Einleitung
»Versuchen wir doch, uns ein wenig diesen ganzen Lärm aus dem Hirn zu spülen.«[1]
Zum hundertsten Jahrestag der Veröffentlichung von Freuds Traumdeutung im Jahr 2000 wurde wieder einmal der Tod der Psychoanalyse triumphal gefeiert; mit dem Fortschritt der Hirnforschung habe sie nun endlich dort ihre Ruhestätte gefunden, wo sie schon immer hingehört hat: in die Rumpelkammer obskurer vorwissenschaftlicher Erforschung verborgener Bedeutungen, neben religiösen Eiferern und Traumdeutern. Wie Todd Dufresne es ausdrückt,[2] lag keine Gestalt in der Geschichte des menschlichen Denkens falscher in bezug auf ihre Grundannahmen – mit der Ausnahme von Marx, wie einige wohl hinzufügen würden. Es war zu erwarten, daß dem berüchtigten Schwarzbuch des Kommunismus,[3] das alle kommunistischen Verbrechen auflistet, im Jahr 2005 das Schwarzbuch der Psychoanalyse folgte,[4] das alle theoretischen Irrtümer und klinischen Täuschungen der Psychoanalyse zusammenträgt. In dieser Ablehnung wenigstens ist jetzt die tiefe Solidarität von Marxismus und Psychoanalyse für jedermann offensichtlich.
An dieser Grabrede ist etwas dran. Als Freud vor einem Jahrhundert seine Entdeckung des Unbewußten in der Geschichte des modernen Europas verorten wollte, entwickelte er die Idee von drei aufeinanderfolgenden Demütigungen des Menschen, den »Narzißtischen Kränkungen«, wie er sie nannte. Zuerst bewies Kopernikus, daß die Erde sich um die Sonne dreht, und vertrieb damit uns Menschen aus dem Zentrum des Universums. Dann bewies Darwin unsere Entstehung durch blinde Evolution und nahm uns dadurch den Ehrenplatz unter den Lebewesen. Als Freud schließlich die vorherrschende Rolle des Unbewußten im psychischen Prozeß enthüllte, zeigte sich, daß unser Ich nicht einmal Herr im eigenen Hause ist. Heute, ein Jahrhundert später, zeichnet sich ein öderes Bild ab: Die neuesten wissenschaftlichen Durchbrüche scheinen dem narzißtischen Bild des Menschen eine Reihe weiterer Demütigungen zuzufügen: unser Geist ist eine reine Rechenmaschine, die Daten prozessiert; unser Gefühl von Freiheit und Autonomie ist die Illusion des Nutzers dieser Maschine. Weit davon entfernt, subversiv zu sein, scheint die Psychoanalyse im Licht der heutigen Hirnforschung selbst dem traditionellen humanistischen Feld zuzugehören, das durch die jüngsten Demütigungen bedroht wird.
Ist die Psychoanalyse heute also wirklich ein Auslaufmodell? Auf drei miteinander verbundenen Ebenen scheint sie es zu sein: 1. auf der Ebene der wissenschaftlichen Erkenntnis, wo das kognitivistisch-neurobiologische Modell des menschlichen Geistes allem Anschein nach das freudianische Modell verdrängt; 2. auf der Ebene der Psychiatrie, wo die psychoanalytische Behandlung rapide an Boden gegenüber Pillen und Verhaltenstherapie verliert; und 3. im sozialen Kontext, wo das Freudsche Bild der Gesellschaft und der sozialen Normen, die die Sexualtriebe des Individuums unterdrücken, nicht mehr länger eine gültige Beschreibung der heutzutage vorherrschenden hedonistischen Freizügigkeit zu sein scheint.
Dennoch könnte sich im Fall der Psychoanalyse der Gedenkgottesdienst als etwas voreilig erweisen, für einen Patienten begangen, der noch ein langes Leben vor sich hat. Im Gegensatz zu den »evidenten« Wahrheiten der Freudkritiker ist es mein Ziel, zu zeigen, daß die Zeit der Psychoanalyse gerade erst gekommen ist. Denn durch die Augen Lacans, durch das, was er seine »Rückkehr zu Freud« genannt hat, erscheinen die wesentlichen Einsichten Freuds endlich in ihrer wahren Dimension. Lacan hat diese Rückkehr nicht als Rückkehr zu dem verstanden, was Freud gesagt hat, sondern als Rückkehr zum Kern der Freudschen Revolution, deren sich Freud selbst nicht voll bewußt war.
Lacan begann seine »Rückkehr zu Freud« mit der linguistischen Deutung des gesamten psychoanalytischen Gebäudes, was in seiner wohl bekanntesten Formel zusammengefaßt ist: »Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache.« Nach der vorherrschenden Auffassung ist das Unbewußte der Bereich der irrationalen Triebe, etwas, das dem rationalen bewußten Selbst entgegengesetzt ist. Für Lacan gehört dieser Begriff des Unbewußten zur romantischen Lebensphilosophie und hat nichts mit Freud zu tun. Das Freudsche Unbewußte hat nicht durch die Behauptung, das rationale Selbst sei dem viel größeren Bereich der irrationalen blinden Instinkte untergeordnet, einen solchen Skandal verursacht, sondern weil es deutlich gemacht hat, wie das Unbewußte selbst seiner eigenen Grammatik und Logik folgt: Das Unbewußte spricht und denkt. Das Unbewußte ist nicht das Reservat wilder Triebe, die vom Ich gezähmt werden müssen, sondern der Ort, an dem sich eine traumatische Wahrheit äußert. Darin besteht Lacans Version von Freuds Motto »Wo Es war, soll Ich werden«: nicht »das Ich soll das Es besiegen«, den Ort der unbewußten Triebe einnehmen, sondern »Ich muß es wagen, mich dem Ort meiner Wahrheit zu nähern«. Was mich »dort« erwartet, ist keine tiefe Wahrheit, mit der ich mich identifizieren muß, sondern eine unerträgliche Wahrheit, mit der zu leben ich lernen muß.
Wie unterscheiden sich nun Lacans Ideen von der Hauptströmung der psychoanalytischen Schulen und von Freud selbst? Im Hinblick auf andere Schulen springt zunächst die philosophische Grundhaltung der Lacanschen Theorie ins Auge. Für Lacan ist die Psychoanalyse auf ihrer grundlegendsten Ebene keine Theorie und Technik der Behandlung psychischer Störungen, sondern eine Theorie und Praxis, die die Individuen mit der radikalsten Dimension der menschlichen Existenz konfrontiert. Sie zeigt einem Individuum nicht den Weg, sich den Anforderungen der sozialen Realität anzupassen, sondern erklärt im Gegenteil, wie sich so etwas wie »Realität« zuallererst konstituiert. Sie befähigt einen Menschen nicht nur, die unterdrückte Wahrheit über sich zu akzeptieren, sie erklärt auch, wie sich die Dimension der Wahrheit in der menschlichen Realität zeigt. Aus Lacans Sicht haben pathologische Strukturen wie Neurosen, Psychosen oder Perversionen die Würde fundamentaler philosophischer Haltungen gegenüber der Realität. Wenn ich an einer Zwangsneurose leide, dann färbt diese »Krankheit« meine gesamte Beziehung zur Realität und bestimmt die allgemeine Struktur meiner Persönlichkeit. Lacans Hauptkritikpunkt an anderen psychoanalytischen Zugängen betrifft deren klinische Ausrichtung: Für Lacan besteht das Ziel der psychoanalytischen Behandlung nicht im Wohlbefinden, in einem erfolgreichen Sozialleben oder in persönlicher Erfüllung des Patienten, sondern darin, den Patienten dazu zu bringen, sich mit den elementaren Koordinaten und Blockaden seines Begehrens zu konfrontieren.
In bezug auf Freud fällt als erstes auf, daß der Schlüssel, den Lacan bei seiner »Rückkehr zu Freud« verwendet, von außerhalb des psychoanalytischen Feldes stammt: um den geheimen Schatz von Freud zu heben, nimmt Lacan eine bunte Mischung von Theorien in seinen Dienst, von der Linguistik Ferdinand de Saussures über Claude Lévi-Strauss’ strukturale Anthropologie zur mathematischen Mengenlehre und den Philosophien von Platon, Kant, Hegel und Heidegger. Daraus folgt, daß die meisten von Lacans Schlüsselbegriffen keine Entsprechung in Freuds eigener Theorie haben: Freud erwähnt niemals die Triade aus Imaginärem, Symbolischem und Realem, er redet nie vom »großen Anderen« als der symbolischen Ordnung, er spricht vom »Ich«, nicht vom »Subjekt«. Lacan benutzt diese Begriffe aus anderen Disziplinen als Werkzeuge, um Unterscheidungen zu treffen, die bei Freud schon implizit vorhanden sind, auch wenn er sich ihrer nicht bewußt gewesen ist. Wenn die Psychoanalyse zum Beispiel eine »Redekur« ist, wenn sie pathologische Störungen nur mit Worten behandelt, dann ist sie auf einen bestimmten Begriff von Rede angewiesen. Lacans These ist, daß Freud sich des Begriffs der Rede nicht bewußt war, der in seiner eigenen Theorie und Praxis impliziert ist, und daß wir diesen Begriff nur erschließen können, wenn wir uns auf die Saussuresche Linguistik, die Sprechakttheorie und die Hegelsche Dialektik der Anerkennung beziehen.
Lacans »Rückkehr zu Freud« stellte eine neue theoretische Begründung der Psychoanalyse bereit mit immensen Konsequenzen auch für die analytische Behandlung. Kontroversen, Krisen und sogar Skandale begleiteten Lacan in seiner gesamten Karriere. Er war 1953 nicht nur gezwungen, die Verbindung mit der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aufzulösen (siehe Zeittafel), sondern verstörte mit seinen provokanten Ideen viele fortschrittliche Denker von kritischen Marxisten bis zu Feministinnen. Auch wenn er von der westlichen akademischen Welt für gewöhnlich als eine Art Postmoderner oder Dekonstruktivist wahrgenommen wird, ragt er weit aus dem Feld heraus, das diese Etiketten bezeichnen. Sein ganzes Leben lang entwuchs er den Etiketten, die seinem Namen angeheftet wurden: Phänomenologe, Hegelianer, Heideggerianer, Strukturalist, Poststrukturalist; kein Wunder, da das hervorstechendste Merkmal seiner Lehre permanente Selbstbefragung ist.
Lacan war ein unersättlicher Leser und Interpret; Psychoanalyse selbst war für ihn eine Methode, Texte zu lesen, seien sie mündlich (die Rede der Patienten) oder schriftlich. Welch besseren Weg gibt es also, Lacan zu lesen, als seine Art des Lesens zu praktizieren, andere Texte mit Lacan zu lesen. Daher wird jedes Kapitel dieses Buchs eine Passage von Lacan mit einem anderen Fragment konfrontieren (aus Philosophie, Kunst, Popkultur und Ideologie). Lacans Position wird durch...