PROLOG
Venus des Waldes
»… die Esche, für nichts Böses geschaffen«
Edmund Spenser,
The Faerie Queene, Book I
Ich bin unter einer Esche aufgewachsen. Sie stand an dem Tor, das vom Garten meiner Kindheit zu den Feldern führte, auf denen mein Bruder und ich uns in phantasievollen Spielen austobten. Im Winter an der eleganten, schmalhüftigen, nach oben hin ausladenden Gestalt dieser Esche vorbeizustürmen und im Sommer unter ihrem luftigen Kronendach hindurchzuflitzen bedeutete, in einen Oberst oder einen König, einen Ritter oder einen Zauberer verwandelt zu werden. Viele Jahre lang war diese Esche der Torwächter zu meinen Träumen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind je einen Zusammenhang zwischen diesem Baum und den vielen Dingen, die mir am Herzen lagen, hergestellt zu haben. Mir war, glaube ich, nicht einmal bewusst, dass mein innig geliebter Dunlop-Tennisschläger, mein Hockeyschläger, die Stäbe für mein Krickettor, der Schaukelstuhl im Zimmer meines Bruders und unser Schlitten allesamt aus Eschenholz gefertigt waren. Dennoch verband mich irgendetwas mit diesem Baum. Seit dieser Zeit habe ich in Wäldern und auf Feldern, ja sogar in den städtischen Landschaften, in denen ich gewohnt habe, instinktiv immer wieder nach Eschen gesucht. Der Baum war mir stets präsent, und seine Erscheinung auf seltsame Weise verwebt mit meinen langen Reisen um die Welt. Vielleicht war er ein Kardinalpunkt, ein Leitstern, der mir am Ende dieser Reisen den Weg zu dem Haus gewiesen hat, in dem ich heute mit meiner Familie lebe, in einem Wäldchen am Rande der Black Mountains im südöstlichen Wales – eine Landschaft ähnlich der, die mir als Kind so vertraut war und in der reichlich Eschen wachsen.
Das Wäldchen schmiegt sich an einen Südhang und ist zu zwei Seiten von Feldern und Mooren umgeben. Die südliche Begrenzung bildet der Fluss Arw. Verschiedene Laubbäume, darunter auch Arten, die selten angepflanzt werden, wachsen hier in willkürlicher Anordnung. Vielleicht stehen einige der Bäume in diesem Wald schon seit langer Zeit, doch wäre es falsch, ihn als etwas Ewiges und Unveränderliches zu betrachten. Jeder Wald stellt lediglich die natürliche Ordnung der Dinge, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, dar.
Als wir vor über zehn Jahren in unser Haus gezogen sind, hatte in dem Waldstück seit dem Zweiten Weltkrieg, als die meisten Bäume in der Umgebung des Holzbedarfs wegen gefällt worden waren, niemand mehr eine Axt oder eine Hippe geschwungen. Es war ein dunkles, verschlungenes Dickicht, mit einem Blätterdach so sorgfältig auf Kante genäht wie ein walisischer Quilt. Das Licht schien kaum hindurch. Die Luft war stickig. Der Wald wirkte irgendwie leblos.
Zuerst wusste ich nicht so recht, was ich damit anfangen sollte. Dann nahm ich nochmals Am Anfang war die Erde. »Sand County Almanac«. Plädoyer zur Umwelt-Ethik von Aldo Leopold, einem der Pioniere des Naturschutzes in Amerika, zur Hand. Darin schrieb er: »Ich habe schon viele Definitionen dessen gelesen, was ein Naturschützer ist, und selbst auch nicht wenige verfasst. Doch allmählich hege ich den Verdacht, dass die beste dieser Definitionen nicht mit einem Stift, sondern mit der Axt geschrieben ist.« Und so experimentierte ich eines Winters mit dem Stockausschlag – der traditionellen Methode der Forst- und Holzwirtschaft, die Bäume bis auf den »Stock«, also beinahe auf Bodenhöhe, zurückzuschneiden, damit sie neu austreiben. Ich fällte die alten, üppigen Haselsträucher am Rand der Felder. Ich dünnte die schwächsten Bäume aus, um den restlichen neue Kraft zu schenken. Ich schuf Lichtungen. Pflanzte Eichen. Ließ stehendes Totholz an Ort und Stelle und verrottendes Holz auf dem Boden liegen. Vögel begannen in den morschen Haufen zu nisten, überall erwachten Wildblumen zum Leben: Windröschen, Schöllkraut, Sternmiere, Goldnessel, Gefleckter Aronstab, Wald-Veilchen, Fingerhut und Glockenblume.
Während ich dem Unterholz zu Leibe rückte, kamen die größeren, einstämmigen Nutzholzbäume allmählich zum Vorschein und enthüllten ihren wuchsbedingten individuellen Charakter: die muskulösen Eichen, die pfeilerartigen Erlen am Flussufer, die Hängebirke mit ihrem extravaganten Bubikopf aus bordeauxroten Zweigen. Doch am auffälligsten in diesem Wald in Winterruhe waren die Eschen: Die hohen, schlanken Bäume mit ihrer graugrünen Rinde und den spärlichen Ästen waren in sanftes Licht getaucht und ihrer Blätter beraubt; die kargen Äste wanden sich ungelenk zu allen Seiten und zu den Spitzen hin nach oben, wo die Zweige in den typischen »Hexenklauen« endeten, die am perlgrauen Himmel kratzten. Die Anmut, mit der die Esche den Winter trägt und erträgt und derer sich keine andere Baumart rühmen kann, hat ihr auch ihren Spitznamen eingebracht: Venus des Waldes.
Die Pflanzengattung der Eschen – Fraxinus – gehört mit dreiundzwanzig weiteren Gattungen zur Familie der Ölbaumgewächse und umfasst, so Dr. Gabriel Hemery in seinem Buch The New Sylva, rund dreiundvierzig Arten. Als Standort bevorzugen Eschen die gemäßigten und subtropischen Regionen der nördlichen Hemisphäre. In Europa sind drei Arten heimisch. Am wichtigsten und weitesten verbreitet ist die Gemeine Esche (Fraxinus excelsior), auch Gewöhnliche oder Hohe Esche genannt. Sie gedeiht von der irischen Atlantikküste über ganz Europa bis nach Kasan, achthundert Kilometer östlich von Moskau. Ihr nördlichstes Verbreitungsgebiet findet sie am norwegischen Trondheimfjord bei 64 Grad nördlicher Breite; in der östlichen Begrenzung folgt sie der Wolga bis zur Krim und zum Kaukasus. Im Süden erstreckt sich die Domäne der Gemeinen Esche ab etwa 37 Grad nördlicher Breite im Iran über Dalmatien, Italien und Südfrankreich bis zu den Pyrenäen. Auf der Iberischen Halbinsel wächst der Baum nur in den Bergen. Generell kann man sagen, dass die Gemeine Esche in Südeuropa ein Gewächs der Berge ist und weiter nördlich eines der Täler und Ebenen.
In Großbritannien ist die Esche nach Eiche und Birke der dritthäufigste Laubbaum. Am liebsten mag sie tiefe, fruchtbare Lehmerde über Kalksteinaufschlüssen aus dem Karbon, idealerweise an gut drainierten Nord- und Osthängen, an denen eine feuchte und kühle Atmosphäre herrscht. Nasse Böden mag sie nicht, wenngleich sie ein breites Spektrum klimatischer Bedingungen toleriert – vorausgesetzt, die Bodenbeschaffenheit stimmt. Sie fühlt sich in Mischwäldern wohler als in reinen Waldkulturen und ist häufig in Hecken zu finden. Da sie auch ein recht hohes Maß an Luftverschmutzung duldet, ist sie als Baum in Stadtparks und Gärten sehr beliebt. Sie überlebt auch da, wo es fast kein Erdreich gibt; im Hochland von Yorkshire und Derbyshire etwa wächst sie gestrüppähnlich auf dem nackten Kalksteinfelsen oder durch Spalten im Straßenpflaster.
Hinsichtlich leicht verfügbarer Bodennährstoffe ist der für gewöhnlich kräftige Baum mit dem dichten Wurzelwerk ausgesprochen anspruchsvoll – dafür ist er in anderer Hinsicht wiederum sehr bescheiden. Mit dem Laubausbruch lässt er sich vornehm Zeit. Noch im späten Frühjahr und sogar im Sommer ist das fedrige Kronendach der Esche löchrig und luftig; die Blätter werfen nur ein Netz aus zarten Schatten auf den Waldboden, der so reichlich Licht abbekommt. Dies begünstigt eine große Vielfalt an Bodenvegetation: Normalerweise finden sich unter Eschen Pflanzen wie Wald-Schlüsselblumen, Große Windröschen, Mädesüß, Bärlauch und diejenige Wildblume, die den Boden mit ihren süßlich duftenden violetten Blüten teichartig überzieht und im Frühling eine geradezu antidepressive Wirkung auf das kollektive Bewusstsein der Briten hat – die Glockenblume.
Im Alter von rund dreißig Jahren kann der Baum eine beachtliche Samenproduktion vorweisen; ihren Höhepunkt erreicht sie, wenn der Baum vierzig bis sechzig Jahre alt ist. Die ellipsenförmigen, geflügelten Samenkapseln – auch als Flügelfrucht, Flügelnuss oder Samara bezeichnet – bilden sich im Frühjahr und wachsen den ganzen Sommer hindurch, bis sie im Herbst schließlich braun und hart werden. Dann werden sie von stärkeren Windböen und gelegentlich auch von Kindern von den Ästen gerissen und über beträchtliche Entfernungen verteilt.
Da Eschen Millionen solcher Samen produzieren, ist das Ausmaß der Selbstaussaat mitunter gigantisch. In den britischen Laubwäldern leisten die Eschen den größten Beitrag zur natürlichen Regeneration des Gehölzes. Zudem gehört die Esche zu den Pionierarten und dringt rasch in freies Gelände vor. Eschensämlinge sind schattentolerant und können in dieser Zwergform jahrelang auf einen Sturm oder den Förster warten, der den Nachbarbaum fällt und das Sonnenlicht hereinfluten lässt. Bei idealen Standortbedingungen wachsen die Bäume anschließend sehr schnell. Dann übertrifft die Esche sogar die Eiche: In rund fünfzig Jahren erreichen die Stämme eine Höhe von sechs Metern und auf Brusthöhe einen Durchmesser zwischen vierzig und sechzig Zentimetern. Nach etwa sechzig Jahren verlangsamt sich das Wachstum.
Die Rinde junger Eschen ist graugrün, glatt und oft von einem Flechten- und Moosteppich bedeckt. Mit zunehmendem Alter bekommt die Borke Risse; es bildet sich ein unregelmäßiges Muster aus geriffelten Furchen und vertikalen Spalten. Glücklicherweise wird sie vom Grauhörnchen verschmäht, das an anderen Laubbaumarten in Großbritannien, Irland und Italien enorme Schäden anrichtet.
Die pechschwarzen, prallen Blütenknospen sind an der Spitze abgeflacht und ähneln den Knospen keines anderen Baumes: Ungeduldig erscheinen...