HÍLDUR
So hatte sich Hilde das Osterfest nicht vorgestellt. Es war der 29. März 1942. Hinter ihr ertönte eine laute, schrille Stimme: »Dreh das Ventil auf, Hilde, du musst am Ventil drehen, und dann Wasser Marsch, Frauen!«
Nur noch einmal ausatmen, und dann hatte sie endlich Halt gefunden auf dem Dachfirst eines alten Lübecker Bürgerhauses. Die roten Backsteine waren an diesem Abend in einen flammend roten Lichtschein getaucht, schräg hinter Hilde brannte ein Dachstuhl, vor ihr klaffte ein riesiges Loch und gab den Blick in eine verlassene Wohnung frei. Weiter unten war soeben eines der Ziegeldächer explodiert. Die unerschrockene Vierzehnjährige fand gerade noch Halt auf den knirschenden Pfannen unter ihren Füßen, dann brauchte sie alle Kraft, um den Feuerwehrschlauch zu halten, der nun in ihrer Hand lag und dessen Spritze sie auf das Dach weiter unten richten sollte.
Es war Hildes erster großer Brandeinsatz, und sie hoffte inständig, den Schlauch lange genug halten zu können, um die brennenden Ziegel zu löschen. Rauch stieg auf, und mit ganzer Kraft widerstand das Mädchen dem Druck von hinten.
Hilde war die jüngste Feuerwehrfrau von Lübeck. Sie war vierzehn Jahre alt, und als beste Turnerin ihrer Altersgruppe war sie die Einzige, der es gelang, mit dem noch schlaffen Löschschlauch in der Hand über die Dächer zu klettern und von weit oben die Instruktionen ihrer Brandschutzleiterin auszuführen. Dieses Ostern im Jahr 1942 markierte ungefähr die Zeit, in der die Lübecker Feuerwehr ausschließlich aus Frauen bestand. Dass Hilde vor Kurzem dazugestoßen war, hatte mit ihrer persönlichen Verfassung und einer Mischung aus Abenteuerlust und purer Verzweiflung zu tun.
Hildes Vater war im letzten Jahr gestorben, und ihre Brüder waren im Krieg. Sie und ihre Mutter blieben allein zurück in Lübeck, und jeden Abend mussten sie, wenn der Bombenalarm ausgelöst wurde, in den Bunker rennen.
Hilde war bekannt für ihr ungestümes Naturell. Sie konnte nie lange sitzen, war leicht aufbrausend und hatte einen enormen Bewegungsdrang, den sie mit Sport einigermaßen in den Griff bekam. Regelmäßig siegte sie in Turnwettbewerben und war der Star ihrer Handballmannschaft, die trotz des Krieges, der seit fast drei Jahren tobte, noch immer täglich trainierte. Eine Nacht lang mit wildfremden Menschen im Luftschutzkeller zu verharren und dort zu warten, bis die Angriffe vorüber waren, das war der reine Schrecken für das quirlige Mädchen.
Es war nicht auszuhalten: Die Stadt wurde innerhalb kurzer Zeit stark zerstört. Wir hatten jede Nacht Fliegerangriffe von den Engländern, die sich dafür rächten, dass wir Deutschen im Krieg die Industriestadt Coventry in Schutt und Asche gelegt hatten. Das ist der Ort, wo Rolls-Royce die Triebwerke für Flugzeuge herstellte. Also, ab 1942 waren wir in Lübeck ein bevorzugtes Ziel, weil die Stadt so leicht erreichbar war, wir lagen an der Küste und hatten eine Menge Einwohner. Lübeck war aus der Luft leicht erkennbar und wurde als erste Stadt bombardiert. In manchen Nächten warfen sie fünf Stunden lang Brandbomben, alles stand in Flammen, und ich sollte in den Bunker, diesen schrecklichen Bunker, die Enge, das habe ich nicht mehr ertragen können. Das war die Zeit, in der ich zum ersten Mal eine Nervosität verspürte, ein ganz schlimmes, inneres Getriebensein. Ich war nahe dran, in diesen stickigen Kellern Asthma zu bekommen, und dann habe ich mich entschieden, mich zur Feuerwehr zu melden. Der Brandschutz, wie das damals hieß, hatte ein großes Problem: Es waren komplett die Männer ausgegangen, denn die waren inzwischen alle im Krieg. Also waren wir ein Frauenlöschzug, und als ich dazustieß – übrigens gegen den Willen meiner Mutter –, war ich die Jüngste dort. Sie nahmen mich mit Kusshand, denn ich war eine gute Turnerin und kannte keine Angst vor der Höhe.
Hilde hat damals gelernt, in Sekundenschnelle aufzuspringen. Sobald sie von jemandem angetippt wurde, stand sie mit einem einzigen Satz neben dem Bett. Hilde Anna Minna Raabe war die jüngste Tochter einer Familie, die seit Generationen in Lübeck lebte und Handel betrieb. Sie hatte drei ältere Brüder, denen sie mit ihrer Energie schon früh das Wasser reichte. Nesthäkchenattitüden kannte die ausgesprochene Vatertochter nicht. »An dir ist ein Junge verloren gegangen«, war der Kommentar ihrer Mutter, die fast daran verzweifelte, dass das Kind sich nur mit Widerstand in nette Kleidchen stecken ließ. Für ihre drei älteren Brüder war sie »die wilde Hilde«; eine, mit der man Pferde stehlen konnte, und eine kleine Schwester, mit der man alle möglichen Streiche spielte, statt sie zum Opfer zu machen; eine, die sich den Respekt der großen Jungen schnell erwarb. Hilde hatte noch eine ältere Halbschwester, die ihre Mutter in die Ehe mit Hildes Vater einbrachte, aber die war vierzehn Jahre älter und taugte Hildes Meinung nach nicht als Vorbild. Die Mutter war es, die Hilde zum Sport schickte, als sie das Kind nicht mehr zu bändigen wusste. Lübecks Turnerschaft war Mutter Raabe dafür sehr dankbar, denn das neue Talent jonglierte und tanzte grandios, fügte sich problemlos in die Gruppe ein und gewann – seit sie acht Jahre alt war – für ihre Stadt jede Menge Pokale bei Wettbewerben.
In der Schule galt sie als begabt und als vorlaut, denn Hilde ging nichts schnell genug. Sie war ein renitentes Kind, das nicht einsehen wollte, wozu es in der Schule fünfzigmal am Tag den Arm zum Hitlergruß in die Höhe strecken sollte. Dabei gehorchten alle anderen Kinder ihren Lehrern. Nachdem Hilde für ihre Verweigerung bestraft wurde, ging ihr Arm nur halb in die Höhe, und sie murmelte etwas Unverständliches, das nur mit viel Fantasie als »Heil Hitler« zu deuten war, sie aber nicht mehr den Strafen der Lehrer auslieferte. Hildes Leistungen waren so gut, dass die Lehrer sie sowieso nicht dauerhaft unter Druck setzen konnten, sie dachte ebenso schnell, wie sie rannte.
Nach der mittleren Reife verließ sie die Schule, obwohl sie problemlos das Abitur geschafft hätte. Das hatte mit dem Wunsch der Eltern zu tun: Sie wollten, dass die widerspenstige Tochter eine »ordentliche Lehre« machte. Also lernte Hilde in einem Büro und wurde Kaufmannsgehilfin. »Giftfabrik« nennt sie den Betrieb, einen Großhandel für pharmazeutische Produkte, noch heute. An ihrem künftigen Beruf als Kaufmannsgehilfin gab es nichts, was ihr auch nur annähernd Spaß bereitete. Ständig musste sie sitzen und Stenografie lernen, die Telefonzentrale mit lauter Kabeln und Knöpfen bedienen, Korrespondenzen des Chefs niederschreiben.
Die Büroarbeit habe ich schnell gehasst. Immer sitzen und tippen. Büro, Büro, Büro, aber ich wollte nach draußen. Mein Chef war auch noch so ein ordentlicher Apotheker, ein, wie wir das damals nannten, »feiner Pinkel«. Wenn auf unseren Schreibtischen nicht alles im rechten Winkel lag oder man sich im Stenografieren mal überlegen musste, welches Kürzel das ist, dann wurde er jährzornig und richtig fies und schnauzte laut herum. Ich hatte Probleme damit, mich dieser preußischen Art unterzuordnen, insofern war ich als Feuerwehrfrau viel glücklicher, auch wenn das auf eine andere Art anstrengend war. Wir löschten nachts und mussten alle am anderen Morgen wieder an unseren Arbeitsplätzen sein. Nachts hatten wir oft grauenvolle Bilder von den Verletzten gesehen, die Opfer der schrecklichen Brandbomben geworden waren. Aber ich war einfach froh, etwas tun zu können, helfen zu können, anstatt im Luftschutzkeller zu versauern. Und diese Löscharbeiten waren eine ganz große Herausforderung, wir mussten manchmal unglaublich improvisieren. Im Winter waren die Leitungen eingefroren, da scheiterten wir und mussten zusehen, wie ein Haus nach dem anderen abbrannte. Das war fürchterlich, denn man entwickelt schnell eine Feuerwehrfrauenehre und möchte retten und löschen, aber dann geht es nicht, weil es zu kalt ist.
Hildes Ausbildungsbetrieb war nicht irgendein Geschäft, sondern der größte pharmazeutische Handel im Norddeutschland jener Zeit. Die Lazarette platzten aus allen Nähten, das Geschäft florierte, denn nie war der Bedarf an Verbandstoffen und Medikamenten größer. Er spülte dem Geschäft jede Menge Geld in die Kasse, aber die männlichen Mitarbeiter wurden nach und nach in den Krieg eingezogen, und auch die Frauen, die noch im Großhandel arbeiteten, verschwanden manchmal von einem Tag auf den anderen. Mittlerweile wurde die Stadt immer öfter bombardiert. So tauchten manche Mitarbeiterinnen einfach nicht mehr in der Firma auf, weil sie vor dem Bombenhagel davonliefen, oder sie waren in den Wirren der Angriffe gar über Nacht zu Tode gekommen.
Hilde musste nun auch Tätigkeiten übernehmen, für die sie sich nicht geeignet fühlte. Als eine Kollegin nicht mehr erschien, forderte der Chef sie auf, das Diktaphon zu bedienen. Das war ein altes, sehr schwerfälliges Diktiergerät mit großen Pedalen. Die galt es simultan zu bedienen, während sie den vom Chef diktierten Text in die mechanische Schreibmaschine tippte.
Meine Vorgängerin hatte das dreißig Jahre lang gemacht, bevor sie einfach fortblieb, und nun saß ich an diesem Monstrum mit den dicken Pedalen. Oft wusste ich abends nicht mehr, ob ich Männlein oder Weiblein war, ich hatte bis dahin noch nie so schlimm gelitten, selbst die Feuerwehreinsätze fielen mir sehr viel leichter. Da kam mir schon einmal der Gedanke: Du musst raus hier, weg aufs Land. Das hatte auch damit zu tun, dass ich als Kind viel auf dem Land war. Meine Großeltern besaßen ein Gut in Bremen, da fuhr ich schon als Sechsjährige allein hin, es war ganz einfach. Meine Eltern setzten mich in Lübeck in den Zug, und der Gutsverwalter stand mit der...