Kapitel 1:
Einleitung und Überblick
Ist es für die Regierungen entwickelter Länder an der Zeit, das Bargeld allmählich auslaufen zu lassen, vielleicht mit Ausnahme von kleinen Scheinen, Münzen oder beidem? Mit dieser relativ einfachen Frage ist eine Vielzahl von wirtschaftlichen, finanziellen, philosophischen und sogar ethischen Themen verknüpft. In diesem Buch stelle ich die Behauptung auf, dass die Antwort unterm Strich »ja« lautet. Erstens würde es Steuerbetrug und Verbrechen wahrscheinlich deutlich unattraktiver machen, wenn große, anonyme Zahlungen künftig erschwert würden. Selbst eine relativ bescheidene Wirkung dieser Art könnte es potenziell rechtfertigen, einen Großteil des Bargelds abzuschaffen. Zweitens, und das sage ich schon eine ganze Weile, ist die allmähliche Abschaffung des Bargelds unbestreitbar die einfachste und eleganteste Lösung, um den Zentralbanken eine uneingeschränkte Negativzinspolitik zu ermöglichen, also die »Nulllinie« des Nominalzinses nach unten zu durchbrechen. Die Kurse der Schatzanweisungen können aktuell nicht weit unter null fallen, gerade weil die Menschen immer die Option haben, Bargeldvermögen zu halten, das wenigstens null Prozent Zinsen einbringt.1
Obgleich die allmähliche Bargeldabschaffung und die Einführung negativer Zinssätze Themen sind, die prinzipiell voneinander getrennt betrachtet werden können, sind die beiden Probleme in der Realität eng miteinander verknüpft. Genau genommen ist es unmöglich, über eine drastische Abschaffung des Bargelds nachzudenken, ohne dabei in Betracht zu ziehen, dass dies einem uneingeschränkten Negativzinssatz Tür und Tor öffnet und dass die Zentralbanken eines Tages versucht sein könnten, diese Schwelle zu überschreiten. Schließlich haben selbst heute schon, da die Tür zum Negativzins nur schief in den Angeln hängt, etliche große Zentralbanken (darunter die Bank of Japan und die Europäische Zentralbank) ihren Fuß auf der Schwelle. Insofern ist es wichtig, über die Abschaffung von Bargeld und die Entwicklung einer Negativzins-Strategie im Hinblick auf eine mögliche Umsetzung nachzudenken.
Als ich vor fast zwanzig Jahren erstmals vorschlug, große Banknoten abzuschaffen,2 hatte die Idee eines massiven Abbaus des weltweiten Berges von Papiergeld noch viel von einer Fantasy-Erzählung. Es war ein obskurer akademischer Aufsatz über ein obskures Thema in einer relativ obskuren Zeitschrift. Aber irgendetwas an der verrückten, abwegigen Idee, 100-Dollar-Noten abzuschaffen, fiel der New-York-Times-Journalistin Sylvia Nasar3 (der Autorin von A Beautiful Mind) ins Auge. Ihr Artikel wiederum erregte die Aufmerksamkeit des damaligen amerikanischen Finanzministers Robert Rubin, der das Thema mit seinen Mitarbeitern besprach. Zu meinem Kummer wurde mir aber später gesagt, dass Rubin sich nicht in erster Linie auf meine Argumentation für die Abschaffung aller großen Banknoten konzentrierte (also 50 Dollar und mehr). Vielmehr lag sein Fokus auf meinem Hinweis, dass die geplanten neuen 500-Euro-Noten (rund 570 Dollar) die Vorherrschaft der amerikanischen 100-Dollar-Note in der weltweiten Schattenwirtschaft infrage stellen könnten. So viel zu meinem politischen Einfluss.
Ich glaube immer noch, dass mein Schwerpunkt richtig war.4 Die »Gewinne«, die Regierungen erzielen, indem sie blindlings die Nachfrage nach Bargeld bedienen, werden verschlungen von den Kosten illegaler Aktivitäten, die das Bargeld, und hier speziell die großen Scheine, erleichtert. Allein schon, die Papiergeldmenge zu reduzieren und damit die Steuerhinterziehung zu erschweren, würde vermutlich schon die entgangenen Gewinne wettmachen, die die Zentralbanken mit dem Druck von Banknoten machen. Das wäre selbst dann der Fall, wenn sich dadurch die Steuerhinterziehung nur um 10 bis 15 Prozent verringerte. Die Auswirkung auf illegale Geschäfte ist vermutlich noch größer.
Es steht außer Frage, dass Bargeld eine wesentliche Rolle bei einer großen Bandbreite krimineller Aktivitäten spielt, darunter Drogenhandel, organisierte Kriminalität, Erpressung, Behördenkorruption, Menschenhandel und natürlich Geldwäsche. Die Tatsache, dass große Scheine weitaus häufiger für illegale als für legale Transaktionen verwendet werden, hat schon seit langer Zeit Einzug in Fernsehen, Film und Populärkultur gehalten.5 Politiker dagegen haben sehr viel länger gebraucht, um das als Realität anzuerkennen.
Bargeld spielt auch eine zentrale Rolle beim Problem der illegalen Einwanderung, das Länder wie die Vereinigten Staaten beutelt. Es ist unglaublich, dass einige Politiker allen Ernstes über die Errichtung immens hoher Grenzzäune sprechen, aber offenbar niemand begreift, dass es ein weitaus humanerer und wirkungsvollerer Ansatz wäre, den amerikanischen Arbeitgebern die Verwendung von Bargeld zu erschweren, mit dem sie illegale Arbeitskräfte schwarz und häufig unterhalb des Mindestlohns bezahlen. Beschäftigung ist der große Magnet, der den gesamten Einwanderungsprozess antreibt. Um es allgemein zu sagen: Bargeld schafft eine Möglichkeit für Arbeitgeber, die arbeitsrechtlichen Bestimmungen zu umgehen und Sozialabgaben zu vermeiden.
Natürlich muss jeder Plan zur drastischen Verringerung des Bargeldbestands auch stark subventionierte, einfache Bankkonten für Geringverdiener und vielleicht sogar einfache Smartphones umfassen. Etliche Länder, darunter Schweden und Dänemark, setzen dies bereits um, und viele andere Länder erwägen ähnliche Maßnahmen. Eine simple Idee, um den Prozess in Gang zu setzen, ist die Einführung von Schuldkonten, über die alle Behördenzahlungen vorgenommen werden können. Die finanzielle Eingliederung wäre eine gute politische Strategie, ob mit oder ohne Bargeldausstieg. Auf jeden Fall bietet der Plan, den ich in diesem Buch entwickle, kleine Anregungen, die lange Zeit (vielleicht unbegrenzt) kursieren und die meisten Belange in Bezug auf alltägliche Zahlungsvorgänge für die meisten Menschen einbeziehen. Die Beibehaltung kleiner Scheine (idealerweise letztlich in Münzen umgewandelt) berücksichtigt auch die drängendsten Bedenken in Bezug auf Sicherheit, Datenschutz und Notfälle.
Wer glaubt, dass aktuell Kreditkarten, Handy-Zahlungen und virtuelle Währungen das Bargeld bereits verdrängen, könnte sich kaum mehr irren. In den Industriestaaten ist die Nachfrage nach Papiergeld im Laufe von mehr als zwanzig Jahren kontinuierlich gewachsen. Ob Sie es glauben oder nicht, Ende 2015 war in den USA Bargeld im Wert von 1,34 Billionen Dollar außerhalb von Banken im Umlauf, das sind 4.200 Dollar für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in den Vereinigten Staaten. Die Größenordnungen sind in allen Industriestaaten weitgehend vergleichbar. Es ist kaum zu glauben, aber der Großteil dieses riesigen Bargeldbestands besteht aus großen Scheinen, also solchen Banknoten, die die meisten von uns nicht in ihren Portemonnaies haben, darunter die amerikanische 100-Dollar-Note, die 500-Euro-Note (derzeit rund 570 Dollar) und die schweizerische 1.000-Franken-Note (etwas mehr als 1.000 Dollar). Nahezu 80 Prozent des amerikanischen Bargeldbestands existiert in Form von 100-Dollar-Scheinen. Wie viele Leute haben 34 Stück davon in ihren Geldbörsen, Keksdosen oder im Auto, was den Anteil jedes Einzelnen ausmachen würde? Und das gilt für jeden Erwachsenen und jedes Kind; eine vierköpfige Familie müsste also 13.600 Dollar nur in 100-Dollar-Noten besitzen, kleinere Banknoten nicht mit eingerechnet. Staatskassen und Zentralbanken verdienen standardmäßig Milliarden am Druck großer Geldscheine. Aber niemand weiß, wo genau sich die meisten davon befinden und wofür sie genutzt werden. Nur ein geringer Anteil liegt in Kassen oder Bankschließfächern, und Verbraucherumfragen in den USA und Europa liefern keinerlei Erklärung für den Verbleib des Rests. Und es sind nicht nur die Vereinigten Staaten, die über einen gigantischen Bargeldbestand in überwiegend großen Scheinen verfügen. Das Problem ist in entwickelten Volkswirtschaften nahezu universell.
Selbst Zentralbanken beginnen, ihre umgekehrten Geldwäsche-Operationen mit gemischten Gefühlen zu betrachten. Ich verwende den Begriff »umgekehrte Geldwäsche«, um zu verdeutlichen, wie die Zentralbanken tatsächlich saubere Geldscheine an die Banken ausgeben, wo das Bargeld – insbesondere die großen Scheine – nach einer Reihe von Zwischentransaktionen häufig als schmutziges Geld in der Schattenwirtschaft landet. Bei der klassischen Geldwäsche werden natürlich die Einkünfte aus illegalen Geschäften durch scheinbar rechtmäßige Unternehmen geschleust, um sauberes Geld zu erzeugen.
Der entscheidende Anstoß für die Zentralbanken, die Rolle des Bargelds zu überdenken, scheint nicht so sehr ein moralisches Erwachen zu sein als vielmehr die Erkenntnis, dass Papiergeld zu einem wesentlichen Hindernis für das reibungslose Funktionieren des Weltfinanzsystems geworden ist. Wie kann etwas so Veraltetes wie Papiergeld überhaupt eine Rolle spielen in einer Weltwirtschaft, in welcher der Gesamtwert aller Finanzgüter den Gesamtwert des Bargelds bei weitem übersteigt? Die Begründung ist so ungeheuer banal, dass sie jeden schockieren wird, der noch nie darüber nachgedacht hat.
Man kann sich Papiergeld als eine Null-Prozent-Anleihe vorstellen. Oder, um genauer zu sein, als anonyme Null-Prozent-Anleihe: Kein Name und keine Geschichte ist damit verknüpft, und sie hat ihre Gültigkeit unabhängig davon, wer sie...