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E-Book

Herausspaziert

Von mutigen Schritten und bewegender Hoffnung für unsere Welt

AutorBettina Becker
VerlagSCM R.Brockhaus im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783417228663
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
'Stell dir vor, die Zukunft wird wunderbar und du bist schuld.' Bettina Becker besuchte Prostituierte auf dem Straßenstrich, predigt von unterschiedlichen Kanzeln, spielt Theater mit geflüchteten Kindern und ist Präsidentin des 1. FC Knast 09. An all diesen unterschiedlichen Orten und in diesen unterschiedlichen Menschen ist sie Gott begegnet. Und sie hat angefangen, Fragen zu stellen, die nicht immer bequem sind. Die Theaterpädagogin, Theologin und Improschauspielerin gibt Einblick in ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Teilt ihre teilweise auf schmerzhafte Art gewonnenen Erkenntnisse. Und erzählt Geschichten, die verwirren und zum Schmunzeln bringen. Die berühren und herausfordern, aber vor allem Mut machen: selber herauszuspazieren, Menschen zu begegnen, Gott zu suchen und Hoffnung zu leben.

Bettina Becker (Jg. 78) ist herausspaziert. Sie besuchte Prostituierte auf dem Strich, predigt von unterschiedlichen Kanzeln, spielt Theater mit geflüchteten Kindern und ist Präsidentin des 1. FC Knast 09. Mit ihrem Mann Simon und ihren 3 Kindern lebt sie seit 2008 in Magdeburg.

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KAPITEL 2:
ICH VERURTEILE DICH NICHT


„Ich verurteile dich nicht“, sagte Jesus zu einer Frau, die Ehebruch begangen hatte. Ich verurteile dich nicht. Ein Satz, der mir bei Liz nicht schwerfiel. Ich hatte keinen Grund, sie zu verurteilen, überheblich zu sein. Im Gegenteil. Ich mochte sie. Doch dann gab es da noch andere Menschen.

WM-Finale beim Zuhälter


Es war 2002. Fußball-Weltmeisterschaft. Deutschland im Endspiel gegen Brasilien. Liz lud mich ein, es mit ihr zusammen zu schauen. Bei ihr zu Hause. Genau genommen, bei Uwe zu Hause. Ihrem Vermieter. Oder deutlicher gesagt: ihrem Zuhälter.

Das war wieder eine neue Erfahrung.

Fühlte ich mich bei Liz im Wohnwagen mittlerweile schon einigermaßen sicher, wurde es jetzt wieder spannend.

Ich hatte mit der Zeit gelernt, dass ich Menschen wie Liz auf keinen Fall verurteilen sollte, aber meine Einstellung änderte sich schlagartig in dem Moment, als ich Uwe kennenlernte.

Bisher war er nur derjenige, der hupend am Wohnwagen vorbeifuhr, was für Liz bedeutete, mich wegzuschicken. Er gab ihr damit zu verstehen, dass sie zu arbeiten und nicht zu quatschen hätte. Deswegen bat sie mich ja irgendwann in den Wohnwagen hinein – so konnte Uwe sie und vor allem mich nicht sehen. Manchmal hängte sie sogar für mich das „Besetzt-Schild“ vor die Tür.

Ich war also zum Finale eingeladen. In die Wohnung eines Zuhälters. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was mich erwartete. In meiner Vorstellung war Uwe ein älterer, dicker, ungepflegter Mann mit Goldkettchen, fettigen Haaren, unmöglichem Benehmen und am besten noch mit einem kleinen Hund.

Ich kam in die Wohnung und merkte: Alle meine Klischees passten so 100 %ig auf Uwe, dass ich nicht wusste, ob ich enttäuscht sein oder laut lachen sollte. Aber für beides war ich eigentlich zu aufgeregt.

Uwe saß in einem Sessel: Jogginghose, fleckiges T-Shirt, etwas zu kurz für seinen gewaltigen Bauch, graue Haare, Schnurrbart, goldenes Kettchen und streichelte seinen kleinen Hund mit Namen Buschi (dieser Name ist nicht geändert). Im Nachhinein wirklich absurd. Ich registrierte, wie er Liz und Susan herumkommandierte. Beide waren Afrikanerinnen, beide arbeiteten für ihn im Wohnwagen, wohnten bei ihm, kochten ihm Essen, machten den Haushalt und erledigten auch noch diverse andere Tätigkeiten für ihn, die sie auch aus ihrem Berufsleben kannten. Das alles war ein Wirrwarr aus Eindrücken, die ich erst im Nachhinein für mich sortieren konnte! Und dazu noch ein WM-Finale!

Ich habe mich selten so wenig auf ein Endspiel konzentrieren können wie 2002!

Wir haben es geschaut, das weiß ich – auch bis zum Ende. Aber wirklich mitfiebern konnte ich nicht. Gut, dass ich damals nicht wusste, dass ich 12 Jahre würde warten müssen, bis Deutschland es wieder so weit schaffen würde!

Ich saß also in Uwes Wohnzimmer und war voller Fragen:

Was tust du hier eigentlich, Bettina?

Bist du wahnsinnig, einfach so in das Haus eines Zuhälters zu spazieren?

Da war einfach nur Abscheu, Ekel und Wut auf diesen Mann, der Frauen, die ich mochte, so hemmungslos ausnutzte.

Und wie ich dich verurteile!


„Ich verurteile dich nicht???“ Dieser Satz wurde für mich sofort gestrichen. Und wie ich ihn verurteilte! 1000 Dinge fielen mir ein, für die ich Uwe gerne verurteilen würde!

Und während Oliver Kahn irgendwann untröstlich in seinem Tor saß, jagten mir die wütendsten Gedanken durch den Kopf und ich begann mit Gott ein Zwiegespräch (im Stillen natürlich):

„Gott, wie kannst du so etwas zulassen? Wieso darf ein Mann wie Uwe so etwas tun? Warum lässt du ihn nicht einfach platzen? Wieso bestrafst du ihn nicht dafür?“ Ich wünschte mir Donner und Blitz vom Himmel oder so etwas Ähnliches zumindest. War selber kurz davor, einfach aufzustehen und ihm meine Meinung ins Gesicht zu sagen. Eine musste das ja schließlich mal tun!

Aber während meiner gesammelten innerlichen Hasstiraden, hatte ich plötzlich wieder ein Bild vor meinem inneren Auge, das mich den Mund halten ließ. (Zur Erklärung: Das habe ich eigentlich nicht ständig, nur in Zusammenhang mit diesen Begegnungen schienen diese Bilder irgendwie notwendig für mich zu sein.)

Ich sah einen kleinen blonden Jungen, mit den gleichen blauen Augen wie Uwe, der gerade laufen lernte, dabei fröhlich strahlte und immer wieder auf seinen Po plumpste. Das traf mich wie der Blitz!

Uwe war mal ein kleiner, fröhlicher Junge gewesen, der laufen lernte. Liebenswert.

Und dieser kleine Uwe hatte bestimmt nicht in sein erstes Freundschaftsbuch geschrieben: „Wenn ich groß bin, werde ich mal … Zuhälter.“

Nein, vermutlich stand da: Feuerwehrmann, Ritter oder Indianer.

Irgendetwas in Uwes Leben musste gewaltig schiefgelaufen sein, so dass er jetzt hier saß.

Uwe. Der Zuhälter, der mal ein kleiner Junge war.

Das macht sein Verhalten jetzt natürlich nicht besser. Und ich werde es bestimmt nicht schönreden. Aber es macht Uwe menschlicher. Näher.

Und es macht (mal wieder) schwerer zu verurteilen, Grenzen zu ziehen, einzuteilen in Drinnen und Draußen, in Gut und Böse. Wie immer, wenn man Menschen plötzlich persönlich kennenlernt. Uwe. Es war eigenartig, Uwe zu kennen und diese Begegnung beim Finale sollte nicht die letzte sein.

Immer wieder wurden wir gefragt, ob es nicht gefährlich sei, mit Zuhältern in Kontakt zu sein, ob sie uns nicht daran hindern wollten, den Frauen zu begegnen. Und wir hatten auch Begegnungen, die unheimlich waren, wo wir spürten: Hier ist Vorsicht geboten. Wo eine Frau, die übersät war von blauen Flecken, uns ängstlich wegschickte und die wir anschließend nie wiedersahen.

Bei Uwe war das nie der Fall. Im Gegenteil: Ich war in seiner Wohnung willkommen. Zu sagen, dass sich eine Freundschaft entwickelt hat, wäre nun wirklich übertrieben, wir stichelten, stritten miteinander und hatten auch einige deutliche Diskussionen. Ihm war mehr als klar, was ich von seinem Lebensstil hielt. Da nahm ich kein Blatt vor den Mund. Aber er schien vor mir irgendwie Respekt zu haben.

Eines Tages hatte er gerade ein neues Programm auf seinem Computer installiert und fragte mich nach meinem Lieblingslied – kurz darauf schallte History Maker von Delirious? (es war halt 2002) durch seine ganze Wohnung. Ein anderes Mal machte er ein Foto von Liz und mir und druckte es mir stolz mit seinem neuen Farbdrucker aus.

Irgendwann ging ich mit Simon (da war Simon noch mein Freund, jetzt ist er mein Freund und Ehemann) in eine Pizzeria. Wir wollten einfach mal einen netten Abend zu zweit verbringen. Und wen trafen wir? Liz und Uwe – die ebenfalls einen Abend zu zweit in der Pizzeria verbrachten. Sie winkten uns beide fröhlich zu sich. Und wir setzten uns zu ihnen an den Tisch und aßen zusammen.

Was für eine verrückte Zusammenstellung!

Als die Rechnung kam, hat Uwe für uns alle bezahlt.

Mit dem Geld, das Liz und Susan erarbeitet hatten! Mit welchem sonst?

Dabei hob er frecherweise sein Glas und sagte das unglaublich einfallsreiche Wortspiel: „Prost!-itution“ Und grinste dabei.

Mal die Meinung sagen?


Was tun? In der Pizzeria eine Szene machen? Ihm die Cola ins Gesicht schütten?

Das Geld nicht annehmen? Es war eine Provokation – natürlich.

Aber gleichzeitig waren der gemeinsame Abend und das gemeinsame Essen auch eine Einladung gewesen. Eine Einladung zu Nähe und Beziehung. Wir haben es angenommen, dass er für uns bezahlt hat.

Ich habe mich mit einem Augenrollen begnügt, mehr sollte er von mir nicht bekommen. Sicher hätte es zig andere Reaktionsmöglichkeiten gegeben, aber das, was mir einfiel, schien unpassend und auf schlaue Sätze bin ich so schnell nicht gekommen.

Oftmals musste ich in dieser Arbeit so spontan reagieren und improvisieren. Denn auf die Dinge, Fragen, Aussagen, die in Situationen wie diesen auf mich zustürmten, konnte ich mich nicht vorbereiten – sie waren außerhalb meines bisherigen Erfahrungs- und auch außerhalb meines Erwartungshorizontes.

Deshalb betete ich für Liebe und Respekt, für Klarheit und Wertschätzung.

Ich wünschte mir, den Leuten so zu begegnen, wie Jesus ihnen begegnet wäre.

Denn wenn ich das Neue Testament durchblättere, dann staune ich immer wieder, mit wie viel Respekt und wie liebevoll Jesus gerade den Menschen begegnete, deren Leben in Chaos versank, und wie klar er dabei war.

Ja, Jesus konnte auch anders. Er konnte wütend werden und aus der Haut fahren. Und als er sich im Tempel über all die Händler aufgeregt hat, hat er das auch nicht mit säuselnder Stimme und einem Staubwedel gemacht, sondern hat sie mit deftigen Worten und einer Peitsche (die er sich mal eben so geknüpft hatte) rausgejagt, während er ihr Geld auf den Boden geschleudert und die Tische umgestoßen hat. Wow!2

Da passt es nicht, wenn man Jesus als einen verweichlichten, harmlosen Pädagogen sehen will. Jesus fand harte Worte – aber für wen? Für die, die sich drinnen so sicher fühlten. Für die, die Grenzen aufgebaut hatten, um nicht in Kontakt mit irgendetwas angeblich Bösem zu kommen. Für die, die andere ausgrenzten und ihnen und sich selbst das Leben schwer machten.

Wäre Jesus mit Uwe in der Pizzeria gewesen?

Hätte er das Geld angenommen?

Kleine, fiese Mitbürger


Da gibt es diese schöne Geschichte von diesem kleinen Fiesling. Von dem, der Menschen ausgebeutet und betrogen hat, von dem, den keiner im Ort leiden konnte. Dem, der sich mit dem Geld, das er anderen gestohlen hatte, ein schönes...

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