ist, als nichts in ihrer Vergangenheit sie darauf vorzubereiten schien: Sie erfuhr die Gegenwart Gottes in ihrer tiefsten Innerlichkeit gerade dann, als sie am Schicksal der Opfer einer nie dagewesenen Verfolgung teilhaben sollte, die sie selber als »totalitär, in massenhaftem Maßstab organisiert und sich über ganz Europa erstreckend« (10. Juli 1942, S. 511)6 bezeichnete.
Diese Entdeckung hat Etty vom 8. März 1941 an gelebt, dem Tag ihrer ersten Zusammenkunft mit dem Psycho-Chirologen Julius Spier, einem deutschen Juden, der in die Niederlande geflüchtet war. Er sollte für ihre Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen. Diese Entdeckung wurde für sie immer deutlicher bis zum 15. September 1943, dem Tag, an dem sie mit ihrer ganzen Familie und Hunderten weiterer Juden in einen der Waggons für den schrecklichen Transport nach Auschwitz gepfercht wurde. Zweieinhalb Monate später meldete ein Kommuniqué des Roten Kreuzes ihren Tod.
Die lange Beschäftigung mit einer Autorin, von der ein holländischer Universitätsprofessor sagt, sie lasse sich aufgrund der »Originalität und Intensität ihrer Erfahrung und ihres Denkens nicht einordnen«,7 hat mich neben der Ermutigung durch Freunde, denen ich oft von ihr erzählte, veranlasst, dieses Buch zu schreiben. Entscheidend dafür waren auch meine persönlichen Erinnerungen an jene tragischen Jahre, von denen das Tagebuch handelt. Ich war um zehn Jahre jünger als Etty, als ich damals seit 1941 in den Straßen meiner Heimatstadt sehen musste, wie jüdische Mitbürger jeden Alters den gelben Stern mit dem gotischen J als Anfangsbuchstaben des Wortes »Jude« auf ihrer Brust zu tragen hatten; sie verschwanden im Lauf des Jahres 1943, als sie von dem entsetzlichen Mechanismus der »Endlösung« erfasst wurden. Gewiss hatten wir durch Verhaftungen und Deportationen (darunter eines Priesters, der Lehrer an meiner Schule war) bereits eine Vorstellung von der unerbittlichen Härte des Naziregimes. Dennoch geschah es mir manchmal wie Etty, wenn ich auf dem Weg einem jungen deutschen Soldaten begegnete, der kaum älter als ich war, dass ich mir sagte: »Unter der Uniform steckt ein Mensch. Und dieser Mensch könnte mein Freund werden.« Zur gleichen Zeit, als Etty im Lager Westerbork zum ersten Mal katholischen Ordensmännern und -frauen begegnete, trat ich mehr oder minder geheim in einem kleinen Dorf in Lothringen in das Jesuitennoviziat ein, das dort nach seiner Vertreibung aus Arlon eine vorläufige Zuflucht gefunden hatte. Das Haus in Arlon war für eine Garnison der Wehrmacht beschlagnahmt worden.
In ganz Europa wird der Jahrestag der Befreiung aus den Todeslagern begangen. Er erinnert an den unendlichen Schrecken der Shoah. Dass sie niemals aus der Erinnerung der Menschheit verschwinde, war auch eines der Grundanliegen Ettys, als sie ihr Tagebuch schrieb. Es ist mit dem von Anne Frank, ihrer jüngeren Mitbürgerin in Amsterdam, zu vergleichen. Aber unter allen Zeugnissen dieses Jahrestages ragt ihr Tagebuch heraus durch eine Aktualität ganz anderer Art.
Ohne dass sie selbst oder ihre Zeitgenossen sich dessen bewusst sein konnten, ist sie ein Voraus-Zeuge dessen, was wir heute »Moderne« nennen, und uns dadurch erstaunlich nahe. Ihr Weg war ein Weg der Freiheit. Sie war frei von jedem ererbten doktrinären oder ideologischen Vorurteil. Angesichts der erbarmungslosen Verwirklichung der »Endlösung« nimmt sie ihr Jüdischsein an, in aller Freiheit und ohne die geringsten Vorbehalte gegenüber der christlichen geistlichen Welt, die sie allmählich entdeckt und als den Ort ihrer eigenen persönlichen Erfüllung erfährt. Ihr geistlicher Weg verläuft ohne jeden direkten und ausdrücklichen Kontakt mit einer Kirche. Vertreter kirchlicher Institutionen lernt sie im Lager Westerbork erst wenige Monate vor ihrer eigenen Deportation kennen, als Mönche und Ordensfrauen jüdischer Abkunft dorthin kommen,8 unter ihnen die Karmelitin Edith Stein, Philosophin und Schülerin Edmund Husserls, die von Johannes Paul II. heiliggesprochen worden ist.
»Modern« oder besser »postmodern« (wenn man darunter eine gewisse Distanzierung von bestimmten noch immer ideologischen Vorurteilen auch der Moderne verstehen will) ist Etty auch durch ihre Suche nach Wahrheit und Verfügbarkeit gegenüber allem, was ihr andere Menschen oder Ereignisse zu verstehen geben. Sie ist fähig, sich selbst in Frage zu stellen, dies manchmal radikal in Bezug auf ihre Ideen oder bestimmte eigene Verhaltensweisen.
»Modern« und einzigartig aktuell ist Etty auch in der Weise, wie sie ihre Beziehung zu dem Gott versteht, dessen Gegenwart in ihrem Leben sie allmählich entdeckt: Zu einem Gott, der sich nicht aufdrängt, geradezu verwundbar ist, zugleich aber in einer einzigartigen Dichte existiert, sehr verschieden von dem Bild, das manchmal von einer gefühlsseligen Religiosität oder kindischen Vorstellungen entworfen wird.
Erst als ich das Ganze der Schriften studiert und mir Aufzeichnungen gemacht hatte, ging mir ein weiterer Grund auf, warum ich ihr geistliches Profil nachzeichnen sollte. Mir wurde immer deutlicher bewusst, dass der Weg, von dem ihre Schriften zeugen, in erstaunlicher Weise dem entspricht, was Ignatius von Loyola in seinen Geistlichen Übungen beschreibt. Jahrzehntelang habe ich mich mit diesen Geistlichen Übungen befasst und sie auch selber oft für Gruppen oder Einzelpersonen begleitet. Ausgangspunkt ist häufig eine eher verworrene Situation oder auch eine geistliche Sehnsucht und der Wunsch, »sein Leben zu ordnen«; dies verbindet sich immer wieder mit der Last einer vieldeutigen Vergangenheit voller entfremdender Aspekte. Langsam beginnt man zu unterscheiden; dazu hilft der Dialog mit einem Begleiter. Man lernt das persönliche diskursive oder kontemplative Gebet, das sich aus der Schrift und den großen Themen christlicher Spiritualität nährt.
Die fortschreitende Vertiefung dieser Erfahrung geschieht in manchen inneren Kämpfen, aber auch in beglückenden und befriedenden Augenblicken...