Um mit Angst und Krisen gelassen umgehen zu können, braucht es eine bestimmte Einstellung zum Leben, die ich hier kurz benenne:
1. Krisen und Angst sind unvermeidbar, also ein normales Vorkommnis. Krisen sind keine Strafen des Schicksals, keine persönliche Beleidigung – sie gehören zum Leben. Mit Krisen und Angst ist immer einmal zu rechnen, und sie können ausgesprochen sinnvoll sein. Die Angst als eine Emotion, die uns zeigt, dass wir von einer Gefahr ergriffen sind, aber auch in Gefahr sind, etwas für uns ganz Wesentliches in unserem Leben zu verpassen. Die Krise als die Situation der möglichen Umstrukturierung, bei der dieses Wesentliche ins Leben integriert wird – oder verpasst.
2. Wir nehmen uns meistens zu wichtig. Leben wir zu sehr in einer großen Selbstbezogenheit – eine Folge davon, dass wir nicht mehr das Schicksal für vieles verantwortlich machen, sondern unseres eigenen Glückes Schmied sind –, nehmen wir besonders Krisen zu persönlich: Sie werden dann zu einer persönlichen Kränkung. Wir fühlen uns aber deshalb auch verpflichtet, sie allein und rasch zu lösen, mitunter bevor wir sie verstanden haben, fallen in Aktionismus und vergessen, dass es auch eine Dynamik der Selbstregulierung im Leben gibt. Andere Menschen haben auch gute Ideen. Manchmal ergibt das Zusammenspiel von Ideen ganz erstaunliche Lösungen. Die Haltung des Märchenhelden oder der Märchenheldin wäre angebracht: tun, was in der eigenen Kraft liegt, und dann auf hilfreiche Kräfte vertrauen.
3. Um gelassen zu sein, muss man den Tod akzeptieren. Wir nehmen uns auch wichtig, indem wir unserem individuellen Leben eine sehr große Bedeutung zuschreiben. Natürlich sind wir alle einmalig, aber wir sind auch Vorübergehende im Strom des Lebens. Vor uns waren Menschen, nach uns kommen Menschen, alle Lebensträger und Lebensträgerinnen, wie wir auch. Nehmen wir ernst, dass wir sterben müssen, dann muss das Leben angesichts des Todes abschiedlich gelebt werden: Wir müssen immer bereit sein, Abschied zu nehmen, uns der Angst zu stellen, uns zu verändern, uns neu einzulassen. Wenn Abschiedlichkeit einem Leben, das den Tod akzeptiert, angemessen ist, muss sie ergänzt werden durch Offenheit für alles, was das Leben an einen heranträgt, auch Offenheit für Unvorhersehbares, und durch Verantwortlichkeit für das, was gerade ist, durch Engagement, durch das sich Einlassen auf das, was uns wichtig ist.
Das Denken an den Tod und dabei intensiv zu leben, gehört zur Lebenskunst. Leugnen wir den Tod, dann geraten wir in eine übertriebene Selbstbezogenheit, die uns so aufgeregt reagieren lässt, wenn Widriges allzu stark auf uns eindringt. Das Denken an die Abschiedlichkeit der Existenz mag uns melancholisch stimmen, aber aus der Melancholie heraus entsteht die Gelassenheit. Dass alles vergänglich ist im Leben, ist das sicher Bleibende, darauf kann man vertrauen. Und wenn es denn so ist, können wir uns auch wieder einlassen, unseren Interessen nachgehen, spüren, dass es etwas gibt in unserem Leben, das uns mit Lebendigkeit erfüllt, dass anderes Denken Raum hat,1 und auch loslassen. Man kann sich gelassen dem Fluss des Lebens überlassen.
Das fällt uns dann nicht leicht, wenn wir in Situationen geraten, in denen wir uns ängstigen, wenn wir in einer Krise stecken. Kann man da lernen, gelassen zu sein, Abstand zu wahren und dann aus diesem Abstand heraus in einer gewissen Besonnenheit das tun, was uns sinnvoll erscheint, lassen, was notwendig ist?
Die Krise und die Zeitsituation
Identität und Flexibilität
Menschen mit ihren Krisen stehen immer auch in einer bestimmten historischen und gesellschaftlichen Situation. Die Postmoderne ist unter anderem dadurch definiert, dass die sinnstiftenden, großen, zusammenhängenden Erzählungen von Religion und Wissenschaft durch fragmentarische, vorläufige Wissenschaftsmodelle ersetzt worden sind. Ein Orientierungsverlust hat stattgefunden,2 aber auch ein Aufbruch an Freiheit – beides eine Ursache für vielfältige Ängste und Krisen.
Vieles an Festgefügtem ist nicht mehr fest, die Berufsrollen verändern sich, die Rollen von Frau und Mann sind nicht mehr festgeschrieben, die Werte sind nicht mehr allgemein verbindlich. Was aber nicht mehr fest steht, muss immer wieder miteinander ausgehandelt werden. Immer neu müssen wir uns auf uns zunächst noch fremd anmutende Situationen einstellen. Die Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, die Kompetenzen, die wir uns erarbeitet haben, sind vielleicht plötzlich nicht mehr gefragt. Man kann heute gebildet und erfolgreich sein und dennoch vorübergehend erwerbslos werden. Langfristige Bindungen scheinen kaum mehr möglich zu sein, so wird zumindest beklagt, und dennoch trifft man sie bei vielen Menschen immer wieder an. Ohne Zweifel ist die Fähigkeit gefragt, sich immer wieder neu einzulassen und aber auch immer wieder loszulassen, ohne dass man weiß, was kommen wird. Und das macht auch Angst.
Und dann: Es wird viel geklagt heute. Wir bringen uns unnötigerweise in eine Opferposition und geben zu verstehen, dass wir ein besseres Leben haben wollen. Wen klagen wir eigentlich an? Wer soll uns das bessere Leben geben? Eine gewisse Wehleidigkeit greift epidemisch um sich.
Die Klagen
Zu flexibel müsse man heute sein, meinen einige. Der flexible Mensch ist gefragt. Das ist aber nicht neu. Heinrich Pestalozzi, der Schweizer Pädagoge, weltbekannt durch seine Ideen, allen Menschen durch Bildung zu einem erfüllten Leben zu verhelfen, forderte schon 1780 zusammen mit der besseren Ausbildung „Gewerbsamkeit und Biegsamkeit“ – „Effizienz und Flexibilität“ würden wir heute sagen.3
Die Forderung nach Flexibilität ist also nicht neu. Und auch nicht alle leiden heute unter der geforderten Flexibilität. Frauen, so scheint es mir, mussten schon immer flexibel sein, wenn sie ihre verschiedenen Rollen unter einen Hut bringen wollten. Man kann die Probleme auch herbeireden. Auch heute müssen nicht alle so ungeheuer flexibel sein. Vielen schadet die Forderung nach Flexibilität nicht, im Gegenteil. Peggy Thoits4 fand in mehreren Untersuchungen heraus, dass multiple Rollenengagements, wie sie dem flexiblen Menschen entsprechen, die Ressourcen einer Person stimulieren und dass dadurch sowohl das Selbstwertgefühl als auch das Gefühl der existenziellen Sicherheit und auch der Kontrollfähigkeit, das heißt der Gewissheit, kompetent mit dem eigenen Leben umgehen zu können, erhöht werden.5 Es gelingt den meisten Menschen, viele verschiedene Lebenssituationen immer wieder auf sich selbst zu beziehen, viele mögliche Identitäten, die das Ich erlebt und die ihm von außen auch zugeschrieben werden, als zu sich gehörig zu verstehen. Es gelingt, durch alle Fährnisse hindurch ein kohärentes Selbst zu bewahren und auszubauen, eine Mitte zu haben, so etwas wie einen Kern, und damit verbunden das Gefühl, in sich verwurzelt zu sein, eine tragende Festigkeit zu haben. Auch wenn die Veränderung gegenüber dem Gleichbleibenden heute zu dominieren scheint: Es kann gelingen, sich dennoch das Gefühl der sicheren Identität zu bewahren. Dieses Gefühl bewirkt ein stabileres Selbstwertgefühl, das wiederum einen besseren Umgang mit der Angst ermöglicht.6 Dieses Gefühl der Identität bewirkt auch eine Seelenfestigkeit,7 ein kohärentes Selbst, gründend auf einem Tiefenselbst, das erlaubt, auch Beunruhigendes ruhiger anzugehen. Dieses Gefühl der Identität immer wieder neu zu erfahren, ist Ziel verschiedener Therapierichtungen, unter anderem auch Ziel des Individuationsprozesses, wie ihn C. G. Jung beschrieben hat.
Die Beschleunigung
Erschwerend kommt zur Forderung nach Flexibilität weiter dazu, dass die Anforderungen an den Einzelnen immer mehr werden. Und alles soll immer schneller erledigt werden; so nehmen es zumindest viele Menschen im Erwerbsleben wahr. Menschen mit Krisen klagen weniger darüber, dass ihr Leben so unübersichtlich geworden ist, sondern darüber, dass sie unter großem Zeitdruck arbeiten müssen, nicht mehr „zur Besinnung“ kommen.
Aus Untersuchungen an Angstträumen weiß man, dass bei der Beschleunigung von Traumszenen die Angst größer wird;8 werden die angstmachenden Szenen verlangsamt, dann wird die Angst weniger. Diese Verlangsamung geschieht oft schon während des Träumens, denn in den Träumen wird viel Angst verarbeitet. Da wird etwa ein schnelles Fallen im Traum plötzlich verlangsamt, die Träumerin kann zudem noch dem Fallen zuschauen, und die Angst, die vorher fast unerträglich war, wird bedeutend weniger. Was in den Träumen erfahrbar ist, scheint mir auch im wachen Alltag zu gelten: Wenn alles für unser Empfinden zu schnell geht, reagieren wir mit Angst. Können wir die Situationen verlangsamen, „entschleunigen“, wird die Angst weniger.
Bedrohungen in der ganzen Welt
Zu den allenthalben beklagten großen Anforderungen kommen die Probleme in der Welt, über die wir dank Telekommunikation oberflächlich gut informiert sind. Überall auf der Welt sind Krisenherde, wirtschaftliche Probleme, Arbeitslosigkeit, Hunger. Die Sorge, ob die Politiker und Politikerinnen mit Weitblick darauf reagieren, wächst. Die Naturkatastrophen scheinen auch häufiger und schlimmer zu sein als früher. Es gibt viel Bedrohliches in dieser Welt. Viele Menschen leben zudem ahistorisch. Studiert man die Geschichte der Menschen, wird einem bald klar, dass wir nicht die einzigen Generationen sind, die die Welt als bedrohlich empfinden. Aber die...